Zorn und Groll
sind nicht toll.
von mir
Während ich nach dem Fest durch das schon etwas taufeuchte Gras schlich, dachte ich daran, wie Bruno und ich damals auf einer Bank im Park gelegen hatten, in der Sonne, und blinzelnd den Ameisen zuschauten, die versuchten, eine tote Raupe in ihren Bau zu schleppen, was ihnen aber nicht gelang. Brunos krummes Bein ragte ein bisschen in die Luft, wie immer, wenn er auf der linken Seite lag.
»Wie ist das eigentlich mit deinem Bein passiert?«, fragte ich. Und plötzlich veränderte sich die Stimmung, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Ich spürte es schon, bevor er antwortete.
Sein Körper straffte sich, er rollte sich zur Seite und zog sein krummes Bein unter den Bauch. »Ein Kampf«, sagte er abweisend. »Aber das geht dich nichts an.«
Ich schwieg. Ich fühlte mich gekränkt. Eher durch den Ton als durch die Worte.
Nach einer Weile sprach er weiter, als wäre nichts. Oder als wollte er die Spannung, die zwischen uns fühlbar war, wieder auflösen. »Wie dumm sie sind, die Ameisen«, sagte er, als hätte er mich nicht gerade behandelt wie eine Fremde. »Schau nur, sie quälen sich ganz sinnlos ab.« Und dann erzählte er mir eine lange Geschichte von einer Katze, die jahrelang immer wieder versucht hatte, auf einen bestimmten Ast zu springen, ohne dass es ihr gelungen wäre.
»Warum hat sie sich keinen anderen Baum mit einem tieferen Ast gesucht?«, fragte ich. »Es gibt doch so viele.«
Bruno schüttelte den Kopf. »Sie wollte unbedingt diesen einen Baum, diesen einen Ast, weil darauf ein Vogelnest war. Als sie mit dem Springen begonnen hatte, waren gerade junge Vögelchen geschlüpft, von denen sie sich eines holen wollte. Und als sie aufhörte zu springen, weil sie zu alt geworden war, lebte in dem Nest bereits die fünfte Generation von Vögeln. Diese frisch geschlüpften Vögel waren bei ihr zu einer fixen Idee geworden, sodass sie sogar noch im Herbst und im Winter sprang, wenn die Vögel längst groß geworden und in den Süden geflogen waren zu ihren Winterquartieren. Sie hatte sich die Vögel in den Kopf gesetzt und war zu dumm oder zu stur, ihren Wunsch mit der Realität zu vergleichen und sich zu fügen.«
Dann sprach er lange und ausführlich über Realitäten, die man akzeptieren müsse, über den Unterschied von Standhaftigkeit und dummer Sturheit und ähnliche Dinge, über die kein Kater außer Bruno je sprach, ohne dass er meine Frage noch einmal erwähnte, geschweige denn, dass er sie ausführlich beantwortete. Er ignorierte sie einfach. Er ignorierte mich.
Jetzt, nachdem ich von dem Motorradunfall gehört hatte, wusste ich selbst nicht, warum ich so zornig auf Bruno war, er hatte mich schließlich nicht wirklich belogen. Er hatte mir nur etwas verschwiegen. Er hatte vor mir angegeben und das kränkte mich. Ein Kampf, hatte er gesagt, und ich hatte natürlich angenommen, er habe mit einem anderen Kater gekämpft. Da kam es schon mal zu Verletzungen. Und normalerweise trugen Kater ihre Blessuren mit Stolz.
Und er? Warum hatte er mir nicht einfach die Wahrheit gesagt, wir waren doch Freunde.
Wenn wir oben auf dem Sims saßen und hinunterschauten auf die Horde Nachtkatzen, empfand er nicht herablassende Verachtung, wie ich vermutet und für die ich ihn insgeheim bewundert hatte. Er war nicht Bruno, der Eigenbrötler, Bruno, der allen Überlegene. Es muss Neid gewesen sein, der ihn auf den Schornsteinsims getrieben hatte, Neid, weil er nicht mehr mithalten konnte. Er war Bruno, der Bedauernswerte, der wegen seiner Behinderung Mitleid verdiente. Er muss doch gewusst haben, was ich dachte, warum hat er mich in dem Irrglauben gelassen? Es ist vor allem dieses Warum, das mich bedrückte. Ich hatte ihm immer alles erzählt. Ich hatte keine Geheimnisse vor ihm. Und es kränkte mich, dass er Geheimnisse vor mir hatte. Aber ein bisschen tat er mir auch leid.
Als ich an den ersten Häusern der Siedlung ankam, trat er plötzlich unter einem Holunderstrauch hervor und ging neben mir her. Er humpelte stärker als sonst, aber vielleicht fiel es mir in dieser Nacht auch besonders auf, weil der Groll an mir nagte. Groll verändert die Wahrnehmung, das hatte ich schon gelernt. Groll verwischt das Schöne, Angenehme und lässt alles Hässliche, Unangenehme umso schärfer hervortreten. Groll macht einen ungerecht.
Irgendwo schrie ein Nachtvogel, ein Hund bellte einmal kurz auf. Im Osten färbte sich der Himmel schon heller, die ersten Vögel fingen an zu singen.
Plötzlich sagte Bruno: »Dieser Rambo ist nichts für dich, er ist ein aufgeblasener Hohlkopf.«
»Ich weiß«, sagte ich und spürte, wie meine Vorbehalte gegen Bruno wie Butter in der Sonne schmolzen. Er ist eifersüchtig, dachte ich, der große Bruno ist eifersüchtig auf den lächerlichen Rambo. Das zeigte doch, dass er etwas für mich empfand.
Wir schwiegen beide. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Warum hast du mir nichts von dem Unfall gesagt, als ich dich danach gefragt habe? Du hast mir eine absurde Geschichte von einer dummen Katze erzählt, die immer vergeblich versucht hat, auf einen bestimmten Ast zu springen. Weißt du das noch?«
Bruno nickte. »Ja.«
»Warum hast du es mir damals nicht erzählt?«
»Ich habe mich geniert«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Ich war selbst schuld an dem Unfall, ich habe nicht aufgepasst und bin wie ein x-beliebiger Dummkopf in das Motorrad gelaufen. Das nehme ich mir die ganze Zeit übel. Außerdem habe ich gedacht, wenn wir nicht über mein Bein sprechen, stört es dich vielleicht weniger, dass ich ein Krüppel bin.«
»Es hat mich nicht gestört«, sagte ich. Und nach einer kleinen Pause fügte ich hinzu: »Und es stört mich auch jetzt nicht. Das ist dein Webfehler.«
»Was?«, fragte er erstaunt.
Wir waren inzwischen am Haus angekommen und setzten uns auf die Terrasse. Nicht nebeneinander, jeder auf einen anderen Platz. Bruno auf meinen Stuhl, ich auf Emmas Korbsessel. Das Licht war weniger milchig geworden, die Sterne verblassten. Die Welt war nicht mehr mit Mehl bestäubt, sondern wie von einem dünnen, zartgrauen Zuckerguss überzogen. Die Sterne waren so blass geworden, dass nur noch ein paar zu erahnen waren, und der Mond war ganz verschwunden.
»Wie hast du das gemeint, das mit dem Webfehler?«, fragte Bruno.
»Das hat Emma einmal gesagt. Sie hat eine handgewebte Tischdecke aufgelegt und auf verdickte Stellen gedeutet und gesagt: ›Das sind Webfehler und nur deshalb ist die Decke so schön. Merk dir das, Kitty: Etwas Vollkommenes ohne jeden Fehler ist langweilig, mindestens einen Fehler muss es haben. Das ist nicht nur bei Stoffen so, sondern auch bei Menschen. Und sogar bei Katzen.‹« Ich stockte. Ich hätte es lieber nicht gesagt, vielleicht war es ihm ja gar nicht aufgefallen, dann sprach ich es aber doch aus. »Zum Beispiel sind meine Beine ein bisschen zu kurz, hat Emma gesagt, und meine Augen stehen zu weit auseinander, als dass sie der Schönheitsnorm für Katzen entsprechen. Und vielleicht würde ich ihr gerade deshalb so gut gefallen, hat sie gesagt.«
Wieder schwiegen wir.
»Es tut mir leid«, sagte Bruno.
Und ich sagte: »Mir auch.«
»Ich finde deine Beine nicht zu kurz«, sagte Bruno. »Sie passen zu dir. Und deine Augen sind besonders schön.«
»Und ich finde dein krummes Hinterbein sehr attraktiv«, sagte ich. »Es unterscheidet dich von anderen Katzen.«
Bruno kam zu mir auf den Korbsessel. Wir schmiegten uns aneinander und schwiegen beide. Aber es war nicht diese Art Schweigen, wenn man nicht mehr weiß, was man sagen soll. Sondern das Schweigen von Freunden, die keine Worte mehr brauchen.