Trinkt eine Katze Alkohol,
fühlt sie sich tags darauf nicht wohl.
von mir
Dieser Vers, den Emma bestimmt als Lebensweisheit bezeichnet hätte, fiel mir ein, als ich am nächsten Morgen mit einem Matschkopf und dicker Kehle in Emmas großem Bett aufwachte. Zum ersten Mal allein. Sehr allein. Ich hatte, seit ich Emma kannte, das heißt, seit ich mich erinnerte, noch nie Einsamkeit erlebt. Am liebsten hätte ich die Augen wieder zugemacht und bis zu ihrer Rückkehr weitergeschlafen. Das konnte ich mir jedoch nicht erlauben, ich musste mir etwas überlegen, trotz Matschkopf, ich brauchte einen Plan, wie ich die nächste Zeit, die Zeit des Alleinseins, am besten zubringen könnte.
Als ich durch die Kellerluke ins Freie trat, schlug mir grelles Sonnenlicht in die Augen, und das wattige Gefühl in meinem Kopf verwandelte sich in ein heftiges Stechen, das vielleicht noch unangenehmer war. Aber immerhin konnte ich jetzt wieder klarer denken. Am Stand der Sonne sah ich, dass es bereits Mittag war, ich hatte den halben Tag verschlafen. Aus dem offenen Küchenfenster des Nachbarhauses drang Essensgeruch. Gulasch, dachte ich, die Reimanns essen heute Gulasch.
Ein Stück weiter standen Herr Holbein und die dicke Frau Sedlmeyer vor Frau Sedlmeyers Gartentor und unterhielten sich. Ich wollte vorbeigehen, da hörte ich Emmas Namen. »Ich war heute Morgen im Krankenhaus, um Frau Schwert zu besuchen«, sagte Herr Holbein gerade.
Ich zuckte zusammen und versteckte mich hinter der Mülltonne der Sedlmeyers.
»Sie hat eine Lungenentzündung«, fuhr Herr Holbein fort. »Es geht ihr so schlecht, dass man mich noch nicht mal zu ihr gelassen hat. Ich habe nur durch ein Fenster einen Blick auf sie werfen dürfen. Schrecklich, sie liegt mit geschlossenen Augen im Bett und hängt an fünf, sechs Schläuchen, die sie mit Nahrung und Medikamenten versorgen. Ich sage Ihnen, es hat wirklich unheimlich ausgesehen.«
Frau Sedlmeyer seufzte, kratzte sich am Kopf und setzte ein mitleidiges Gesicht auf. »Die Ärmste. Eine Lungenentzündung in ihrem Alter ist kein Pappenstiel.« Ihrer Stimme war deutlich eine gewisse Sensationslust anzuhören. Eine unangenehme Frau, Emma hatte sie einmal eine geschwätzige Landplage genannt.
»Ja«, sagte Herr Holbein und nickte zustimmend. »Es ist auch gar nicht sicher, ob sie die Krankheit überleben wird, hat der Arzt gesagt. Immerhin geht sie auf die achtzig zu, da lässt die Widerstandskraft doch schon gehörig nach. Und seit ihrem leichten Schlaganfall vor ein paar Jahren ist sie nicht mehr die Alte. Selbst wenn sie es schafft, wird es lange dauern, bis sie wieder gesund ist, hat der Arzt gesagt.« Er seufzte tief. Sein Mitleid war echt.
Ich fing an zu zittern, mein Herz klopfte wie wild bis hoch in meine Schläfen, sodass ich fürchtete, mir könnte der Schädel platzen. Was heißt das, es wird lange dauern?, schoss es mir durch den Kopf. Wie lange? Eine Woche? Einen Monat? Mir dauerte dieser eine Tag schon zu lang. Ich wollte unauffällig an den beiden vorbeigehen, aber Herr Holbein, dem nichts entging, weil er seine Augen immer überall hatte, bemerkte mich doch.
»Was wird eigentlich aus ihrer Katze?«, fragte er. »Ich kann sie nicht nehmen. Meine Frau ist so allergisch gegen Katzenhaare, dass ich meinen Hausmeisterkittel in der Garage ausziehen und mir erst Gesicht und Hände waschen muss, bevor ich ins Haus gehe, nur damit meine Frau keinen Asthmaanfall bekommt.«
»Ich nehme sie bestimmt nicht«, sagte Frau Sedlmeyer und verschränkte die Arme vor ihrem dicken Bauch. »Katzen haaren alle Sofas und Sessel voll, ich will keine Katze. Ich finde, sie machen nur Dreck und Arbeit.«
Diese Frau war nicht nur eine geschwätzige Landplage, sondern auch ignorant. Ich wollte nicht hören, was sie sonst noch für Schauergeschichten über Katzen loslassen würde. Was machen schon ein paar Katzenhaare auf Sofas oder Sesseln aus, da braucht man sich doch nicht aufzuregen, man nimmt einen feuchten Lappen und weg sind sie. Ich warf ihr einen empörten Blick zu, aber sie schaute gar nicht zu mir her. Sie fing von einer Frau an, die ich nicht kannte und die angeblich in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung fünf Katzen hielt. »Können Sie sich vorstellen, wie es bei der aussieht? Fünf Katzen! Wie es bei ihr stinken wird.« Sie verzog angewidert das Gesicht.
»Fünf Katzen in einer kleinen Wohnung, das ist wirklich zu viel«, sagte Herr Holbein.
Da musste ich ihm recht geben, ich hätte nicht eine von diesen fünf Katzen sein wollen.
Ich lief nach Hause und setzte mich auf unserer Veranda in den leeren Korbsessel. Diesmal hatte ich kein Auge für die Schmetterlinge, die bei dem schönen Wetter wieder in und um den Sommerflieder flatterten. Ich hatte nur Emma vor Augen, die in einem Krankenbett an Schläuchen hing, die sie mit Nahrung und Medikamenten versorgten. Keine Ahnung, wie, ich hatte so etwas noch nie gesehen, aber ich stellte es mir schlimm vor. Ich wollte so gern an etwas anderes denken, doch dieses Bild drängte sich mir immer wieder auf und ließ sich einfach nicht abschütteln.
Dabei gab es jetzt etwas Dringenderes, ich musste nachdenken, ich brauchte einen Plan.
Wie sollte ich überleben, wenn Emma wirklich längere Zeit nicht zurückkam? Daran, dass sie vielleicht überhaupt nicht mehr zurückkommen würde, wollte ich gar nicht denken, das verbot ich mir ganz einfach. Allerdings brachte das nicht viel, mein dummer Kopf wollte mir nicht gehorchen. Auch wenn ich nur an die nächsten Tage oder Wochen denken wollte, lauerte hinter den Überlegungen das Bild von Emma an Schläuchen, und darüber schwebte ein drohendes Vielleicht-nie-Wieder.
Wer wird für mich sorgen? Wer wird mir etwas zu essen und zu trinken geben, bis sie nach Hause kommt? Wer wird mich streicheln? Doch bei diesem Gedanken wies ich mich sofort zurecht: Streicheln ist Luxus, ich kann mich jetzt nicht um ein Luxusproblem kümmern. Ich habe existenzielle Probleme, für die ich eine Lösung finden muss, nämlich: Alleinsein und Ernährung.