Man kann nicht alles vorher wissen,
man wird es wohl erfahren müssen.
Nur durch Erfahrung wird man klug,
oft ist auch das noch nicht genug.
Emma
Das Einzige, woran ich mich, wenn auch nur undeutlich, erinnern kann, ist das dramatische Geschehen, mit dem mein altes Leben endete und das neue mit Emma Schwert, meinem Frauchen, begann. Mein eigentliches Leben.
Ich weiß noch, dass ich mit einigen anderen Katzen auf einer Wiese am Rand eines Teichs gespielt hatte. Es roch nach Gras und Blumen und vom Teich her wehte der Geruch nach Entengrütze und Algen. Es war ein Tag, wie geschaffen für kleine Katzen.
Wie alt ich damals war? Keine Ahnung. Ein blinder Säugling war ich jedenfalls nicht mehr. Meine Augen müssen schon offen gewesen sein, denn mir fiel plötzlich ein rundes, gewölbtes, kissenartiges Grasbüschel am Teichrand auf, mit kurzen, kräftigen Stängeln und einem ganzen Wust aus gelben Sumpfdotterblumen.
Ich kann mich nicht erinnern, was mich in jenem Mo- ment überkam, es wird wohl die gelbe Farbe gewesen sein, die mich in den Nasenlöchern kitzelte und mir in den Augen glitzerte, jedenfalls wagte ich den ersten großen Sprung meines Lebens und landete mitten auf dem Butterblumenkissen.
Dass dies ein leichtsinniges und überaus gefährliches Unternehmen war, weil es sich um ein schwimmendes Graskissen handelte, merkte ich erst, als ich aufprallte und sich das Kissen dadurch vom Rand löste und auf die Seite kippte. Ich versank im Teich. Mein Erschrecken und die Panik, als mir das modrige, verschlammte Wasser in Mund und Nase drang und in den Ohren rauschte, waren so groß, dass ich dachte: Gleich ist mein Leben zu Ende, ohne dass es eigentlich richtig begonnen hat. Gleich bin ich tot.
Dabei wusste ich damals noch nicht, was das heißt: tot sein, auch nichts davon, dass Katzen üblicherweise sieben Leben geschenkt bekommen. Niemand hatte mir je davon erzählt. Doch dann dachte ich, dass es vielleicht Dinge gibt, die man schon im Mutterleib lernt, ohne dass man ahnt, was sie bedeuten. (Das habe ich mir, ehrlich gesagt, erst später überlegt, als ich Emma davon erzählte. Ihr hat diese Vorstellung vom Lernen im Mutterleib gut gefallen, »ein durchaus nachdenkenswerter Gedanke«, hat sie gesagt.)
Damals, im Teich, ergab ich mich in mein Schicksal und war bereit, viel zu früh zu sterben, als mich plötzlich ein großer Kater mit einer riesigen Pranke am Genick packte und unsanft zurück auf die Wiese warf.
Jemand befahl mir, im Gras zu warten, bis meine vom Uferschlamm verklebten Haare von der Sonne getrocknet waren und mir zwei oder drei Katzen das Fell wieder sauber geleckt hatten. Ich ließ alles mit mir geschehen. Manchmal forderten sie mich auf, mich vom Rücken auf den Bauch zu drehen oder von einer Seite auf die andere zu wechseln, dann wieder musste ich die Pfoten anheben, damit sie mich auch zwischen den Zehen reinigen konnten.
Es war ein klarer Tag im Spätfrühling, überall blühten Blumen, die Vögel im nahen Wäldchen zwitscherten, ab und zu bellte in der Ferne ein Hund, ein anderer antwortete, Bienen flogen summend von Blüte zu Blüte und da und dort flatterte ein Schmetterling. Und ich lag im Gras und hatte nur einen Gedanken: Wie schön ist es doch, am Leben zu sein und das alles zu hören und zu sehen und die Sonne und die rauen Katzenzungen auf meinem Fell zu spüren.
Natürlich habe ich die Geschichte ein wenig ausgeschmückt, als ich sie Emma erzählte. Ohne Details wirkt eine Geschichte nicht nur langweilig, sondern auch unglaubwürdig, wie Emma selbst gesagt hatte, und ich wollte doch so sehr, dass sie mir glaubte. Außerdem wusste ich da schon, wie sehr Emma Pflanzen und Tiere liebte, und ich wollte ihr eine Freude machen. Und außerdem wird es wohl so oder so ähnlich gewesen sein, denn was danach passierte, habe ich mir nicht ausgedacht, es hat sich wirklich genau so abgespielt.
Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich endlich die Augen aufschlug, war es dunkel und der große Kater mit den Riesenpranken war verschwunden, auch von den anderen Katzen war nichts mehr zu sehen. Vielleicht ist es ja schon dunkel gewesen, als sie weggegangen sind, dachte ich. Sie haben mich gerufen und ich habe es nicht gehört. Sie haben geglaubt, ich laufe ihnen hinterher, und stattdessen habe ich geschlafen.
Manchmal denke ich auch heute noch an sie und frage mich, ob sie wohl meine Mutter und meine Schwester gewesen sind und der Kater mein Vater. Vermutlich ja, wer sollten sie sonst gewesen sein? Aber dann schiebe ich den Gedanken schnell zur Seite. Ich werde es nie erfahren und unnötiges Grübeln hilft niemandem und bringt einen nur auf dumme Gedanken.
Obwohl es mir später nicht mehr so wichtig war, wo und wie ich früher gelebt hatte. Es war so lange her, es war fast, als hätte es das nie gegeben.