Vergangenes versteht man oft erst im Nachhinein,
wenn man es nicht mehr ändern kann.
Emma
Der Spruch stammt ebenfalls von Emma. Er stimmt zwar nicht immer, aber vermutlich öfter, als man es sich wünscht, und hat natürlich etwas mit Bedauern zu tun, mit Reue. Ich weiß noch genau, wann Emma ihn gesagt hatte.
Wir saßen an einem schönen Sommerabend auf der Bank unter dem Apfelbaum und hörten dem Zirpen der Grillen zu, was Emma ganz besonders gern tat, und sie erzählte mir von einem Mann, den sie in ihrer Jugend geliebt hatte. »Er war die große Liebe meines Lebens«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen ab.
Es war in England. Emma war noch Studentin und verbrachte ein Auslandssemester in London. Dort lernte sie ihn kennen. Er hieß Jack und war ebenfalls Student. »Er war nicht schön«, sagte Emma, »eigentlich war er sogar hässlich, mit einem Pferdegesicht und hervorquellenden Augen und mit borstigen Haaren, die wie die Stacheln eines Igels um seinen Kopf standen. Doch er war gescheit und witzig und unendlich zärtlich. Wir hatten eine wunderschöne Zeit zusammen, auch wenn ich manchmal erschrak, wenn ich ihn anschaute. Aber ich war ja in England und keine meiner Freundinnen konnte eine blöde Bemerkung machen. Als mein Englandaufenthalt zu Ende ging, fragte er mich, ob ich nicht in London bleiben und ihn heiraten wolle.«
Emma fuhr sich wieder über die Augen, bis sie ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche zog und sich laut und ausführlich schnäuzte, bevor sie fortfuhr: »Ich habe Nein ge-
sagt, einfach Nein, und bin nach Hause zurückgefahren. Danach habe ich ihn nie wiedergesehen. Und weißt du, Kitty, schuld war nicht nur mein Studium, das ich unbedingt zu Ende bringen wollte, schuld war sein Pferdegesicht. Er war mir einfach nicht schön genug. Ich stellte mir vor, was meine Freundinnen sagen würden, wenn sie ihn sähen. Das gestand ich mir aber erst ein, als ich längst wieder zu Hause war. Ich habe ihm später einen Brief geschrieben, doch die einzige Antwort, die ich bekam, war eine Heiratsanzeige. Er hatte eine andere Frau gefunden, eine, die klüger war als ich. Das war das Ende meiner großen Liebe. Vergangenes versteht man oft erst im Nachhinein, wenn man es nicht mehr ändern kann.«
Sie schnäuzte sich wieder. »Ich hätte in London bleiben sollen«, sagte sie. »Nach ihm war mir keiner mehr recht. Erwin sah zwar gut aus, aber er war nicht witzig, eher steif und reserviert. Klaus war mir nicht zärtlich genug, und Thomas ging mir auf die Nerven mit seinem gackernden Lachen und außerdem war er nicht besonders gescheit. Verstehst du, Kitty, ich habe den Mann, den ich liebte, aus dem dümmsten Grund verlassen, den man sich vorstellen kann: wegen seines Aussehens. Und ich habe zu spät kapiert, dass es nichts Wichtigeres gibt als die Liebe. Merk dir das, Kitty: Es ist die Liebe, nur die Liebe.«
Auch das war eine der Lebensweisheiten, die Emma mir mitgegeben hatte. Arme Emma, dachte ich, ich hätte ihr die Liebe gegönnt. Doch wenn sie in London geblieben wäre, hätte ich sie nie kennengelernt.
Ich machte mich auf die Suche nach Flecki und traf sie hinter dem City-Bistro, wo sie mal wieder die Mülltonne umgeworfen hatte. Als sie mich entdeckte, schob sie mir wortlos ein halbes Steak zu. Es schmeckte großartig, ich konnte gar nicht verstehen, warum der Mensch, der es sich bestellt hatte, es nicht hatte aufessen wollen. Egal, mir konnte es recht sein. Als ich mir nach dem Mahl das Gesicht reinigte, sagte ich: »Flecki, Anusch hat drei Junge bekommen.«
Flecki schaute mich aufmerksam an, dann sagte sie: »Du auch, Schätzchen.«
»Was ich auch?«, fragte ich erstaunt.
»Du wirst auch Junge bekommen.«
Diese Worte trafen mich wie ein Schlag. »Woher weißt du das?«, stotterte ich.
Flecki hob eine Pfote. »Ich bin eine alte, erfahrene Katze und habe selbst oft Junge gehabt, ich sehe es dir an. Und ich rieche es auch.«
»Wann?«, fragte ich. »Wann, meinst du, werde ich Junge bekommen?«
»Nicht gleich, vielleicht in vier, fünf Wochen. Du solltest dir eine neue Familie suchen, Schätzchen. Streunerinnen bekommen ihre Jungen kaum groß, vor allem keinen Herbstwurf. Auch Anuschs Jungen werden es wohl nicht schaffen, zumindest nicht alle drei.«
Ich brachte kein Wort heraus. Ich zweifelte allerdings keinen Moment daran, dass Flecki recht hatte. Ich hatte mich in der letzten Zeit verändert, ich fühlte mich tief in mir anders an. Erfüllter. Lebendiger. Jedenfalls hatte ich mir nie so oft den Bauch geleckt wie jetzt.
Ich würde also Junge bekommen. Darüber musste ich erst einmal in aller Ruhe nachdenken. Aber nicht jetzt. Zum Nachdenken musste ich allein sein. Und davor wollte ich mir Anuschs Engerlinge noch einmal genauer anschauen.
»Bruno«, sagte ich zu Flecki, »ich habe Bruno schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Bestimmt ist er wieder krank, wie im Sommer.«
Flecki wischte sich Kuchenkrümel vom Gesicht. Sie schaute mich nicht an, als sie sagte: »Ich glaube nicht, dass er krank ist. Nicht mehr. Ich glaube, er kommt nie wieder.«
Was redet sie da für einen Blödsinn?, dachte ich. Natürlich kommt er wieder. Er gehört doch hierher, zu uns.
Ich starrte den Abfall an, der aus der Mülltonne gerutscht war. Auch Ameisen aus dem Garten hinter uns hatten ihn entdeckt und bildeten eine lange Karawane aus den Grasbüscheln am Zaun über die Pflastersteine bis hin zu einem Häufchen Reis mit Hackfleisch. Zwei Ameisen schleppten etwas Weißes, von dem ich nicht erkennen konnte, was es war, eine Art Wurm oder Made oder so etwas, jedenfalls war das Ding größer als ein Reiskorn, es war dreimal so groß wie die beiden Ameisen, die es schleppten. Woher wussten sie, dass sie es nur gemeinsam tragen konnten? In diesen winzigen Köpfen konnten sie doch kaum genug Gehirn haben, um derart komplizierte Verabredungen zu treffen. Ich grübelte über das Verhältnis von Kopfgrößen und der Entwicklung eines gut funktionierenden Gehirns nach und kam zu dem Schluss, dass man erst bei Katzen und Hunden eine gewisse Klugheit erwarten konnte.
»Schätzchen«, sagte Flecki, »hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Ich schaute Flecki nicht an. Im Müll hatte ich zwei Joghurtbecher entdeckt, die nicht ganz ausgekratzt waren. Ich ging hin und leckte die Reste heraus.
»Schau mich an!«, sagte Flecki.
»Das ist doch Blödsinn«, sagte ich und schaute an ihr vorbei. »Wo soll er denn sein, wenn er nicht wiederkommt?«
»Schätzchen«, sagte Flecki mit einer seltsam fremden, rauer gewordenen Stimme. »Schätzchen, du hast doch verstanden, was ich damit sagen wollte. Bruno ist tot.«
Manchmal will man nicht hören, was man hört. Und hört es doch. Auf einmal war mein Kopf ganz leer, als wären plötzlich alle normalen Gedanken weggesackt, irgendwohin, wo ich sie nicht mehr erreichen konnte. Ich starrte die Ameisen an, die immer noch weiterkrabbelten, als wäre nichts passiert. Und ich starrte Flecki an, die etwas so Ungeheuerliches einfach aussprach.
»Du lügst!«, schrie ich sie an. »Du bist eine alte, eifersüchtige Lügnerin! Woher willst du das denn wissen? Warst du etwa dabei, als er gestorben ist?«
Flecki wehrte sich nicht gegen meinen Angriff, ihre Stimme klang sanft und mitleidig. »Nein, ich war nicht dabei, Schätzchen«, sagte sie, »und ich wünschte, ich würde lügen. Aber Bruno hat mir selbst gesagt, dass er bald sterben würde. Deshalb gehe ich davon aus, dass es jetzt passiert ist.«
Mir war schlecht, ich wollte es nicht glauben, ich konnte es nicht glauben. »Das ist nicht wahr«, sagte ich mit einer Stimme, die sich anhörte, als hätte ich einen rostigen Nagel in der Kehle. »Das hätte er mir doch nicht verschwiegen. Sag, dass es nicht wahr ist!«
»Es ist wahr«, sagte Flecki. »Bruno ist tot, es kann gar nicht anders sein. Er war sehr krank. Du weißt doch, dass er im Sommer operiert worden ist. Da hat er gehört, wie der Arzt zu seinem Herrchen sagte: ›Tut mir leid, er wird es nicht schaffen. Er hat vielleicht noch ein paar Wochen zu leben, dann ist es vorbei. Zu meinem Bedauern kann ich Ihnen keine Hoffnung machen. Das Einzige, was mir bleibt, ist, Ihnen Tabletten mitzugeben, damit er keine Schmerzen leidet.‹ Das hat Bruno gehört. Er hat mir gesagt, dass er jetzt merkt, wie es ihm von Tag zu Tag schlechter geht. Und er hat mich gebeten, es dir erst zu sagen, wenn es vorbei wäre. Tut mir leid, Schätzchen, ich hätte es dir gleich sagen sollen, als er nicht mehr gekommen ist. Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht. Ich habe ja gewusst, wie traurig es dich machen würde.«
Die Ameisen krabbelten und krabbelten. Unermüdlich. Sie waren lebendig und Bruno war tot.
»Schätzchen, rede mit mir!«, sagte Flecki.
Ich brachte die Frage kaum heraus, der rostige Nagel steckte noch immer in meiner Kehle. »Warum hat er es mir verschwiegen? Hat er mich nicht ernst genommen?«
Flecki rutschte näher zu mir. Ich starrte zu Boden, folgte den Ameisen mit den Augen.
»Im Gegenteil«, sagte Flecki. »Er hat dich sehr ernst genommen, du warst enorm wichtig für ihn. Er wollte dich nicht traurig machen. Und außerdem hatte er Angst, du würdest dich vorzeitig von ihm lösen. Er wollte nicht, dass du jedes Mal, wenn du ihn siehst, denkst, er stirbt bald, und dass du viel zu früh in Gedanken Abschied von ihm nimmst. Er wollte die Zeit mit dir bis zuletzt genießen.«
Sie schmiegte sich an mich, rieb ihren Kopf an mir. »Ich bin auch traurig«, sagte sie.
Wir schwiegen lange.
Dann sagte ich: »Bruno hat über das Sterben gesagt, dass es gar nicht so schlimm ist. Man spürt nichts mehr. Nach dem Tod ist wie vor dem Tod, hat er gesagt. Der einzige Unterschied ist: Wenn man geboren wird, ist man hungrig, und wenn man stirbt, ist man hoffentlich satt.« Ich stockte. »Meinst du, Bruno war satt?«
»Ja, Schätzchen, ich bin sicher, dass er satt war. Er hat seine sieben Leben gelebt. Und er wurde geliebt.«
»Es gibt nichts Wichtigeres als die Liebe, das hat Emma gesagt.«
»Deine Emma war eine kluge Frau«, sagte Flecki.
»Ist«, sagte ich. »Emma ist eine kluge Frau. Sie ist noch nicht gestorben, sie lebt in ihrem Pflegeheim.«
An diesem Abend besuchte ich Anusch nicht mehr. Ich wollte mir die lebenden Engerlinge nicht anschauen, obwohl Bruno gesagt hatte, wir müssten sterben, um den nächsten Generationen Platz zu machen. Ich zweifelte nicht an der Wahrheit dieser Feststellung, aber ich wollte die nächste Generation nicht sehen, nicht heute.
»Kassandra«, sagte ich, als ich auf meinen Säcken lag. »Kassandra, hast du gehört, was passiert ist?«
»Mach dir keine Sorgen, Kitty, es wird alles wieder gut«, sagte sie mit Fleckis Stimme.
An diesem Abend war es überhaupt nicht tröstlich.