zurück
Herr Doktor, mein Kissen brennt
Die Nacht wurde länger und länger. Eine lichtlose Katakombe, in die ich orientierungslos tiefer und tiefer hineinhumpelte. Die Angst ließ mich einfach nicht in Ruhe, war lästig, und dadurch, dass mein Körperempfinden aus dem Lot geraten war, schien auch die Nacht schief. Das Dunkel um mich herum war gegen den Raum verkantet, passte nicht recht ins Zimmer und verursachte mir Schwindel. So als hätte jemand eine Schachtel Dunkelheit geschenkt bekommen und sie falsch herum zurück in den Karton gestopft. Oder war das Schwarze bloß in meinem Kopf? Schon immer hat mich das erstaunt, wie finster es in einem ist. Das Gehirn sieht auf Abbildungen immer so schön weiß aus, so licht, aber eigentlich wird jeder Gedanke in lichtloser Finsternis gedacht. Ich klingelte nach der Schwester. »Verzeihen Sie bitte, aber ich habe überhaupt keine Ahnung, wie spät es ist.« »Viertel sechs.« »Ah, danke.« »Sonst alles gut?« »Ja, bestens.« Diesmal versuchte ich, es zu kapieren, hieß das noch Viertel vor oder bereits Viertel nach sechs? Es war nicht zu begreifen. Aber ein Ende der Nacht schien möglich. Auf dem Gang hörte ich Schritte, die in den Tag wollten. Auch wurde sich auf der Intensivstation um mich herum zunehmend hin und her gewälzt und geseufzt. Auch leise gepupst. Die Organe kamen ganz offensichtlich in Bewegung und freuten sich auf den Morgen. Da flog die Tür auf und die Neonbeleuchtung an der Decke flackerte. Die Vorhänge wurden beiseitegezogen. Zum ersten Mal sah ich die Größe des Raumes und auch meine Mitpatienten. Wir waren zu sechst. Ich war überrascht: Männer und Frauen gemischt. Ab einer gewissen Drastik wurde das Geschlecht offenbar zweitrangig. Eine Dame kam mit ihrem Metallwagen hereingescheppert. »Frühstück!« Alle mobilen Gliedmaßen der Patienten erschraken. Eben noch hatten wir, vereint in einer albtraumhaften Schicksalsgemeinschaft, unter dem Gewicht der Nacht vor uns hin gebrütet, da wurde brutal die Granitplatte von den Gedanken weggerissen. Wie lichtscheue Würmer im Grellen rekelten wir uns, wischten uns über die Augen, verhedderten uns in unseren Schläuchen, versuchten uns aufzusetzen und sackten wieder zusammen, da wir kurzzeitig vergessen hatten, warum wir überhaupt hier waren, warum Arme und Beine auf Abwege gerieten. Einer nach dem anderen wurde nach seinen Wünschen befragt. Die Krankenschwester trug leider keinen weißen Kittel. Kittel, wie ich sie mag, wie sie mir schon seit Urzeiten aus der Psychiatrie, in der ich aufgewachsen bin, vertraut sind. Ihre Kleidung bestand aus nichts weiter als einer blauen Hose und einem kurzärmeligen blauen Hemd. Sie sah enttäuschend pragmatisch aus und war jeglicher medizinischer Nostalgie beraubt. In der Kluft konnte man füttern, waschen und in der Pathologie vorbeischauen. Ihre morgendliche Leier war von karger Schönheit: »Graubrot, Weißbrot, Schwarzbrot, Semmel, Striezel?« Zuerst hatte sie einen Mann gefragt, dessen Bettdecke sich stark wölbte, als hätte er einen Wasserball darunter versteckt. Er hatte gut gelaunte rote Bäckchen. »Bitt schön, wenn’s recht ist, zwei Semmeln und ein Stück Striezel.« Es gibt Männer, die ihr Kindergesicht nie ganz loswerden. »Käse, Leberwurst, Geflügelwurst oder Marmelade?« »Zweimal Leberwurst und eine Marmelade, bitt schön.« »Tee oder Kaffee?« »Sein S’ so lieb und machen Sie mir einen Kaffee.« Er tat ausgesprochen höflich und gebärdete sich wie im Caféhaus, glich ihre flach intonierte Schroffheit durch gestelzte Galanterie aus. In einem Tempo, als wäre es eine Zirkusnummer, griff die Schwester sich die Zutaten vom Wagen und goss den Kaffee ein. Als Nächstes sprach sie eine Patientin an, deren Anblick mitleiderregend war. Sie lag seitlich, aus ihren in blass geschwollener Haut wie eingequetschten Augen war jegliche Lebensfreude gewichen. Hatte ich je so tote Augen gesehen? »Graubrot, Weißbrot, Schwarzbrot, Semmel, Striezel?« Die Patientin reagierte nicht. »Wollen Sie nicht frühstücken? Tee, Kaffee?« Auch wenn das eine Anmaßung war, ich meinte zu verstehen, wie es ihr ging. Wenn man einmal für sich den Schalter umgelegt und entschieden hat, die Welt zu ignorieren, ist es schwer, wieder zurückzukommen. Wer einmal meint, die Sinnlosigkeit des Daseins durchschaut zu haben, ist kaum mehr vom Gegenteil zu überzeugen. Graubrot, Weißbrot, Schwarzbrot, Striezel. Das ist, wenn man schon auf dem Brückengeländer steht, nur noch ein weiterer Abzählreim hinein in den Nihilismus. Oder hatten die Medikamente sie träge gemacht? Ich sah ihr Gesicht nur teilweise, da es von strähnigen Haaren in Streifen geschnitten war. Unsere Kellnerin wurde ohne innere Anteilnahme circa doppelt so laut und schrie die Backwaren heraus. Keinerlei Reaktion. Doch dann sprach die Patientin und das Wort blähte sich vor ihren Lippen wie eine Seifenblase, bevor es platzte: »Gugelhupf.« »Des gibt’s need.« Die Schwester wandte sich mir zu und knallte mir ihre Sortimentsauswahl entgegen. »Ich hätte gerne einfach eine Semmel mit Marmelade und einen Tee bitte.« Wieder griff sie blitzschnell zu, sammelte die Zutaten vom Wagen und drapierte sie auf einem Teller. Mich erinnerte das an bestimmte YouTube-Videos, die ich mir gerne mit meiner kleinen Tochter ansah, in denen Menschen etwas besonders schnell konnten. Zum Beispiel ein Japaner mit Mundschutz, der einen riesigen Thunfisch tranchierte und das imposante Tier in nur drei Minuten in mundgerechte Häppchen zerwürfelte. Kiemen, Kopf und Gräten warf er einfach hinter sich in den gekachelten Raum. Oder ein Arbeiter, der wie vom Leibhaftigen gejagt eine mannshoch mit Schutt beladene Schubkarre über zig schmale Bretter mitten durch den Matsch zu einem Container lenkte. Er überlistete den handbreiten, vom Einsinken bedrohten Wackelweg durch sein irreales Tempo. Jeder Vorsichtige wäre chancenlos gewesen. In unserem Lieblingsclip scherte ein Mann in Australien Schafe. In weniger als einer Minute hüpften die Tiere aus ihrem voluminösen Fleece heraus und hoppelten, peinlich berührt von ihrer Blöße, davon.
Die Schwester hatte sich inzwischen an den Mann gewandt, den ich auf circa dreißig schätzte und in der Nacht telefonieren gehört hatte. »Graubrot, Weißbrot, Schwarzbrot, Semmel, Striezel?« »Ich nehme äh … bitte, ich nehme … ahh … Gott … das … na … das.« Und dann leiser zu sich: »Shit … warum funktioniert das da oben nicht?« Und wieder lauter: »Na das, das, das, shit, verdammt.« »Striezel?« Empört verneinte er, schien beleidigt, dass sie überhaupt Striezel für ihn in Betracht gezogen hatte. Auch ich begann, in Gedanken mitzuraten. »Graubrot?« »Nein, nein … bitte … shit.« »Schwarzbrot?« »Ja«, bellte er erleichtert. »Käse, Leberwurst, Geflügelwurst oder Marmelade?« »Da nehme ich … äh … äh … warten Sie …« Er tat so, als würde er sich nicht entscheiden können, und war doch schon wieder mittendrin in seiner Begriffsblockade. »Äh … ich nehme … hm … worauf hab ich Lust? Ich nehme … äh …« »Können Sie aufstehen?« »Ja.« »Kommen Sie her. Ich zeig Ihnen, was ich habe. Vorsicht mit dem Schlauch.« So viel Einfühlungsvermögen hatte ich ihr gar nicht zugetraut. Toll, dachte ich, eben noch Lagerleiterin, jetzt Florence Nightingale. Der Mann stöpselte sein EKG ab und schob seinen Infusionsgalgen zum Frühstückswagen. »Das da.« Er bekam seine Leberwurst. Sie hielt beide Kannen in die Höhe. »Tee oder Kaffee?« Er zeigte auf den Kaffee. Er ging zurück Richtung Bett, war wie erstarrt, drehte den Kopf nicht, sondern den gesamten Körper und parkte sich rückwärts auf seine Matratze ein. Während dieser kleinen Frage-und-Antwort-Folter hatte der propere Herr mit der Großbestellung genüsslich geschlürft und gemampft und die Wortfindungspein seines Zimmernachbarn sichtlich genossen. Da tankte einer seine eigene Lebensfreude am Leid anderer auf. Was dem fehlen sollte, war mir nicht klar, und ich dachte, vielleicht simuliert er nur, weil er das Frühstück hier so schätzt oder die Schwester scharf findet. Die beiden anderen Patienten der Intensivstation waren nicht ansprechbar. Ein weiterer Mann und eine Frau. Sie lagen bewegungslos auf dem Rücken. Der Mann trug eine Sonnenbrille. Hatte er sie die ganze Nacht aufgehabt? Die Gläser waren, wie es in den Achtzigern Mode gewesen war, voll verspiegelt in den schillernden Farben von Benzin auf Pfützen. In seinem Ohr ein goldenes, allerdings verkehrt herum gedrehtes Kreuz. Die Stelle, wo Jesus seine Füße gehabt hatte, stand nach oben. Sein dichter grauer Schopf war zur Bürste getrimmt. Sein Mund stand offen, viele Zähne hatte er für den Aufenthalt nicht eingepackt. Die Frau am Fenster hatte den Kopf zur Seite geneigt, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, es kam mir seltsam vor, dass ihr nichts angeboten wurde. Das Haar war auffallend sorgfältig frisiert. Bei dem Typ mit der Sonnenbrille wunderte es mich nicht. Jeder konnte sehen, dass er gründlich weggetreten war. Sie aber schien nur kurz zu ruhen, in einen leichten Schlaf gehüllt zu sein.
Dass sich meine Empathie für das Leid der Mitpatienten in Grenzen hielt, wunderte, ja schmerzte mich. Mein Mitgefühl schien durch den Schlaganfall ebenfalls beschädigt, und auch, wenn mir das ganz und gar nicht gefiel, konnte ich eine gewisse Verhärtung den anderen gegenüber nicht leugnen. Vielleicht war es aber auch einfach Angst, da in den Betten deprimierende Spielarten meiner eigenen ungewissen Zukunft lagen. Weil ich die Namen der Mitpatienten nicht kannte, benannte ich sie mit ihren Diagnosen. Auch dies klang herzloser als intendiert. Mein Vater hatte oft am Mittagstisch in dieser Weise von seinen Patienten gesprochen: die Schizophrene von A oben, der Autist von D unten, die Magersüchtige von G Mitte.
Ich war durch den Frühstücksüberfall so aus der Bahn geworfen worden, dass ich völlig vergessen hatte, in meinen Körper hineinzuhorchen. Wie ging es mir eigentlich im Hellen? Die Intensität des Nervensirrens hatte im Bein und im halben Po deutlich abgenommen und war einem wächsernen Gefühl von Taubheit gewichen. Ich rieb meine Füße aneinander und spürte kaum noch einen Unterschied. Auch der linke Arm war nicht mehr gefangen in der kreuz und quer Funken sprühenden Hochspannung des Vorabends. Ich massierte ihn mit der rechten Hand. Fremd fühlte er sich an, abweisend, als wollte er nichts von mir wissen. Ich griff mir mit der rechten Hand fest ums Handgelenk und presste zu. Das Verhältnis von Druckausüben und Druckempfinden passte nicht zusammen. Da kam viel weniger an, als ich reinschickte. Ich kniff mich in die Haut, zwirbelte sie an verschiedenen Stellen. Derselbe Effekt. Ich sah an meinem Arm die Striemen und winzigen Quetschungen als gerötete Muster, doch spürte ich sie nicht. Ich setzte mich auf und versuchte, den linken Arm zu heben. Nichts. Ich verstärkte die Willensanstrengung und da flog er wie aufgeschreckt in die Höhe und knallte gegen den Triangelgriff. Ich zuckte zusammen, warf mich aus Schreck vor dem eigenen Arm zurück ins Kissen. Wie ein schlechter Angler hatte ich überreagiert und einen winzigen Fisch mit aller Kraft aus dem See gerissen. Das Kissen unter meinem Kopf war das ungemütlichste, dem ich je begegnet war. Später erfuhr ich von meiner Physiotherapeutin, dass alle Patienten die Kissen hassen würden. Ich solle doch bitte eine Beschwerde einreichen, mich eventuell mit anderen Patienten zusammenschließen. Na, wer sonst nichts zu tun hat! Eine Demo organisieren, eine Petition verabschieden und ein- und untergehakt mit Spruchbändern und Stakkatorufen übers Krankenhausgelände marschieren: »Für unsere Krankheit gibt’s ’nen Grund! Die Kissen sind so ungesund!« Verantwortlich für die Ungemütlichkeit der Kissen sei der Brandschutz, wurde mir erklärt. Sie waren nach einem Feuer ausgetauscht worden. Ein Bettlägeriger hatte geraucht und dann gebrüllt: »Herr Doktor, mein Kissen brennt!« Ich musste lachen, denn natürlich ist so etwas das Schlimmste, was einem Kissen passieren kann: nicht mehr brennbar sein zu dürfen. Die Neurologie fackelt ab, aber die Kissen liegen weiß und fluffig wie feuerfeste Gänse in der Asche. Das ist Fortschritt an der richtigen Stelle. Hatte ich wirklich keinen Moment geschlafen? Ich hatte während der endlosen Nacht viel an Norwegen gedacht, das wusste ich wohl, und auch irgendwann daran, wie ich mit Sophie und unserem Sohn einen Sommer nach der Bruderwanderung wieder dort gewesen war. Wir hatten die Fähre von Kiel nach Oslo genommen. In der Nacht war das Meer sehr unruhig gewesen. Sophie mochte es, wie die Wellen das riesige Schiff in Bewegung versetzten und tief knarzen ließen. Sie war oft genau dann mutig, wenn ich feige war. Wir hatten ein großes Bullauge in der Kajüte, hoch oben über den an der Außenwand hingleitenden Brechern. Unseren kleinen Sohn hatte das stetige Auf und Ab schnell in den Schlaf geschaukelt. Sophie saß vor dem Bullauge nackt in der Dunkelheit, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, völlig versunken in den Anblick der Wellen, die sich nur durch ihre Gischtkronen vom schwarzen Himmel abhoben. Später lagen wir nah beieinander, doch ich konnte keine Ruhe finden, da ich das Schaukeln nicht zu Gemütlichkeit umzudeuten vermochte. Neben den metallischen Schlägen an die Bordwand gab es noch eine beunruhigende Vibration, die sich durch das Metall zitterte. Ich lag da und dachte an den Untergang der Estonia . Innerhalb von wenigen Minuten war sie in der Ostsee abgesoffen, da der Sturm die riesige Ladeluke aufgebogen und abgerissen hatte und die Wassermassen ungebremst in den Frachtraum gestürzt waren. Hatten damals die Gäste auch zuerst diese Vibration wahrgenommen? War sie ein Vorbote des Unheils? Und war das, was gerade in meiner linken Körperhälfte die Nerven elektrisierte, eventuell auch nur die Ankündigung von etwas Größerem? War das nur das Knistern der Transistoren vor dem endgültigen Explodieren der Röhre? Ich hasste mein Gehirn dafür, dass es nie an der Absperrung, hinter der es die wirklich schlimmen Dinge zu sehen gab, einfach mal Halt machte, sich umdrehte und zurück nach Hause ging. Nein, immer musste es sich ducken, unter dem Absperrband hindurchkriechen und ins Zentrum des Grauens vorrücken. Einen Sicherheitsabstand zu den toxischen Bildern einzuhalten, war meine Sache nicht. Trieben, dachte ich, im Ostseefährbauch, im verrosteten Wrack der Estonia hinter den von den Wassermassen zugedrückten Kabinentüren, noch Knochen herum? Nasse Pyjamas, gefüllt mit Gebeinen? Vollgesogene Kuscheltiere, schwarz vor Algen? War jede Kajüte zum gefluteten Sarg geworden?
Bevor sich die Schreckensbilder der letzten Nacht erneut in aller Pracht entfalten konnten, kümmerte ich mich lieber um mein Frühstück. Es gab neue Spielregeln. Wie teilt man ein Brötchen in zwei Hälften, wenn nur eine Hand mitmachen darf? Ich nahm die Semmel, drehte und knetete sie ungeschickt. Ich bohrte einen Finger hinein, bröselte das Bett voll und schob dann die ganze Hand ins Innere. Toller Brötchenhandschuh! Ich zerteilte ihn, indem ich das Gebäck zwischen Matratze und Gestell einklemmte und meine Hand ganz hindurchschob. Die beiden zerfransten Hälften legte ich zurück auf den Teller, zog mit den Zähnen die Butter auf und quetschte sie auf die Semmel. Genauso die Kirschmarmelade. Mit dem Messer versuchte ich das Ganze irgendwie zu verstreichen, schob aber nur die Hälften auf dem Tablett herum. Willkommen in der Welt der Einarmigen, dachte ich und biss ab. Lecker, wie früher im Liegewagen. Wenn ich den zerkauten Speisebrei im Mund in die linke Backentasche schob, verschwand er in der Fühllosigkeit. Beim Wiederhervorschieben biss ich mir auf die Zunge. Ich war hin und her gerissen zwischen der Faszination über die Ausfallerscheinung und dem Schreck, den sie mir einflößte. Eine andere Schwester kam herein und unterhielt sich angeregt auf Ungarisch mit dem kleinen Dicken. Selten habe ich ein verschmitzteres Bürschchen gesehen. Vor lauter Geilheit rieb er seinen Hintern auf der Matratze hin und her, deutete Umarmungen an, lockte mit dem Finger und knetete die Luft vor den Brüsten der Schwester durch. Sie fand es allerdings lange nicht so anzüglich wie ich. Kicherte und ließ sich die ungarischen Komplimente gefallen. Als sie das Zimmer verließ, warf er mir einen unanständigen Blick zu, schnalzte dreimal mit der Zunge und schürzte minutenlang die Lippen, als wären diese ein blutpralles Organ, das Zeit braucht, um wieder abzuschwellen. Ich trank vom Früchtetee. Eigentlich möchte ich niemand sein, der Früchtetee trinkt, dachte ich. Früchtetee ist ein trauriges Getränk. Und wer traurige Getränke trinkt, wird selbst traurig. Meine Zunge schien weiterhin geschwollen, wie verbrannt, die Papillen noppig, und mein linkes Augenlid blinzelte unaufgefordert. Das wiederum missverstand der pummelige Charmeur und nahm es als meine Zustimmung, dass die Schwester ein Prachtexemplar ihrer Zunft war. Er winkte mir zu und ich nickte. Nachdem die Krankenschwester die Tabletts eingesammelt hatte, schloss sie die Vorhänge und dimmte die Neonbeleuchtung. Mein Blutdruck wurde gemessen. Wieder erklang das Pippi-Langstrumpf-Lied. Vielleicht hatte mir der Thrombus das absolute Gehör beschert. Das gab es immer wieder, dass Verletzungen oder Beeinträchtigungen des Gehirns zu Höchstleistungen führten. Jemand bekam einen Baseball an den Kopf und konnte von da an wie eine Katze im Dunkeln sehen oder eine Sächsin fiel die Treppe runter und sprach fortan nur noch Schwyzerdütsch. Würde ich jetzt aus Alltagsgeräuschen Klänge berühmter Sinfonien heraushören? Ein Hauch von Morgen wagte sich so vorsichtig ins Zimmer, wie es sich für eine Intensivstation gehört. Frühe auf leisen Sohlen. Vielleicht würde ich bald ein wenig schlafen können. Zum Test schloss ich mehrmals kurz die Augen. Tatsächlich, die Dämonen schienen zu erschöpft, um mich weiter zu malträtieren, und blieben in ihren Verstecken. Endlich. Da hörte ich jemanden das Zimmer betreten. Mein Vorhang wurde ein wenig beiseitegeschoben und zügig wieder geschlossen. Ich hörte eine Frauenstimme flüstern: »Ach, hier steckst du.« Und der Mann direkt neben mir antwortete ebenso leise: »Da bist du ja endlich.« »Ich hab es gestern einfach nicht geschafft. Tut mir so leid.« »Komm, setz dich.« »Warte, ich organisiere mir einen Stuhl.« »Setz dich doch hierhin.« Ich hörte, wie er auf seine Matratze klopfte. »Nein, nein. Ich hole mir einen Stuhl.« »Warum denn?« »Das macht man nicht. Sich zu Kranken auf die Bettkante setzen.« »Hab ich noch nie gehört.« Sie verließ das Zimmer und kam zurück, ich sah das Stuhlbein, das wie eine Fingerkuppe den Vorhang entlangstrich. »So. Heute kommen Mama und Papa. Dann hab ich mehr Zeit.« »Na die, na bravo, na gut.« »Sei doch froh, sie wollen natürlich auch zu dir. Deine Eltern kommen morgen.« »Was ist denn nur passiert. Ich … als ich … äh.« Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er ohne jede Auffälligkeit gesprochen. »Als ich da … na da … plötzlich in der Nacht aufgewacht bin. Bin ich doch, oder?« »Das erzähl ich dir dann mal in Ruhe.« »Ist doch Ruhe hier. Ich … komm … erzähl … mal.« Sein Flüstern wurde von Satz zu Satz fahriger und je mehr er sich aufregte, desto zerhackter wurde seine Sprache. »Was hab ich denn? … Du weißt das, oder? Was … warum … shit … warum funktioniert das oben nicht … was ist denn?« Und da entschied sie sich, ihm die Wahrheit zu sagen. »Du hattest eine Hirnblutung.« Ich hatte keine Wahl, ich musste zuhören. Noch nie hatte ich begriffen, wie das mit dem Weghören funktionieren sollte. Weggehen, na klar. Wegsehen, okay. Aber weghören? Die eigenen Ohren nicht wie Augen schließen, die Muschel nicht über dem Gehörgang zusammenfalten zu können, war schlicht ein evolutionäres Versäumnis. Er schien zu erschüttert, um zu sprechen, und mich streifte eine der Situation völlig unangemessene Erinnerung: Ich hatte mal in Spannung versunken auf einem Hotelbett liegend ein Tennisspiel in Wimbledon verfolgt und gedankenverloren etwas, das ich unter der Bettdecke gefunden hatte, zwischen den Fingern zu rollen begonnen und dann daran geknabbert. Als die Spielerin den Satz gewonnen hatte, entspannte ich mich, musste aber feststellen, dass ich ein halbes Ohropax gegessen hatte. Von mir war das nicht. Ich kratzte mir die Wachskrümel von der Zunge und ekelte mich noch Stunden danach.
»Ich … hatte … was?« »Du hattest eine Blutung im Großhirn.« »Was … warum denn. Das kann doch nicht einfach … Was heißt denn … ich.« »Beruhige dich bitte. Aufregung ist jetzt ganz schlecht. Es kann alles wieder gut werden, haben die Ärzte gesagt. Du hast eine Schwellung, einen Bluterguss, der drückt auf die Gefäße. Der ist aber so tief drin, dass sie nicht operieren können. Man muss jetzt einfach abwarten.« »Aber ich. So reden … na ja … wirklich. Aber wie denn?« »Du, das kann einfach passieren. Warum, muss man jetzt rausfinden. Das hätte auch viel schlimmer sein können.« Das regte ihn jetzt erst recht auf. Ihre Tröstungen machten ihn wütend. »Ich … kann … doch … nicht … du … spinnst ja … ich … hab … ja … gar nichts gemacht.« Er fing an zu weinen, ich hörte, wie sie vom Stuhl aufstand und ihn umarmte. »Alles wird wieder gut. Du musst jetzt einfach nur geduldig sein. Ich finde, du sprichst schon viel besser als gestern.« Plötzlich war er lammfromm. »Ja? … Nur Fragen kann ich irgendwie nicht beantworten … es ist da, weißt du … es ist da … ich sehe das Wort, aber ich kann es nicht sagen … aber es ist alles da.« »Siehst du, das ist doch gut.« »Aber … die Arbeit.« Daraufhin sagte er etwas, das ich besser nicht gehört hätte. »… ich mit der Arbeit … wie denn? … Wie soll das denn?!« Er weinte heftiger und ich räusperte mich, um ihn daran zu erinnern, dass er nicht allein war. »Ich kann doch so nicht … das wird nix so.« »Aber es soll ja wieder gut werden.« Er grunzte verächtlich. »Da kann ich … na … vielleicht, wenn ausländische Investoren kommen, blöd dabeistehen und grinsen. Das werden die machen, mich immer so danebenstellen.« Jetzt wurde es auch für mich bitter. Vielleicht würde ich auch nie mehr so Theater spielen können wie zuvor. Ich hatte mich immer total verausgaben müssen, um auf der Bühne zu leuchten. Nur wenn ich mich zum Glühen brachte, wurde ich sichtbar. Vielleicht war meine Kraft jetzt gebrochen. Es war mit fünfzig ohnehin kaum mehr zu schaffen, so zu spielen, wie ich dachte, dass ich spielen müsse. Da hörte ich meinen Bettnachbarn sagen: »Dann bring ich mich eben um. Mach ich.« »Hör jetzt auf. Rede nicht so einen Blödsinn daher.« »Doch, das … das mach ich … wenn ich … nicht. Ohne Arbeit … mach ich das.« Und dann schluchzte er enthemmt los, wobei er offenbar den Kopf hin und her warf. Dadurch klang es, als würde jemand am Lautstärkeregler spielen. Da hörte ich noch jemanden weinen. Aber es war nicht seine Freundin oder Frau, denn diese sprach leise und eindringlich auf ihn ein. »Du brauchst jetzt Ruhe. Und du hast ja mich. Du hast großes Glück im Unglück gehabt.« Da legte er eine aberwitzige Kehrtwende aufs traurige Parkett. Mit anzüglichem Ton forderte er sie erneut auf, sich zu ihm zu setzen. Und diesmal hatte er mehr Erfolg. Er nannte sie Kleines. Sie tuschelten, kicherten, und in dieses Liebesgesäusel weinte nun deutlich hörbar jemand anderes herzerweichend hinein. Ich tippte auf das apathische Mädchen. Vielleicht hatte sie die Geschichte hinter dem Vorhang zu Tränen gerührt. In was für ein Hörspiel war ich da nur geraten? Ich musste aufs Klo. War ich eigentlich der Einzige, der auf dieser Intensivstation pinkeln musste? Intensiv pinkeln musste? Oder hatten sie alle Katheter gelegt bekommen, durch die lautlos der Urin abfloss? Ich hatte keine Lust zu klingeln und wollte nur noch weg aus diesem Bett, weg von diesem Paar, weg von den Schnarchgeräuschen des bebrillten Freaks, weg von dem Gejammer ohne Gesicht. Mit dem rechten Arm drückte ich mich energisch in die Höhe und stand auf, doch in meiner wilden Aufbruchsstimmung hatte ich völlig vergessen, das EKG abzuhängen, das mich zurück auf die Bettkante riss. Ich sackte zusammen und legte den Kopf aufs feuerfeste Kissen. Um mich herum wurde geweint, geschnarcht und gestottert. Ich war am Ende von etwas angekommen. Mein Selbstbild bröckelte gewaltig. So schnell also war ich hinübergerutscht aus der Unverwüstlichkeit in die Verwüstlichkeit, aus der Unbeschwertheit in die Beschwertheit.