Der Herbst ist bunt,
der Herbst ist schön.
Doch Schönheit, ahnt man,
wird vergehn.
Emma
An diesen Vers, den Emma vor einem Jahr gedichtet hatte, musste ich jetzt denken. Es war Herbst geworden, an den Apfelbäumen hingen Äpfel, die Blätter des Ahornbaums vor der Kirche wurden goldgelb, die Weinranken am Pfarrhaus bekamen rote Ränder, von den Kastanien fielen grüne, stachelige Früchte, platzten auf und gaben glänzende, braune Kugeln frei, an vielen Büschen leuchteten Beeren in Orange bis Rot, in den Gärten verblühten langsam die Astern und ließen ihre Köpfe hängen.
Seltsam, dass mir das überhaupt auffiel.
Früher hatte ich solche Veränderungen in der Natur kaum wahrgenommen, da war es Emma, die mich darauf aufmerksam machte, auf das helle Grün der Birkenblätter im Frühling, auf die Blumenwiesen im Mai, auf die ersten Rosen, den Rittersporn. Nun, da wir nicht mehr zusammen waren, Emma und ich, schien es, als müsste ich alles für sie sehen, quasi mit ihren Augen.
Früher hatte ich nur das wahrgenommen, was direkt vor meiner Nase war, die Blumenstängel im Garten, den Rasen, die verschiedenen Gräser und Halme auf der Wiese im Park, die Ritzen des Straßenpflasters, den Schotter und den Sand auf dem Weg zur alten Bäckerei, das Getreide auf den Äckern, wenn ich zwischen den Stängeln nach Mauselöchern suchte. Jetzt kam es mir vor, als hätte ich damals nie den Kopf gehoben und hätte nur das gesehen, was in Augenhöhe vor mir lag, und alles andere wäre mir entgangen.
Ich hätte gern mit Bruno darüber gesprochen, ihn gefragt, ob er das auch alles sah. Aber Bruno war verschwunden. Wieder einmal. Morgens, mittags und abends saß ich vor seinem Haus und rief ihn, aber er kam nicht. Vielleicht ist er ja krank geworden, dachte ich und wartete, dass er plötzlich aus einem Gebüsch treten und neben mir hergehen würde, wie er es gern tat. Der Gedanke an ihn ließ mich nicht los. Er fehlte mir, umso mehr, als ich das Gefühl hatte, dass auch Flecki mir aus dem Weg ging.
Ohne Anusch wäre ich ziemlich allein gewesen.
Ich ging oft mit ihr auf Mäusejagd. Manchmal trafen wir Flecki, die aber bald unter einem Vorwand verschwand, noch bevor ich ein normales Wort mit ihr reden konnte.
Abends lag ich auf meinen Säcken und dachte an Bruno. Ich überlegte, ob er vielleicht etwas gesagt hatte, das sein Verschwinden erklären könnte. Dass er zum Beispiel mit seinem Herrchen verreisen müsse. Vielleicht hatte ich ja einfach etwas Wichtiges überhört. Aber mir fiel nichts ein, natürlich nicht. Und Kassandra war auch keine Hilfe mit ihrem »Mach dir keine Sorgen, es wird alles wieder gut«.
Ein ums andere Mal dachte ich an den letzten Abend, den Bruno und ich gemeinsam verbracht hatten. Es war nach einer kühlen, verregneten Woche gewesen, zu kühl für die Jahreszeit, als das Wetter plötzlich umschlug. Der Regen hörte auf und es wurde warm und mild wie an einem schönen Juniabend. Es war, als wäre der Sommer noch einmal zurückgekehrt und würde uns zum Abschied einen sanften Abend schenken, mit einer Milde, die einem durch das Fell in den Körper zu dringen schien und einen ganz weich und sehnsüchtig machte.
Wir hatten uns zum Katzentreffen verabredet. Ich döste noch ein bisschen auf meinen Säcken, bis der Lärm draußen auf dem Hof immer lauter wurde, erst dann verließ ich meinen Schuppen.
Bruno saß vor der Backstubenwand auf einem Steinsockel, von dem niemand wusste, wozu er einmal bestimmt gewesen war, vielleicht für eine Bank oder einen Tisch. Jedenfalls war er breit genug, dass er zwei Katzen Platz bot. Ich landete mit einem Satz neben Bruno.
Heute war wohl wieder ein Fest, es war schon in vollem Gang.
»Willst du nicht tanzen?«, fragte Bruno, nachdem er mich liebevoll begrüßt hatte.
»Nein«, sagte ich, »ich habe heute keine Lust, ich möchte lieber bei dir bleiben.«
Er senkte den Kopf und rieb ihn an meinem Hals.
Nicht weit von uns, auf der obersten Stufe der Backstubentreppe, saß Betty, die alte, grau-weiße Katze aus dem Holzhaus hinter der Schule, und neben ihr eine kleine Flüchtlingskatze. Sie war wirklich besonders klein, aber auch besonders hübsch mit einem dichten, langhaarigen, hell getigerten Fell.
»Du musst dir unbedingt eine Familie anlachen, bevor es Winter wird«, hörten wir Betty zu der Kleinen sagen. »Du ahnst ja nicht, wie kalt unsere Winter sein können. Du bist noch zu jung, um es allein zu schaffen, du musst bei Menschen Unterschlupf finden. Weißt du, wie man so etwas macht? Weißt du, wie man Menschen umgarnt?«
Die Kleine schüttelte den Kopf.
»Du musst ihnen schmeicheln«, sagte Betty. »Du musst ihnen um den Bart gehen. Siehst du, so.«
Sie stand auf, ging die drei Stufen hinunter und schmiegte sich an den eisernen Geländerpfosten. »Das sollte ein Menschenbein sein«, sagte sie, drehte und wand sich, strich um den Pfosten, machte mal einen Buckel, mit hoch gerecktem Schwanz, dann wieder knickte sie mit den Vorderpfoten ein und ließ den Schwanz sinken. So strich sie um den Eisenpfosten. Die Kleine schaute ihr aufmerksam zu.
»Menschen mögen es, wenn Katzen ihnen schmeicheln«, sagte Betty. »Gut ist auch, wenn du ab und zu ein sehnsüchtiges Miau ausstößt und dabei den Kopf hebst und sie anschaust. Besonders wirksam ist es aber, wenn du den Mund aufmachst, als wolltest du miauen, und es dann doch nicht tust. Ein stummes Miau sozusagen. Darauf fallen die Menschen immer rein und bekommen automatisch Mitleid mit dir. Und wenn sie dich hochheben und du es dir gefallen lässt und weich und ergeben in ihren Armen liegst, hast du es beinahe geschafft. Du musst dann nur noch deinen Kopf an ihrer Brust reiben, die Augen schließen und schnurren, und schon hast du gewonnen. Hast du das verstanden?«
Die Kleine nickte.
»Also, wie stellst du dich an, wenn du einen Menschen rumkriegen willst, dass er dich zu sich nimmt und für dich sorgt?«
»Ich streiche ihm schmeichelnd um die Beine«, sagte die Kleine so leise, dass ich eigentlich nur erraten konnte, was sie gesagt hatte.
»Gut«, sagte Betty und setzte sich wieder auf die obere Schwelle. »Los, mach es mir vor!«
Während die Kleine unten um den Eisenpfosten strich, kam Anusch um die Ecke gebogen und setzte sich neben unseren Steinpfosten.
»Das ist Pajka, unsere Jüngste«, sagte sie. »Sie ist noch nicht mal ein Jahr alt. Ehrlich gesagt, ich habe nicht geglaubt, dass sie die Strapazen der Flucht überlebt. Aber sie ist zäh, das hat sie bewiesen. Jetzt braucht sie nur noch jemanden, der sie ein bisschen erzieht und ihr beibringt, was sie zum Überleben wissen muss. Und diesen Jemand scheint sie ja gefunden zu haben.«
Während wir dasaßen und Betty und Pajka zuschauten, änderte sich plötzlich die Stimmung des Festes, das ausgelassene »Schaut her, was ich kann, ich … ich … ich …« verstummte und nur noch ein böses, aggressives Fauchen war zu hören.
Es war Rambozambo, der über Mirko herfiel, ihn biss und kratzte und mit einem heftigen Stoß zu Boden warf. Doch obwohl Mirko sich auf den Rücken rollte, bereit, sich zu ergeben, ließ Rambo ihn nicht in Ruhe, er fauchte und schlug seine Zähne in das Fell des jungen Katers, sodass das Blut förmlich herausspritzte. Ein Kreis hatte sich um die Kämpfenden gebildet, murrende Stimmen waren zu hören, aber niemand griff ein.
Bruno machte einen Satz und drängte sich dazwischen. Er stieß Rambo unsanft zur Seite und fauchte ihn an. »Schluss jetzt, es reicht«, sagte er, »du bringst ihn ja um.«
Und als Rambo verunsichert »Aber …« sagte, wurde Bruno noch wütender. »Kämpfen ist gut und schön, wenn es nur darum geht, die Kräfte zu messen, aber umbringen – so etwas gibt es bei uns nicht, merk dir das! Du hast ihm gezeigt, dass du stärker bist, und jetzt ist es genug.«
»Aber er soll die Pfoten von Mizzi lassen«, maulte Rambo. »Er drängt sich einfach zwischen uns und dabei gehört er gar nicht hierher. Wir wollen ihn hier nicht haben.«
»Lern du erst mal, dich wie ein richtiger Kater zu benehmen«, sagte Bruno. Zustimmendes Murmeln war zu hören. »Bruno hat recht« und »Rambo fällt immer aus der Rolle« und »Er denkt, er kann machen, was er will«.
Bruno deutete auf Mizzi, die sich zu Mirko gesetzt hatte und seine Wunden sauber leckte. »Schau doch«, sagte er spöttisch. »Du willst ihn hier nicht haben, aber Mizzi ist offensichtlich anderer Meinung.«
Eine Katze nach der anderen wandte sich von Rambo ab. Sogar Brombeere, die früher gegen die Flüchtlinge gewesen war, schlug sich auf Mirkos und Mizzis Seite. Rambo-zambo konnte den Hohn und die offene Abwehr, die ihm entgegenschlugen, nicht ertragen, mit eingezogenem Schwanz zog er davon.
Ich war sehr stolz auf Bruno und schmiegte mich dichter an ihn, glücklich und dankbar, dass ich einen solchen Freund gefunden hatte.
In dieser Nacht blieb er bei mir.