Nachts sieht man manchmal mehr
als am helllichten Tag.
von mir
Emma hätte das bestimmt als Lebensweisheit bezeichnet, wenn sie zu Hause gewesen wäre. Und wenn ich ihr alles erzählt hätte. Aber das hätte ich vermutlich nicht getan, die Nächte gehörten mir. Die gingen sogar Emma nichts an.
Eines Abends fand wieder ein Treffen im Hof der alten Bäckerei statt. Auch diesmal erfuhr ich nicht, wessen Idee das war und wer das Ganze organisiert hatte. Vielleicht war es ja ein Gerücht, das durch die Luft flog und nur von Katzenohren aufgeschnappt und von Eingeweihten verstanden werden konnte. Zu denen, den Eingeweihten, gehörte ich damals noch nicht, das kam erst später. (Später würde ich, wie die anderen, die Einladung spüren wie ein warmer Lufthauch, der über mein Fell strich und Erwartungen in mir weckte.) Doch bei diesem meinem ersten Mal war es Flecki, die es mir zuraunte, als wäre es ein Geheimnis. Sie war es auch, die mich abends abholte.
Es war eine Fast-Vollmondnacht, über allem lag ein fahles Licht, die Welt sah aus, als wäre in der alten Bäckerei ein bislang unentdeckter, mürbe gewordener Sack aufgeplatzt und hätte alles mit einer dünnen Mehlschicht bestäubt, die Häuser, die Gärten, den Park, die ganze Welt. Oder wie mit Puderzucker bestreut, so wie der Napfkuchen, den Emma manchmal für sonntags backte und der nach Orangeade und Rosinen roch. Dieses mehlig-zuckrige Licht lag auch über der alten Bäckerei, über dem Hof und dem Unkraut und ließ alles fremd aussehen.
Als Flecki und ich ankamen, waren erst drei Katzen da, eine von ihnen war Fips, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Er begrüßte mich, als wären wir schon immer die besten Freunde gewesen. Es war mir etwas peinlich vor Flecki, die ihn mit ihren grünen Augen ein bisschen abschätzig musterte. Sie schien ihn nicht zu mögen, vermutlich hatte sich seine Dummheit herumgesprochen.
»Hallo, Kitty«, sagte er. »Endlich trifft man dich mal wieder. Herr Holbein hat dich überall gesucht, ich weiß auch nicht, warum. Aber inzwischen hat er es aufgegeben. Wo treibst du dich bloß rum?«
»Da und dort und irgendwo«, sagte ich.
Und Betty, die alte, grau-weiße Katze aus dem Holzhaus hinter der Schule, sagte: »Keine Katze lässt sich finden, wenn sie nicht gefunden werden will.«
Ich wollte das Thema wechseln, deshalb erkundigte ich mich bei Fips, ob er inzwischen wieder einmal im Tierheim gelandet war.
»Zweimal«, antwortete er stolz.
Flecki warf ihm einen verächtlichen Blick zu und schob mich weiter.
Schon eigenartig, dachte ich, auf was man sich etwas einbilden kann, egal ob es gut oder böse ist, gescheit oder dumm, nützlich oder belanglos, Hauptsache, es ist etwas, was einen von anderen unterscheidet. Tatsächlich waren die gelegentlichen Tierheimaufenthalte das Einzige, was man sich von Fips merken konnte, ansonsten war er einer von denen, an die man schon nicht mehr denkt, noch bevor man ihnen den Rücken zudreht.
Ich hatte ihn schon fast vergessen, deshalb war es seltsam, ihn zu treffen. Wie schnell das geht, dachte ich, wie schnell man sich an einen neuen Alltag gewöhnt. Mein Alltag mit Emma schien ebenfalls mit einer Schicht bedeckt zu sein, einer stumpfen Staubschicht, und als ich sie jetzt mit einer Pfotenbewegung wegwischte, wie man eine beschlagene Fensterscheibe sauber wischt, packte mich eine heftige Sehnsucht nach Emma, nach den friedlichen Stunden auf der Terrasse, nach unseren Gesprächen, nach ihrer Wärme und ihrem Lavendelduft, den ich für einen Moment zu riechen meinte.
Doch mir blieb keine Zeit, mich meinen Erinnerungen hinzugeben. Flecki stellte mich einem alten, silbergrauen Kater mit einem halb abgerissenen linken Ohr vor, der Castro hieß und mich neugierig musterte.
»Das ist Kitty«, sagte Flecki, und ich fügte leise hinzu: »Kitty mit Ypsilon.«
Aber das schien ihn nicht zu interessieren, er hatte sich schon von mir abgewandt und verwickelte Flecki in ein Gespräch über eine Katze, eine gewisse Sonja, die von einem Auto angefahren worden war und Hilfe benötigte.
Irgendwo wurde gegrillt, ein plötzlicher Windstoß wehte den Duft herüber in den Hof der Bäckerei. Es roch verlockend nach gebratenem Fleisch. Der Geruch kam aus der Siedlung. Vielleicht sind es die Reimanns, die den Grill auf ihrer Terrasse angeworfen haben, dachte ich und erinnerte mich an die Grillabende, zu denen auch Emma und ich manchmal eingeladen worden waren. Ich hob die Nase, ich war gefangen von diesem Geruch und konnte an nichts anderes denken. Meine Schnurrhaare zitterten und meine Beine zuckten, sie wollten sich von allein bewegen, strebten hin zu diesem Fleischgeruch. Der Drang war so heftig, dass ich ihn nur mühsam unterdrücken konnte.
Zum Glück wurde ich abgelenkt, denn allmählich kamen auch die anderen Katzen, die Streuner, Stromer und Strawanzer.
Ich beobachtete sie genau, denn ich hatte sie bisher ja nur von oben wahrgenommen, von meinem Platz auf dem Schornsteinsims aus, abgesehen von der einen oder anderen Katze, die wir, Flecki und ich, unterwegs auf unseren Streifzügen getroffen hatten.
Von oben hatten sie, sah man von den verschiedenen Fellfarben ab, irgendwie gleich ausgesehen, gleich wild, gleich ungestüm, gleich verrückt. Doch hier unten, mitten unter ihnen, stellte ich fest, dass sie nicht nur ganz verschieden aussahen, sondern sich auch ganz verschieden verhielten. Einige begrüßten sich, indem sie sich sanft und freundlich aneinander rieben, andere hielten sich scheu und geduckt im Hintergrund, und wieder andere machten einen Buckel, hoben die Schwänze hoch in die Luft und reckten die Köpfe, als wären sie bereit, jeden anzugreifen, der es wagte, ihnen zu nahe zu kommen. Und das, was ich von oben für wildes Geschrei und aggressives Gefauche gehalten hatte, stellte sich als Schnurren und Knurren und mehr oder weniger freundliches Miauen heraus. Die Streuner waren übrigens leicht zu erkennen, sie waren dünner als die Hauskatzen, langbeiniger, muskulöser. Sie wirkten insgesamt wacher.
Inzwischen hatten die meisten Katzen angefangen zu tanzen. Nein, es war kein Tanzen, obwohl es manchmal so aussah. Sie zeigten sich gegenseitig, wie hoch und wie weit sie springen konnten, sie demonstrierten ihre Geschicklichkeit und miauten laut und immer lauter: Schaut alle her, was ich kann! Ich … ich … ich …!
Es ist also doch ein Wettkampf, dachte ich, aber ein freundschaftlicher. Es ging ganz offensichtlich nur darum, die anderen zu beeindrucken, und nicht darum, sie zu attackieren, wie ich oben auf dem Schornsteinsims gedacht hatte.
Mir wurde klar, dass man kein Urteil aus der Entfernung fällen darf. Und auf keinen Fall von oben nach unten. Da kann man sich nur allzu leicht irren und zu einem Vorurteil kommen. »Vorurteile sind nicht nur ungerecht, sondern auch vorschnell und hochmütig«, hat Emma gesagt. »Vor Vorurteilen muss man sich hüten.«
Warum hatte Bruno mich nicht darauf hingewiesen, wie es hier unten wirklich war, als ich von einer »Meute von Verrückten« gesprochen hatte?
Bei diesem Gedanken hob ich unwillkürlich den Kopf. Ja, er saß dort oben auf dem Sims, Bruno, mein Freund. Sein blaugraues Fell hob sich nur schwach gegen den etwas helleren, blaugrauen Himmel ab. Man hätte ihn übersehen können, wüsste man nicht, dass auf dem Sims neben dem Schornstein der Lieblingsplatz von zwei Katzen war und dass die eine, der Kater, fast die Farbe des Nachthimmels hatte. Ich winkte ihm, er solle herunterkommen, aber er schüttelte den Kopf. Das konnte ich auf diese Entfernung allerdings kaum sehen, eher nur erahnen.
Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich sofort hinauflaufen und mich neben ihn setzen. Ich wollte sein duftendes Fell riechen und seinen warmen Atem spüren, wenn er mich beschnüffelte. Ich wollte seine Stimme hören, diese sanfte, etwas heisere Stimme, bei deren Klang es mir wohlig über den Rücken lief. Ich wollte einfach nur mit ihm zusammen sein.
Aber andererseits wollte ich auch hier unten bleiben, mit Flecki, meiner Als-ob-älteren-Schwester, und den anderen Katzen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, etwas zu versäumen, würde ich jetzt den Hof verlassen. Ich wollte das Vergnügen genießen, das so neu war, so ungewohnt. Das Treffen war offenbar zu einem Fest geworden.
Doch bevor ich mich noch entschieden hatte, ob ich unten oder oben sein wollte, stupste mich Castro an, der alte, silbergraue Kater mit dem halb abgerissenen Ohr, und deutete mit der Pfote auf die Tanzenden, als Zeichen, dass ich mitmachen sollte. Ich stürzte mich in das Treiben, sprang, hüpfte, jaulte und miaute mit den anderen um die Wette, obwohl ich mich, verglichen mit ihnen, ungeschickt fühlte, fast tölpelhaft. Aber das war nicht so wichtig. Das ungewohnte Toben und Tosen fühlte sich gut an.
Ich dachte an das, was Emma einmal gesagt hatte: »Vieles, was besonders wichtig ist im Leben, wird zuerst in Gedanken erlebt. Es spielt sich sozusagen im Kopf ab. Der Kopf eilt voraus, und der Körper und die Gliedmaßen stolpern blindlings hinterher.«
Und ich dachte jetzt: Bei mir ist es jetzt umgekehrt. Mein Körper und meine Gliedmaßen stürzen sich nach vorn, mitten ins Leben, und zerren meinen Kopf hinter sich her. Manchmal ganz dicht, manchmal in einem so weiten Abstand, dass er mit dem Verstehen nicht nachkommt. Es ist, als wären Körper und Kopf nicht durch den Hals, sondern durch ein äußerst dehnbares Gummiband verbunden.
Ein grau getigerter Kater mit einem kurzen, auffallend buschigen, dunkleren Schwanz und einem herausfordernden Glitzern in den Augen rieb kurz seinen Kopf an meinem Nacken, bevor er begann, mir seine Kunststücke vorzuführen. Er sprang hin und her, wand sich, hob und senkte seine Glieder, er reckte und streckte sich und wirbelte bei seinen Luftsprüngen mit den Pfoten durch die Luft, als würde er trommeln.
Er war wirklich äußerst gelenkig und gab sich offenbar die größte Mühe, mich zu beeindrucken und für sich zu gewinnen. Was ihm aber nicht gelang. Seinen Bewegungen fehlte die Geschmeidigkeit, die fließende Eleganz, die uns Katzen eigentlich eigen ist. Bei ihm sah alles irgendwie hölzern aus, als hätte er die Bewegungen auswendig gelernt und führe sie mir jetzt Stück für Stück vor, einen Sprung nach dem anderen, eine Drehung nach der anderen, alles streng der Reihe nach, als würde er ein Gedicht deklamieren.
Ich wäre ihn gern losgeworden, aber er ließ sich nicht abschütteln. Sobald ich ihm den Rücken zukehrte, war er mit einem Satz wieder vor mir. »Ich heiße Rambo«, rief er mir etwas atemlos zu. »Wenn ich irgendwo auftauche, gibt es Rambozambo, verstehst du?« Einen Augenblick hielt er inne und lachte wie über einen Witz, den ich nicht kapierte.
Dann wurden seine Tänze, ebenso wie die der anderen, immer wilder und ungestümer. Auch der Lärm nahm zu. Ein paar Katzen miauten im Chor, und eine Streunerin, eine fast weiße Katze mit ein paar hellgrauen Flecken, tauchte plötzlich in einer leeren Fensteröffnung im ersten Stock der Bäckerei auf und miaute, den Blick zum Mond gerichtet, ein Solo, so schaurig schön, dass alle innehielten und lauschten. Ihr Fell hatte im gelben Mondlicht die Farbe von Vanillepudding.
Dieses Solo dämpfte die Lautstärke, dämpfte den Rhythmus. Auf einmal bewegten sich alle langsamer, aufmerksamer. Der erste Überschwang hatte nachgelassen. Bis jemand »Aufpassen!« rief. Die Katzen bildeten einen Kreis um eine schöne, dreifarbige Katze und riefen alle durcheinander: »Los, Mizzi, mach schon!«
Die dreifarbige Katze hob eine Pfote, das Publikum wurde still. Sie spannte den Körper, sprang hoch in die Luft und schlug einen Salto, bevor sie mit allen vier Pfoten wieder auf dem Boden landete und mit gespielter Bescheidenheit den Kopf senkte, als vielstimmige beifällige Rufe erklangen.
»Das ist Mizzi, unsere Akrobatin«, sagte Flecki, die plötzlich neben mir aufgetaucht war. »Sie ist die Einzige, die so hoch springen und einen Salto schlagen kann. Ihr Ruf hat sich in der ganzen Stadt verbreitet, vielleicht sogar im ganzen Land.«
»Ach was, sie ist eine Angeberin«, sagte mein ungeliebter Rambozambo-Verehrer. In seiner Stimme lag so etwas wie Neid, und als er weitersprach, hörte er sich richtig gehässig an: »Sie braucht sich wirklich nicht so aufzuspielen. Als ob ein Salto das Höchste wäre.« Er stieß einen verächtlichen Pfiff aus. »Ein einziger Salto! Wir hatten früher mal einen, der konnte einen doppelten Salto schlagen.«
»Echt, einen doppelten?«, fragte ich erstaunt. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Nun ja, auch einen einfachen hätte ich mir nicht vorstellen können, bevor ich ihn mit eigenen Augen gesehen hatte. »Und wo ist er jetzt, dieser Superartist?«
Flecki mischte sich in das Gespräch. »Das ist eine trau-rige Geschichte, Schätzchen«, sagte sie. »Er ist von einem Motorrad angefahren worden, seither ist sein eines Hinterbein krumm, er kann überhaupt nicht mehr springen. Das hat ihn offenbar sehr getroffen. Er geht uns aus dem Weg, redet nicht mehr mit uns und kommt auch zu keinem Treffen.«
Ich spürte förmlich, wie mir das Blut in den Kopf stieg, meine Ohren schienen zu wachsen und wurden ganz heiß. »Sein rechtes Hinterbein?«, fragte ich.
Rambo nickte. »Ja, das rechte«, sagte er. »Er heißt Bruno. Kennst du ihn etwa?«
Unwillkürlich hob ich den Kopf und schaute hinauf zum Schornstein. Dort oben saß er, unbeweglich. Ich konnte es zwar nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass er mich beobachtete. »Ein Kampf. Aber das geht dich nichts an«, hatte er gesagt, als ich ihn gefragt hatte, wie das mit seinem Bein passiert war. Warum hatte er so abweisend reagiert? Ich hatte doch nur eine einfache Frage gestellt. Schließlich hatte ich ihm immer alles erzählt, von Emma und wie ich zu ihr gekommen war, sogar von meiner Schwester, von Kassandra, und von meiner Als-ob-älteren-Schwester Flecki. Nichts hatte ich vor ihm verheimlicht, und nie hatte ich zu ihm gesagt: Das geht dich nichts an. Jetzt fühlte ich mich wieder genauso gekränkt wie damals im Park. Gekränkt und zurückgewiesen.
Ich war so verwirrt, dass ich mich Rambo zuwandte und anfing, es ihm nachzutun. Ich sprang herum, so gut ich es eben konnte, und warf nur ab und zu einen verstohlenen Blick hinauf zum Schornstein.
Er saß auf dem Sims, als wäre er kein lebendiger Kater, sondern die Statue eines Katers.
Später, viel später, der Mond war längst weitergewandert und hing irgendwo über der Stadt über einem Kirchturm, löste sich das Fest langsam auf. Eine Katze nach der anderen verschwand. Flecki war ebenfalls schon gegangen. Ein Blick nach oben zeigte mir, dass auch Bruno nicht mehr auf dem Sims saß.
Ich ließ Rambozambo, der mich zurückhalten wollte, einfach stehen und machte mich auf den Heimweg. Ich war müde und freute mich schon auf Emmas Bett.