Das funktioniert einfach nicht da oben
Nun war ich allein und völlig ahnungslos, wie spät es war. War es überhaupt noch Tag? Schon während der Krankenwagenfahrt war es finster gewesen. Da wurde mir bewusst, dass ich die Zehen meines linken Fußes spürte. Ich konnte sie ein wenig bewegen, aneinanderreiben. Die Zehenkuppen gegen die Bettdecke streichen. Ich zog die Decke beiseite, der Fuß lag still da. Abermals bewegte ich die Zehen, und da ich meine Brille nicht aufhatte, konnte ich sie nur verschwommen sehen. Aber am Bettende, da winkten doch tatsächlich vom Gipfel des Fußes fünf Verschollene herüber. Ich ruckelte mich am Triangelgriff in die Höhe, ließ ihn los und umschloss meinen Fuß mit der rechten Hand, wobei die linke weiterhin leblos, wie angenäht, als Fremdkörper von der Schulter hing. Tatsächlich, der Anklang eines vertrauten Körpergefühls zwischen Zehen und Hand. Ich ließ mich zurücksinken und war plötzlich grenzenlos erschöpft. Was macht eigentlich müder als Angst? Doch sobald ich die Augen schloss, erhöhte das Summen im Kopf die Voltzahl. Nie zuvor hatte ich Elektrizität in meinen Nerven wahrgenommen. Den Ausspruch »unter Strom stehen« hatte ich immer genau als die Metapher für Anspannung verstanden, die er vermitteln sollte. Jetzt allerdings spürte ich den Strom. Er war da. Als verwirrte Hochspannung in der linken Körperhälfte, als Britzeln in den
Synapsen, als sirrende Ladung im gesamten Schädel. Sobald ich die Augenlider schloss, pegelte sich das Flirren zu einem grellen Kopfschmerz hoch, der auch die Augäpfel durchfuhr, und ich sah sternenförmige Lichtpunkte zucken. Ich drückte den Klingelknopf und bat darum, die Ärztin kommen zu lassen. Es dauerte nicht allzu lange und sie schob den Vorhang beiseite. Jeder, der zu mir hereinkam, hatte einen richtig guten Theaterauftritt. Ich musste grinsen. »Wie geht’s?«, fragte sie. »Wie viel Uhr ist es eigentlich?« »Gleich dreiviertel neun.« Diese österreichische Zeitrechnung hatte ich nie begriffen. Ich hatte es mir schon etliche Male erklären lassen und trotzdem nicht kapiert. »Gibt es schon eine Verbesserung?« »Vielleicht ja, die Zehen kann ich wieder ein wenig bewegen.« »Das ist doch gut.« »Aber mein Kopf, der platzt gleich.« »Gut, dann hängen wir noch was dazu. Was macht die Übelkeit?« »Besser.« »Ruhen Sie sich einfach aus. Können Sie die linke Hand heben?« Minimal bekam ich sie in die Höhe. Doch es fühlte sich nicht an, als würde ich die Hand heben, sondern eher, als würde ich sie aufheben. »Geht das?« Sie streckte den Arm weit aus und tippte sich dann mit einer schnellen Bewegung auf die Nasenspitze. Ich versuchte es, aber drei wilde Schlenker, die aussahen, als wäre ich ein irrer Diktator, der ausrastet und letzte Befehle erteilt, waren alles, was ich hinbekam. Das stimmte auch die Ärztin nachdenklich. »Warten wir mal ab. Morgen wird es schon viel besser sein. Gute Nacht.« Ich mochte ihr Gesicht. Empathie, Erschöpfung und Kompetenz standen in guter Balance zueinander. Ich sah ihr an, dass sie überarbeitet war. Sie hatte schon die Hand am Vorhangsaum. »Hatte ich wirklich einen Schlaganfall?« Sie schwieg einen Moment. Überlegte sie, ob sie mir die Wahrheit zumuten sollte? »Ja, das denke ich schon. So schnell wie möglich machen wir noch ein MRT
. Da sehen wir es dann genau. Aber bei den Symptomen, die
Sie haben, deutet alles auf einen Verschluss hin. Hatten Sie früher schon mal Schwindel oder Probleme mit dem Gleichgewicht?« »Nein, nie. Schlaganfall klingt furchtbar.« »Ich glaube, in zwei Wochen werden Sie nicht mehr viel davon merken. Gott sei Dank ist die Plastizität und Flexibilität des Gehirns außerordentlich, besonders in Ihrem jugendlichen Alter.« Na, das war ein Kompliment, das ich mir gefallen ließ. Der Schlaganfall schien mich demnach geradezu verjüngt zu haben. »Schrecklicherweise wusste ich sofort, was es war.« »Im Gegenteil: Gott sei Dank. Es kommt häufig vor, dass die Leute ins Bett gehen und denken: Jeder kippt halt mal um.« »Meine Mutter hat sich ihr Leben lang um Schlaganfallpatienten gekümmert. Wo genau ist denn die Stelle?« Sie kam vom Vorhang zurück zum Bett und legte mir drei Finger auf den linken Hinterkopf. »Im MRT
werden wir es sehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Kleinhirninsult.« »Schlaganfall mit Anfang fünfzig. Kommt das oft vor?« »Ja, durchaus. Es kann jedem passieren. Selbst Kinder können Schlaganfälle bekommen. Da muss nur irgendein Gerinnsel hineingespült werden und die Folgen sind gravierend.« Wir sprachen so gedämpft wie in einer sakralen Umgebung, ich hatte das Gefühl, wir würden Geheimnisse austauschen. »Morgen sehen wir weiter.« Sie ging, aber die Diagnose blieb. Schlaganfall
. Dieses Wort war jetzt zu mir gekommen und würde für immer bei mir bleiben. Ich hasste es jetzt schon. Ich würde mich durch das Nadelöhr dieses Begriffs hindurchquetschen müssen. Gegen die Diagnose hatte ich weniger einzuwenden als gegen das Wort. Tonlos formte ich es mit den Lippen: Schlaganfall. Mich hatte der Schlag getroffen. Der Begriff hatte mich mit einem Happs verschlungen, mich geschluckt, ohne zu kauen, und nun würde er mich verdauen, mich durch seinen stinkigen, meterlangen Darm pressen und als jemanden anderen wieder ausscheiden. Es war eigenartig, sobald mich ein Gedanke in seinen Bann zog und mich zur
Gänze okkupierte, sprang meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes über. Als würde man gegen einen Plattenspieler stoßen und die Nadel ins nächste Lied schubsen. Jetzt hüpften die Gedanken hinaus aus dem Wortgefängnis Schlaganfall,
hinein in eine Serie, die ich als Kind gesehen hatte. Roots
. Sie erzählte von Sklaven, deren Verschleppung aus Afrika, ihrer Überfahrt, gepfercht in den Bauch eines Schiffes, ihrem Verkauf auf dem Markt in den Südstaaten. Ein Dialog schoss mir unvermittelt in den Kopf. Ein Mann wurde ausgepeitscht und vom Sklavenhändler dazu aufgefordert, seinen neuen Namen zu sagen: »Wie heißt du?«, fragte er ihn. »Kunta Kinte.« Es setzte weitere Hiebe. »Wie heißt du?« »Kunta Kinte.« Wieder Schläge. »Wie heißt du?« »Kunta Kinte«, stöhnte der Mann, auf seinen Namen beharrend, der Ohnmacht nahe. Der Peiniger war schweißgebadet und schwang die Peitsche. Es war ebenfalls ein Schwarzer. Der Rücken des Mannes war von blutigen Striemen zerfetzt. »Wie heißt du?« »Tobi.« Nie mehr hatte ich diese blutige Taufe vergessen. Meine Brüder hatten mich damals geschnappt und mit mir die grausige Szene nachgespielt. Der eine setzte sich auf mich, fixierte meine Oberarme mit den Knien. Der andere umklammerte meine Beine. Ich mochte es, meine Brüder so nah zu haben. »Wie heißt du?« »Jocki.« Sie kitzelten mich unter den Achseln, die das für mich waren, was bei Achilles die Ferse oder bei Siegfried die Schulterstelle war. Wenn man mich unter den Achseln kitzelte, spielte ich verrückt. »Wie heißt du?« »Jocki!«, schrie ich. Mein ältester Bruder sabberte einen Spuckefaden in Richtung meines Gesichtes und zog ihn in letzter Sekunde wieder zurück. »Wie heißt du?« Mein mittlerer Bruder knetete mir mit seinen dünnen Fingern die Oberschenkel durch. Ich bekam kaum noch Luft, noch war es ein Spiel, gleich würde es kippen, ich kapitulierte und rief: »H2O!« »Sag deinem Master
deinen ganzen Namen!« Ich wand mich und brüllte: »Wasserkopf!« »Sag: Ich heiße Wasserkopf, Master!« Ich bäumte mich auf, warf mich herum und befreite mich.
Ich überlegte, ob ich lieber einen Herzinfarkt gehabt hätte. Irgendwie schon, befand ich, da das Herz doch einfach eine Pumpe ist und lange nicht so geheimnisvoll wie das Gehirn. Bekommt man halt drei Stents und weiter geht’s. Schon als Kind war ich von Herztransplantationen fasziniert gewesen. Überhaupt von dem Verpflanzen von Organen. Diese ganzen Frankenstein-Geschichten mochte ich. »Papa, kann man Hände wieder annähen?« »Ja, Josse, das geht, wenn man schnell genug im Krankenhaus ist. Neulich hat sich hier in der Nähe ein Bauer in seiner Häckselmaschine den Fuß abgetrennt. Dann hat er ihn in den Zuckerrüben gesucht und eingepackt. Ist mit ihm zusammen im Auto ins Krankenhaus nach Kiel gefahren. ›Moin, mein Fuß ist ab.‹ Und dann haben sie ihn wieder angenäht.« Ich glaubte meinem Vater kein Wort. »Wie konnte der denn mit nur einem Fuß Auto fahren?« »Na, der hatte Automatik.« »Da stirbt man doch an Blutverlust.« »Der hat das Bein mit einer Hundeleine abgebunden.« »Diese Maschine hätte doch den Fuß klein gehackt.« Mein Vater sah lachend an seiner Zeitung vorbei. »Das hat mich ehrlich gesagt auch gewundert.«
Die Schwester kam und hängte ein kleines Fläschchen vom Tropf ab und ein neues hinzu. Sie stülpte mir die Blutdruckmanschette über den Arm und drückte einen Knopf. Das Gerät brummte in einem mir augenblicklich vertrauten Ton, der mich schon bei den vorangegangenen Messungen hatte aufhorchen lassen. Es klang exakt wie der Beginn der Melodie von Pippi Langstrumpf,
die sich mein Sohn fast täglich auf DVD
ansah. Die Manschette füllte sich mit Luft und der Ton veränderte sich, wurde mit zunehmendem Druck höher. Mein Oberarm wurde gedrückt, nach einer kurzen
Pause musste das Gerät nachpumpen, um meinen Puls zu finden. »Alles in Ordnung?« »Einen Augenblick noch. Ja, alles gut. Traumhaft.« Einem Patienten nach dem anderen wurde die Manschette angelegt und jedes Mal stellte sich verlässlich die Sehnsucht nach meinem Sohn ein, sobald ich den Ton hörte. Ich erzählte ihm tagtäglich Geschichten. Das Personal dieser Abenteuer war immer dasselbe. Eine Maus, die er aus Seenot gerettet hatte, er selbst und Pippi Langstrumpf. Sobald ein Notruf in seiner Zentrale einging, rief er Pippi in Schweden an. Die rannte auf ihr Dach und feuerte sich mit einem Riesenkatapult direkt in sein Zimmer nach Wien. Mit Vorliebe ging es um Vampire, die einsame Dörfer tyrannisierten – gerne auch mit Karies, um pädagogische Wirkung zu entfalten –, die Suche nach dem Schatz der Nofretete – von einer Armee lebendiger Mumien bewacht – oder durchgeknallte Wissenschaftler, die die gesamte Menschheit zu Popcorn verarbeiten wollten. Ich verwurstete alles, was mir in den Sinn kam. Es waren krude Copy-and-paste-Storys, gespickt mit autobiografischen Begebenheiten, jedwede zeitlichen oder räumlichen Schranken waren aufgehoben und interaktiv war es obendrein, da mein Sohn durch Zwischenrufe die Geschichten lenkte. Ich vermisste seinen kleinen Körper.
Obwohl ich müde war, scheuchte mich, sobald mir die Augen zufielen, sobald die Dunkelheit in meinem Schädel eine geschlossene Kugel bildete, die Elektrizität in meinem Kopf auf. Das Knistern, sorgte ich mich, könnte durchaus ein Vorbote des nächsten Verschlusses sein. Innerhalb von Minuten steigerte ich mich in diese Befürchtung hinein. Die Angst, erneut von einem Schlag, diesmal im Schlaf, getroffen zu werden und als Ganzkörpergelähmter aufzuwachen, belagerte mich. Und so geriet ich denn in den Wahn, nur bei geöffneten Augen die Nacht zu überstehen. Nur im Wachzustand würde ich mein Hirn kontrollieren können. Im
Dämmerzustand würde es erneut durchschmoren und ich würde endgültig zerschossen werden. Wach bleiben war die Devise und Schönes denken, um so die Hemisphären zu versöhnen. Ich mäanderte durch die Gedanken, suchte nach Begebenheiten, nach lohnenswerten Geschichten, um auf ihnen sicher durch die kritische Phase zu surfen. Wann war ich zuletzt im Krankenhaus gewesen? Bei den Geburten meiner Kinder war ich dabei und vor etwas über einem Jahr bei einer Vorsorgeuntersuchung beim Urologen. Ich hatte mir direkt aus der Depression heraus, ein halbes Jahrhundert alt geworden zu sein, einen Termin geben lassen. Der Urologe bat mich in sein Untersuchungszimmer, sagte: »Ich bin gleich wieder da«, und verschwand bei nur angelehnter Tür in einem Bad. Ich hörte ihn pinkeln. Dieses Pinkeln war so laut und kraftvoll, dass es mir wie eine urologische Machtdemonstration vorkam. Der Pavian mit dem rötesten Arsch sitzt am weitesten oben auf dem Felsen. Der Pfau mit dem schönsten Rad bekommt das tollste Weibchen. Und ein Urologe verschafft sich dadurch Respekt, dass er wie ein Stier bei offener Tür in die Schüssel brunzt. Bestimmt eine Minute demonstrierte er mir, was es heißt, ein Prostatagigant zu sein. Er wusch sich die Hände, kam zurück ins Zimmer, grinste und fragte: »Was kann ich für Sie tun?« »Ich bin fünfzig geworden und würde gerne eine Vorsorgeuntersuchung machen.« »Na, dann mal los.« »Soll ich mich ausziehen?« Seine Antwort klang so, als hätten wir einen Sketch einstudiert: »Klar. Mit Hose keine Diagnose.« Ich lachte aus Verzweiflung und zog mich aus. Die Untersuchung fand ich dann eigentlich ganz angenehm. Ich war jetzt in einem Alter, befand ich, wo man für jede Erfahrung dankbar sein sollte. Da etwas zu spüren, wo man noch nie etwas gespürt hatte, fand ich durchaus erhellend. Er sagte: »Ihre Prostata ist schön weich und walnussgroß.« Netter Mann.
Ich lag in meinem Krankenbettchen und wurde durch ein Brummen aus meinen Gedanken gerissen. Neben mir sah ich durch den Vorhangstoff hindurch das erleuchtete Display eines Handys. Ich hörte die Stimme eines Mannes im Nachbarabteil: »Ja, ich, ich, na ich … ich … der Flug nach … shit … nach … na unser Flug nach … shit, shit … warum funktioniert das nicht … ja, ja, genau … den müssen wir … wie heißt das … quatsch, eben nicht umbuchen … den … shit, shit, shit, es funktioniert einfach nicht da oben … wie kann das sein … wohin? … genau, Amsterdam … den musst du … lass mich doch mal ausreden … der Flug nach … wohin? … der Flug nach Amsterdam … wann war der … morgen? Scheiße … den musst du vierundzwanzig Stunden vorher … den hättest du … shit … es funktioniert einfach nix mehr da oben … ich kann es nicht sagen … ich weiß es ja … shit … du … musst … den … Flug … nein … verdammt … noch mal … nicht … umbuchen … genau … stornieren … geht so … beschissen … klar, Maus … ich brauch … bring mir bitte … meinen … äh, wie heißt es … es geht nicht … es geht nicht … ES GEHT EINFACH NICHT
… shit … da oben … es funktioniert einfach … nicht … ich … mach … Schluss … klar … bis … morgen … Maus … was?« Ich hörte den Mann verzweifelt seufzen. Das Display schwebte hinter dem Vorhang, senkte sich und erlosch. Ich hörte ein Rascheln. Er stand auf und wie eine in Stein gemeißelte Statue schob sich die seltsam verkrampfte Silhouette vorbei. Was sollte das nur für eine Nacht werden? Ich horchte in mich hinein und wusste augenblicklich, das würde nun für immer oder zumindest für lange Monate dazugehören: Tag und Nacht wach auf dem inneren Hochsitz hocken und Ausschau nach Symptomen halten. Das Innen als ewiger Echoraum der Sorge. Wobei das Absurde war, dass Katastrophe und Berichterstattung im selben Organ untergebracht waren. Das
Hirn beobachtet das Hirn. Das war neu für mich. Der steinerne Gast kam zurück und saß bedrückend lange auf seiner Bettkante. Dann ließ er sich zurückfallen und verschwand im Umriss seines Kissens. Mein Nacken hatte sich tatsächlich etwas entspannt und ich konnte den Kopf wieder wenden, ohne den ganzen Oberkörper zu verschrauben. Vor Jahren hatte ich mich aus einer Laune heraus in einem Fitnessstudio angemeldet und gleich bei der ersten Einheit stundenlang trainiert, alle Gewichte so lange gedrückt und an Seilen in die Höhe gezogen, bis die Muskeln brannten. Immer und immer wieder. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich lag in einem Sarkophag aus Muskelkater. Mein Mitbewohner musste mir die Zähne putzen und noch Tage später lief ich so, als würde ich mich über Versehrte lustig machen.
Sollte ich doch versuchen zu schlafen? Ich schloss abermals die Augen, aber die Angst schoss heraus wie eine Muräne und schnappte mich. Ich vermisste Sophie und hätte mir gerne ihre Hand auf den Hinterkopf gelegt, um mir ein wenig die Neuronen streicheln zu lassen. Ich brauchte etwas, das sich zu denken lohnte. Das war doch schon immer mein Ding und mein Desaster gewesen, dass ich total nach innen kippen, mich in Binnengesprächen verlieren konnte. Ich hatte gelernt, dass ich die gefährlichen Gedanken nicht wegdrücken durfte. Klar wäre es besser gewesen, an Forellen und Himbeeren zu denken. Aber ich dachte an Hirntod und Pflegestufe 5. Das kannte ich zur Genüge. Ich war nicht in der Lage, mich vor der Sturmflut meiner Dämonen wegzuducken. Ich musste die lange Nase in den Wind halten und mir die Fratzen ins Gesicht wehen lassen. Erst dann würden sich die Wogen wieder glätten. Das Beruhigende lag hinter dem Schrecklichen, nicht davor. Schlimme Gedanken waren schon immer zu mir gekommen, als hätte ich einen speziellen
Magneten, der selbst aus heiteren Gefilden das Verstörende zu sich zog. Ich schob meinen rechten Fuß zum linken und die Berührung war nicht mehr die zweier Fremder. Ich fasste einen Entschluss. Solange ich in diesem Krankenhaus auf Messers Schneide liegen musste, würde ich die Nächte dafür nutzen, mir etwas zu erzählen. Vielleicht könnte ich die Geschichten später aufschreiben. Um mich heil ins Tageslicht zu geleiten, brauchte es jetzt Bannsprüche und Beschwörungsformeln, Gebetsmühlen, Rosenkränze und Litaneien. Ein im geschädigten Hirn erdachtes Nachttagebuch sozusagen. Ich suchte nach einer Überschrift, nach etwas, das sich auch als geschwungene Leuchtstoffröhre gut machen würde. Das war ein Trick von mir. Überschriften und Titel mit Neon befüllen und als fluoreszierende Schriftzüge in die Nacht hängen, um deren Strahlkraft zu überprüfen. Eine gute Überschrift musste zum Rechtsranfahren verleiten. Doch mir kamen nur Ereignisse in den Kopf, die mit Tod, Krankheit und Unfällen zu tun hatten. Sophie füttert mich. Löffelt mir Brei in den hängenden Mund. Wischt mich ab. Schiebt mich unter eine Platane und telefoniert. Meine Kinder stehen um mich herum wie an einem Grab. Meine Augen zwei Türspione im Betongesicht als einzige Verbindung zur Außenwelt, der Rest erstarrte Lava. Wie durch ein Bildbearbeitungsprogramm verfremdet tauchten in warmen Farben Bilder der Krankenwagenfahrt mit meiner Tochter auf. Die mit Horrorszenarien bepinselte Leinwand riss entzwei und alles wurde überstrahlt vom töchterlichen Mut. Natürlich hatte sie mich schon verzweifelt erlebt. Doch unsere Nähe hatte sich durch die Trennung von ihrer Mutter massiv verändert. Aus Übernähe war über die Jahre hinweg eine zeiteingeteilte Nähe geworden. Wir waren uns immer noch unendlich vertraut, aber allein dadurch, dass sie nicht mehr bei mir wohnte und nur noch nach Plan bei mir schlief, hatte ich Hunderte
Stunden mit ihr, Hunderte Gutenachtküsse und verschlafene Morgenmomente verpasst. Wir hatten uns wohl beide daran gewöhnt und doch gab es diesen Abgrund in mir, dass ich sie, ihre Schwester und ihre Mutter im Stich gelassen hatte. Und gerade deshalb musste ich nun umso mehr der Verlässliche, der Einfallsreiche, der Spontane, ja auch der Sorglose sein. Ein ins Irreale gesteigerter Optimismus sollte meine Schuld, mich in Sophie verliebt zu haben, kompensieren. Doch während dieser Höllenfahrt mit den Sanitätern war plötzlich meine Tochter zur Organisatorin meiner Rettung geworden. Sie, die ich die letzten Jahre über ununterbrochen vor den Folgen der Trennung hatte bewahren wollen. Der Vaterheld hatte aufgrund von Hirnproblemen abgedankt und überließ der Tochter das Einsatzkommando. Und dabei hatte sie auch noch ausgesehen wie ein Filmstar in einem hochauflösenden Rettungssanitäter-Blockbuster. Meine Arme und Beine wurden durch die Medikamente zunehmend schwerer. Die Muskelfasern entspannten sich. So als hätte jemand bei einer Gitarre an den Wirbeln gedreht, bis die Saiten durchhingen. Ich war mir sicher, dass mir die Neurologin etwas Beruhigendes ins Cocktailglas gemixt hatte. Der Körper wurde träge, aber die Gedanken leicht und leichter, geradezu übermütig stoben sie durcheinander. Wie bei einem außer Kontrolle geratenen Brainstorming einer Horde zugekokster Drehbuchschreiber morgens um fünf flipperten mir Szenarien durch die Hirnwindungen. Mir war, als könnte ich simultan Verschiedenes denken. Ich konnte kaum noch auf dem Rücken liegen und drehte mich, vorsichtig die Schläuche und Herzkabel lenkend, auf die Seite. Da ich mich auf die taube, zögerlich auftauende Seite gewälzt hatte, stellte sich ein frappierendes Gefühl ein: Ich schien zu schweben. Zwischen der unversehrten Körperhälfte und der Matratze lag eine Pufferzone aus tauber Materie. Eigentlich hatte ich immer leichte
Hüftbeschwerden, wenn ich mich so positionierte. Doch jetzt war meine gelöschte Körperhälfte zum Luftpolster geworden, durch das heiße Partikel strömten.