Sturm und Wind und Dauerregen
bringt für Katzen keinen Segen.
Bruno
Bruno fuhr sich mit der Pfote über die Stirn und sagte: »Es gab seit jeher Katzen, die sich retten mussten oder andere brauchten, um gerettet zu werden, und wir, die wir heute leben, sind der Beweis dafür, dass es ihnen stets gelungen ist. Schließlich sind wir Katzen nicht ausgestorben. Habt ihr schon von Noah und dem großen Schiff gehört? Nein? Gut dann werde ich euch die Geschichte erzählen.«
Bruno räusperte sich und fing an:
»Einmal stand eine schlimme Überschwemmung bevor, der alle Menschen und Tiere zum Opfer fallen würden. Noah, ein vorsorglicher Menschenmann, hatte davon gehört, oder er hatte es auch nur geträumt, weil er eine prophetische Begabung besaß, jedenfalls machte er sich daran, ein großes Schiff zu bauen, auf dem er und seine Familie die angekündigte Überschwemmung überleben sollten.
Doch es gab ein Problem: Noahs Frau, von der ich den Namen vergessen habe, besaß zwei Katzen, eine Kätzin und einen Kater, die sie sehr liebte. So sehr, dass sie sich weigerte, das Schiff ohne ihre Katzen zu betreten.
›Wozu brauchen wir denn Katzen?‹, sagte ihr Mann. ›Wir müssen froh sein, wenn es uns gelingt, unser eigenes Leben und das unserer Kinder zu retten.‹
›Nein‹, sagte seine Frau entschieden. ›Mit meinen Katzen oder gar nicht. Du musst eines wissen, Noah: Ein Leben ohne Katzen ist möglich, aber sinnlos.5 Du hast also die Wahl, Noah: Entweder ich zusammen mit meinen Katzen oder wir bleiben alle drei hier.‹
›Na gut, von mir aus‹, sagte Noah, der seinerseits nicht ohne seine Frau leben wollte, und machte sich daran, einen Verschlag für die beiden Katzen zu bauen.
Das sahen zwei Hunde, ein Rüde und eine Hündin, und sagten: ›Noah, wenn du schon die Katzen rettest, solltest du uns ebenfalls retten. Wir sind brauchbare Wächter und Hüter deiner Herden.‹
›Na gut, von mir aus‹, sagte Noah nachgiebig und baute auch einen Verschlag für die beiden Hunde.
Doch kaum war er damit fertig, erschienen zwei Pferde, ein Hengst und eine Stute, und verlangten, ebenfalls gerettet zu werden. ›Du wirst uns hinterher brauchen, wir werden dir als Reittiere dienen und deine Kutsche ziehen‹, sagten sie und wieherten laut und fordernd.
Noah sah das ein und baute einen Verschlag für die Pferde.
Noch während er daran arbeitete, tauchten zwei Rinder auf, ein Stier und eine Kuh. ›Wie willst du hinterher ohne uns leben?‹, fragten sie. ›Woher willst du Milch für deine Kinder bekommen? Und Butter und Käse für dein Frühstück? Du musst uns mitnehmen.‹
Etwas Ähnliches brachten die Ziegen vor, und die Hühner sprachen von den Eiern, die sie für die Menschen legen konnten, ebenso die Gänse und die Enten.
Das wiederum veranlasste die vielen anderen Vogelarten dazu, auf Gerechtigkeit zu pochen. ›Warum die und wir nicht?‹
Und Noah, gutmütig, wie er war, ließ sich überreden und baute einen Verschlag nach dem anderen, ein Behältnis nach dem anderen.
Paarweise kamen nun die Tiere von Wald und Feld, Rehe, Hirsche, Wildschweine, Hasen, Igel, Marder, Iltisse, Mäuse und Ratten und was sonst noch so herumlief, und baten darum, ebenfalls gerettet zu werden.
Der arme Noah kam aus dem Bauen nicht heraus. Er baute Verschläge für die größeren Tiere und alle möglichen Kisten und Kästen für die kleineren. Natürlich mit Luftlöchern, denn er war ein fürsorglicher Mann.
Als dann aber auch die großen Raubtiere erschienen, Löwen, Tiger, Leoparden und so weiter, wehrte er sich. ›Euch kann ich nicht mitnehmen‹, sagte er. ›Ihr seid zu groß und zu wild.‹
›Dafür können wir nichts‹, sagten die Raubtiere. ›So sind wir geboren worden. Haben wir deshalb etwa kein Recht darauf, zu leben?‹
Noah gab nach. ›Aber nur, wenn ihr schwört, die anderen Tiere in Ruhe zu lassen. Auf meinem Schiff darf kein Tier ein anderes fressen.‹
Die Raubtiere versprachen es mit feierlich erhobenen Pfoten. ›Hungern und gerettet zu werden, ist allemal besser, als satt zu ertrinken‹, sagten sie.
So kam es, dass Noah einen Verschlag nach dem anderen baute, eine Kiste nach der anderen, ein Behältnis nach dem anderen und das Schiff immer größer wurde. Als dann auch noch zwei Elefanten erschienen, geriet Noah fast an seine Grenzen. Aber er schaffte es, er schob verschiedene Verschläge und Behältnisse enger zusammen und stellte einige aufeinander, bis es ihm gelang, auch Platz für diese riesigen Tiere zu schaffen.
Und als Noah dachte, er hätte nun alle Tiere aufgenommen, kamen die Insekten und verlangten, ebenfalls gerettet zu werden. ›Alle Geschöpfe haben ein Recht auf Leben‹, argu-mentierten sie, ›auch die kleinen und unscheinbaren.‹ Noah sah das ein, und weil er ein gutmütiger und mitleidiger Mensch war, baute er Holzkistchen mit Luftlöchern in den Deckeln für Ameisen und Würmer, für Maikäfer und Mücken, für Bienen, für Fliegen und Schmetterlinge, für Libellen und all das andere kriechende und fliegende Getier, das es sonst noch gab. Sogar Kartoffelkäfer nahm er auf, Schlangen, Moskitos und Flöhe, denn auch sie hatten ein Recht auf Leben. Nachdem er sich darauf eingelassen hatte, lehnte er natürlich auch Frösche und Kröten nicht ab.
Und dann war er endlich so weit, dass er für jede Tierart auf der Welt einen Verschlag oder ein Behältnis gebaut hatte und alle Verschläge und Behältnisse gefüllt waren. Die prophezeite Überschwemmung konnte kommen.
Und sie kam.
Die Fluten stiegen höher und höher, und das große Schiff mit seiner quirligen Ladung schwamm sicher auf dem Wasser. Die Luft war so erfüllt von Fiepen, Quietschen, Girren, Zirpen und Schnattern, von Bellen, Brüllen, Schreien, Blöken, Muhen, Wiehern und Meckern, von Knurren, Schnurren und Gurren, von Jaulen, Schnalzen, Bähen, Zischen, Pfeifen und Tirilieren, von Summen und Brummen, von Schnattern, Quaken und Tschilpen, es war ein solcher Lärm, dass Noah und seine Frau sich oft genug die Ohren zuhalten mussten, um nicht taub zu werden.
Nach vielen Tagen sanken die Fluten, Tag für Tag ein bisschen mehr, bis sich das Wasser schließlich verzogen hatte und das Schiff auf Grund lief. Noah, vorsichtig, wie er war, wartete zur Sicherheit noch ein paar Tage, dann öffnete er einen Verschlag nach dem anderen, ein Behältnis nach dem anderen, ein Kistchen nach dem anderen und ließ die Tiere wieder frei.
Seine Frau verließ das Schiff noch vor ihm, in jedem Arm eine ihrer geliebten Katzen.«
Bruno schaute uns an, hob eine Pfote und wischte einen allumfassenden Kreis durch die Luft. »Vergesst das nie: Es war das Verdienst von zwei Katzen, die das Herz einer Menschenfrau erobert hatten, dass von jeder Tierart auf der Welt ein Paar gerettet wurde. Merkt es euch: Nur uns ist es zu verdanken, dass die anderen Tiere nicht ausgestorben sind. Auch die Mäuse nicht.«
Bruno schwieg.
Eine Weile war es ganz still, alle hingen ihren Gedanken nach. »Was für eine erstaunliche Geschichte«, sagte Flecki endlich, und die kleine Lilli hob den Kopf, blickte Bruno bewundernd an und schnurrte leise.
Ich aber war sehr stolz auf ihn, auf meinen klugen, weisen Bruno und seine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen.
Abends im Bett erzählte ich Kassandra die Geschichte. Einerseits um mir eine Freude zu machen, andererseits um die Geschichte von Noah und dem großen Schiff nicht zu vergessen. Es gibt Geschichten, die man nie vergessen sollte.