Ich hielt es nicht mehr aus, setzte mich im Bett auf und stöpselte das EKG
ab. Ich musste raus aus diesem Raum, weg von den anderen beschädigten Gehirnen. Ich trat auf den Gang hinaus. Ich erinnerte mich an nichts. Hatte ich das überhaupt schon mal erlebt, ein Zimmer zu verlassen, ohne die Umgebung wiederzuerkennen? Im gesamten Flur waren Handläufe entlang der Wände montiert. Ein Ballettsaal für schwankende Gestalten. Schritt für Schritt zog ich mich den Gang entlang. Befremdlich war, dass ich dabei kein bisschen so tat, als wäre es schlimmer, als es war. Ich hatte noch nie gerne mit Situationen zu tun bekommen, die nicht weiter übertrieben werden konnten, um ihre Mechanik offenzulegen. Um mich zu behaupten, musste irgendein verspieltes Moment her, etwas Inadäquates, das es ermöglichte, die unumstößliche Erbärmlichkeit meiner Situation zu zerbrechen. Ich wollte es nicht zulassen, dass der Schlaganfall auf mich herabsah, ich wollte auf ihn herabsehen und ihn lächerlich machen. Ich krallte mich am Handlauf fest, richtete mich auf, streckte die Brust raus und stellte die nackten Füße in die erste Ballettposition, die ich noch von der Schauspielschule kannte. Ich ging ins Plié, das Nachthemd klaffte auf und ein kühler Hauch wehte mir über die Arschbacken. Ich bog einen zitternden Arm über den Kopf, stand da und erfreute mich an meiner
Tanzeinlage. Von der Rampensau zum sterbenden Schwan war es nur ein Katzensprung. Ich erreichte ein Wartezimmer, in dem ich an mehreren Fenstern rüttelte, bis ich eines fand, das sich öffnen ließ. Dort setzte ich mich auf einen Stuhl und atmete die Nachtluft ein. Es tat gut, zu frösteln. Ein Dagegen und Überzittern des Nervenzitterns. Ja, und es tat auch gut, keine Unterhose anzuhaben und aus dem Miefbett kommend die frische Brise zu spüren. Ich sah eine breite Straße und eine große Straßenlaterne, die schräg stand. Hatte ich jetzt auch noch einen Knick in der Optik? Ich blieb so lange sitzen, bis meine Zähne zu klappern begannen. Ich hatte Zähneklappern schon immer gemocht, da es so etwas archaisch Hilfloses hat. Linksseitig kamen mir meine Zähne plötzlich locker vor, als würden sie sich durch das schnelle Aufeinanderschlagen aus dem Zahnfleisch lösen. Ich dachte an eine Lesung, die ich kürzlich gehabt hatte. In Ludwigshafen. Um nicht von einer Gedankensepsis ans Hotelbett gefesselt zu werden, hatte ich mich aufgerafft, um den Rhein zu suchen. Auf dem Weg entdeckte ich eine Lache Blut, dunkel eingetrocknet bis rot schillernd frisch, und drei Zähne mit Wurzelfaserresten. Jetzt, hatte ich damals gedacht, ist es definitiv zu spät, die Zähne wieder einzupflanzen. Der Betroffene, höchst wahrscheinlich Geschlagene, hätte die Zähne gleich wieder in den Mund nehmen und sie lutschend in die nächste Ambulanz bringen müssen. Schon immer hatte ich Angst davor gehabt, meine Zähne ausgeschlagen zu bekommen. Die Ankündigung Ich schlag dir alle Zähne aus
hatte ich stets als extrem brutal empfunden. Durch ein zusätzliches Wort ließ sich diese Androhung ins Endbrutale steigern: einzeln! Ich schlag dir alle Zähne einzeln
aus! Hatte das jemals jemand bei jemandem gemacht? Sich die Zeit und den Zorn genommen, um dem auserwählten Opfer alle Zähne einzeln
auszuschlagen? Was für eine schauderhafte Präzisionsarbeit das wäre, dachte ich immer noch
zähneklappernd. Ich fror, stand auf und tanzte an der Stange entlang zurück in mein Bett. Die Angst, die in dieser Nacht zu mir kam, war weder hinterhältig noch bösartig, sie war kräftig gebaut und hatte etwas Kumpelhaftes, legte sich neben mich und sagte: Hier, direkt an deiner Seite, da ist ab jetzt mein Platz, und wenn du dich nicht zierst, werden wir gut miteinander auskommen. Ich war heilfroh, in Gedanken nach Afrika zurückkehren zu können. Sophie und ich hatten eine lange Wegstrecke Richtung Süden vor uns gehabt. Ins Sine-Saloum-Delta. Die Fahrt mit einem SUV
sollte um die hundert Euro kosten. »Du, ich zahl das gerne«, hatte ich gesagt, »Hauptsache, es ist kühl während der Fahrt.« Ich hätte es wahrlich genossen, die nächsten Stunden hinter getönten Scheiben in einem gekühlten Gehäuse aus Funktionalität zu verbringen. Doch Sophie weigerte sich, da sie nicht selbst wie die von ihr kritisierten senegalesischen Eliten in einer gepanzerten Luxuskapsel fernab aller Realität durch das Land schweben wollte. Und ich wurde plötzlich knauserig, da die Fahrt in einem einfachen Taxi um ein Vielfaches billiger war und ich schon in der neuen Währung rechnete. Schon erstaunlich, wie schnell man im Ausland geizig wird, obwohl der Betrag für eine dreihundertachtzig Kilometer lange Strecke für zwei ein Witz gewesen wäre. Der Preis für das SUV
mit Chauffeur entsprach zwanzig senegalesischen Restaurantbesuchen, Sophie fand das absurd. Also fuhren wir mit einem Bus zu einem großen Platz am Rande der Stadt, auf dem sicherlich dreihundert Autos und ihre Fahrer auf Kundschaft warteten. Die Gesetzmäßigkeiten dieses Ortes zu begreifen, war unmöglich. Verschiedene Fahrer stürzten auf uns zu, umringten uns und wollten das Ziel unserer Reise wissen. Wir nannten es, ein wildes Gefeilsche um den Preis brach aus. Sophie rief auf Französisch dazwischen. Und ich meinen Standardsatz: »Was sagen sie?« »Ich versteh es auch nicht, sie
sprechen Wolof.« Es wurde geschrien und gedrängelt und ich befürchtete, jeden Moment würde es zu einer Prügelei kommen. Doch es schienen vollkommen normale Verhandlungen zu sein. Dass Menschen so entspannt in Rage geraten konnten, war mir neu. Wir hatten im Hotel den Preis erfragt, den die Fahrt circa kosten würde, und als Sophie ihn nannte, wurde laut aufgelacht, Augen theatralisch aufgerissen und mehrere Männer gingen kopfschüttelnd davon. Wir verhandelten weiter und gingen mit einem Mann mit, der mir den Arm um die Schulter legte und mir erst zu unserer Wahl und dann auch zu Sophie gratulierte. Sein Gesicht war von Schmucknarben übersät. Wir waren davon ausgegangen, dass die Fahrt nun beginnen würde, doch weit gefehlt. Er lief voraus durch die Autoreihen. Viele der Wagen waren aus zig Einzelteilen zusammengebastelt, hatten verschiedenfarbige Türen oder Motorhauben. Jedes dieser Vehikel ein Bausatz, der sich beliebig kombinieren ließ. Je älter die Modelle waren, desto wilder waren sie montiert. Wir erreichten den hinteren Teil des staubigen Feldes, der sich als der Bereich herausstellte, in dem die Fahrer des Mannes warteten. Und dann ging alles wieder von vorne los. Wir nannten das Ziel und unseren Preis und wie in einem expressionistischen Theaterstück wurden Hände gerungen und zum Himmel gebetet. Wir wurden zu verschiedenen Autos gezerrt, in denen bereits Passagiere saßen. Das entpuppte sich als neues, alles entscheidendes Kriterium: Ein Taxi würde erst dann losfahren, wenn es voll besetzt war. Ein lang gestreckter schwarzer Kombi war zur Abfahrt bereit. Doch plötzlich wurde Sophie kompliziert und weigerte sich einzusteigen. Sie diskutierte mit mehreren Männern, die in helles Gelächter ausbrachen. »Was ist denn los? Worüber redet ihr? Warum fahren wir denn nicht einfach los?« »Nie und nimmer steige ich in diese Kiste ein. Sieh dir doch mal die schwarzen Vorhänge an. Das ist ein
Leichenwagen! Ich fahre sicherlich nicht in einem Leichenwagen durch den halben Senegal!« Also alle Koffer wieder raus. Wir wurden zu einem anderen Auto gebracht. In dem durch seine Schrottigkeit hervorstechenden Wagen saßen bereits zwei Frauen. Zwei Plätze waren noch frei. »Sollen wir das machen?«, fragte ich Sophie. »Ich würde sagen, ja, bevor wir hier noch ewig stehen.« Wir bezahlten den Fahrer, der dann aber doch nicht der Fahrer war. Er verschwand und kehrte mit einem hochgewachsenen, eindrucksvollen, sehr dünnen Mann zurück. Ganz in Weiß gehüllt, mit einer bunten Kappe, zwängte er sich hinter das Lenkrad. Er sah verdammt weise aus. Seine Augen bewegten sich sanft hin und her, bei leicht gesenkten Lidern. Zusammen mit den Frauen, die riesige Taschen auf dem Schoß hatten, saßen wir im Wagen. Sophie sprach mit dem Fahrer und ich merkte ihren Unmut. »Was hat er gesagt? Was hat er denn gesagt?« »So blöd. Wir warten noch auf einen weiteren Fahrgast.« »Was, noch einen? Das wird aber eng. Zu sechst in dieser Karre? Wie soll denn das gehen? Sollen wir noch mal aussteigen?« »Geht nicht.« »Warum nicht?« »Wir haben ihn bezahlt. Der Besitzer des Taxis hat Feierabend gemacht. Und wenn wir uns ein neues Taxi suchen, müssen wir alles noch mal bezahlen.« Wir küssten uns und die Frauen sahen demonstrativ missmutig aus dem Fenster. Es dauerte und dauerte und niemand kam. Da fingen die zwei Frauen an, sich zu beschweren, und beschimpften den Fahrer. Wieder ging es hoch her. Der edle Chauffeur blickte derweil, ein Paradebeispiel göttlichen Stoizismus, unbeeindruckt aus dem Fenster. Sophie musste auf die Toilette. »Ich bleib bei den Koffern.« Sie verschwand und nach fünfzehn Minuten geriet ich in Sorge. Ich konnte weder die Sprache, noch schien es mir schlau, Sophie suchen zu gehen. Nach gut einer halben Stunde kam sie zurück und ließ sich entkräftet in den durchgescheuerten Sitz fallen. Sie schloss
die Augen. »Alles in Ordnung?« »Frag bitte nicht.« Ich schwitzte und konnte kaum noch sitzen. Zum einen wusste ich nicht, wohin mit meinen Beinen, zum anderen klebte meine Unterhose an den Innenseiten meiner Schenkel und arbeitete sich als feuchter Streifen in die Poritze hinein. Seit über zwei Stunden waren wir nun schon hier und noch immer nicht unterwegs. Wie auf ein verabredetes Kommando hin wuchteten sich die zwei Damen aus dem Auto, schimpften und verschwanden. Sophie sprach wieder mit dem Fahrer und wurde zornig. Es beeindruckte mich tief, wie sie die französischen Sätze herausschleuderte, sich zwischen die Vordersitze beugte und diskutierte. Doch die gelassene Stimmlage des mysteriösen Fahrers ließ wenig Zweifel daran, wer hier die Oberhand hatte. »Was hat er gesagt?« »Es hilft nichts. Wir müssen auf neue Mitfahrer warten.« »Das kann nicht sein Ernst sein.« »Doch, ist es.« »Komm, wir steigen aus und suchen uns ein anderes Taxi.« »Dann ist das, was wir bezahlt haben, aber futsch.« »Ist doch egal.« »Ist es nicht.« Eine weitere halbe Stunde hockten wir besiegt auf der Rückbank. Dasselbe Taxi links, dasselbe Taxi rechts. Das Festgenageltsein auf der ewig selben Stelle nervte gehörig. Es war so, als würden wir andauernd zurück auf Los müssen. Der Fahrer sprach etwas in den mit bunten Bändseln berüschten Rückspiegel. Sophie lachte auf. »Was hat er gesagt?« »Er würde uns einen guten Preis machen, wenn wir die noch freien Sitze bezahlen.« »Das ist echt mies. Wie viel?« Wieder sprachen sie miteinander. »Noch mal so viel, wie wir bezahlt haben. Der fünfte Platz wäre umsonst.« »Umsonst ist ’ne Frechheit! Es gibt überhaupt gar keinen fünften Platz in diesem Auto!«, sagte ich. Doch wir waren weichgekocht. Ich dachte: Scheiß drauf, und sagte: »Komm, egal«, da ich wusste, dass Sophie es schätzte, dass ich keine Kraftausdrücke verwendete. Ich nahm Sophies Regungslosigkeit als Einverständnis, zog den Betrag aus meinem
Brustbeutel, dessen Leder von Schweiß getränkt war, und reichte die feucht verwelkten Scheine nach vorne. Und während der Fahrer den Motor anwarf, der völlig überrascht zu sein schien, heute noch arbeiten zu müssen, ja geradezu gekränkt aufheulte, lachten Sophie und ich los. Es dauerte eine weitere Stunde, den restlos zugeparkten Wagen vom Parkplatz herunterzumanövrieren. Autos sprangen nicht an, Fahrer waren unauffindbar, hatten schlichtweg keine Lust oder schliefen auf ihren Fahrersitzen. Ich sah aus dem Fenster und war mir sicher, garantiert besser zu wissen, wie welches Taxi jetzt wohin hätte zurücksetzen müssen. Doch schlussendlich schob uns das irre Rangierspiel zum Ausgang. Das Eintauchen in den Verkehr kam einer Befreiung gleich, endlich, endlich ging es los und es erinnerte mich – nicht damals, sondern jetzt im Krankenbett – daran, wie ich als Teenager tagelang vor einem wichtigen Schwimmwettkampf meine Trainingseinheiten in Jeans und Sweatshirt hatte absolvieren müssen. Wie ein vom Schiff Gefallener paddelte ich vollgesogen durch die Schleswiger Schwimmhalle. Bei den Landesmeisterschaften in Lübeck hatte ich dann wieder nur mein eng sitzendes Badehöschen an. Als ich zum Einhundert-Meter-Brust-Rennen, meiner Paradedisziplin, vom Startblock ins Wasser sprang, bekam ich beim Eintauchen vor lauter Stromlinienförmigkeit einen nassen Orgasmus. Nackt wie ein Fisch glitt ich mit kräftigen Zügen durchs Becken – es war, als ob mich das Wasser schieben würde – und stellte einen neuen Landesrekord auf. Die beiden Ereignisse waren räumlich und zeitlich maximal getrennt. Zwischen einer Schwimmhalle in Schleswig und einer Sandpiste im Senegal gibt es außer dem Anfangsbuchstaben S keine plausible Verbindung. Auf der Intensivstation in der Wiener Peripherie jedoch fanden sie in meinem lädierten Gehirn zusammen. Wie zwei Liebende, deren Bahnen sich nach vielen Jahren an einem
vorherbestimmten Ort treffen. Bewegungslos lag ich im Fadenkreuz der Erinnerung und spürte die Wesensverwandtschaft der beiden Szenen. Dieses Zurückgehalten- und dann Freigelassenwerden war das präzise Gegenteil der Vollbremsung, die mich durch den Schlaganfall ereilt hatte.
Wir durchfuhren weite Ebenen mit Lehmhüttendörfern und Baobab-Bäumen. Immer wieder mussten wir die Straße verlassen und auf Sandpisten ausweichen, in denen die Autos seitlich zu driften begannen. Sand wurde durch das zerlöcherte Bodenblech unseres Wagens ins Innere gewirbelt. Wir kauerten auf der Rückbank, um uns herum rieselte und staubte es. Auf Sophies Schoß sammelte sich gelber Sand, wurde schwerer und sackte samt Kleid zwischen ihre Schenkel. Fein wie Mehl überzog er unsere Arme und Beine. In meinen Sandalen ließ ich die heißen Körner durch die Zehen rieseln. Wir hielten an, stiegen aus, und während unser Fahrer mit einem Kehrblech das Auto leer schippte, spülten wir uns den knirschenden Sand aus den Mündern. Beide sahen wir so aus, als hätten wir Tage in der Wüste verbracht, und Sophie fragte mich: »Na, Lawrence, wie wäre es mit einem Schlückchen Wasser?« Ein Mysterium blieb, warum der Fahrer nicht eingesandet war. Im blütenweißen Gewand schaufelte er sein Auto leer. Die Straße wurde zunehmend schlechter, doch sobald es der Untergrund erlaubte, schwärmten die Autos aus und plötzlich fuhren bis zu fünf Rostlauben nebeneinanderher wie bei der Rallye Paris–Dakar. Querfeldein durch die Savanne zu brettern, war von anarchistischer Schönheit und gefiel uns. Wir erreichten eine Stadt, deren Name mir nicht einfiel. In der Dämmerung, in einem von Temperaturen nahe der vierzig Grad blutrot gegrillten Sonnenuntergang, suchten wir nach einem Hotel. Durch einen heftigen Sturm kam der Müll auf den Straßen in Bewegung. Plastiktüten, Folien in unterschiedlichsten Größen flogen herum, verfingen sich
an Masten, in Drähten, wurden vom Sturm an die Wände gepresst oder als Flaggen an Autoantennen geweht. Müllsäcke rollten umher, platzten auf und der Wind hetzte ihren Inhalt durch die engen Fluchten. Wir aßen in einem Restaurant Fisch mit Zitronen und Zwiebeln, tranken Bier der Marke La Gazelle,
das Etikett in wunderschönem Blau-Gelb, und kämpften uns untergehakt durch die Straßen zurück ins Hotel. Die Männer, die sich in windgeschützten Hauseingängen verbargen, wirkten auf mich wie narkotisiert. Waren es Betrunkene oder Schlafende? Ununterbrochen ertappte ich mich dabei, wie meine Wahrnehmung von Vorurteilen gelenkt wurde und mit der Realität kollidierte. Ich wollte nicht denken: Toll, wie lässig sich die Einheimischen bewegen, und doch faszinierte es mich über alle Maßen. Egal, ob es die vor Lebendigkeit sprühenden Kinder waren oder die grazilen Frauen, die wendige Schlankheit der jungen Männer oder die mit patriarchaler Eitelkeit vor sich hergetragenen bunten Wampen der Älteren. Endlich war es kühler geworden, doch die ganze Nacht über lärmten die – wie sie in Österreich genannt wurden – Sackerl entfesselt um die Häuserecken. Als wäre die Stadt mit ihren Abertausenden Widerhaken, Ecken und Drähten eine gigantische Falle, konstruiert, um den Müll aus dem Sturm zu fangen. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass im Wind schlagende Kunststofffetzen einen derartigen Lärm machen konnten. Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm ausgetobt, die Störenfriede waren leblos zu Boden gesunken und verstummt oder hingen wie abgeknallt von den Antennen. Wir wurden gegen unseren Willen von einem Mann in bunter Kluft durch die Stadt geführt. Ich sah lauter Dinge, die ich mir nie hätte vorstellen können: Auf einem Markt gab es Schneiderwerkstätten, in denen, wie in Regale einsortiert, Kinder im Schneidersitz auf unterschiedlichen Höhen kauerten und bunte Kleider nähten.
Zeitrafferschnell stachen sie die Nadeln in die zu fertigenden Teile, lachten dabei und quatschten durcheinander. Ein wuseliger, knallbunter, geschäftiger Mikrokosmos. Dass Kinderarbeit so märchenhaft daherkommen konnte, störte mich erst später. Überhaupt waren moralische Bewertungen und sinnliche Eindrücke zwei grundverschiedene Modi. Ununterbrochen sah ich Dinge, die mich begeisterten, die ich jedoch schon im nächsten Augenblick als tragisch oder verwerflich erkennen sollte. Ein Beispiel von vielen: die kackenden Kinder am Meer. Sobald die Wellen zurückschwappten, rannten Drei-, Vier-, Fünfjährige zum Meeressaum, hockten sich hin und kackten auf den nass funkelnden Sand. Sie hatten alle Durchfall, der mit der nächsten mächtigen Welle fortgespült wurde. Das Timing der kackenden Kinder war phänomenal. Sie wussten die Dünung exakt zu berechnen, wussten genau, wann sie losspurten mussten auf ihren prallen Puppenbeinchen und wie viel Zeit ihnen blieb, um in der Hocke ihr dünnflüssiges Geschäft zu verrichten. Johlend rannten sie vor der nächsten Schaumkrone davon. Zwischen ihnen landeten die bunten Pirogen, Fisch wurde entladen. Ich konnte den Blick nicht abwenden von dieser Szene. Der Kot der Kinder, die von den Booten springenden Fischer, die bunten Netze, die überall im Sand verfaulenden, in der Sonne stinkenden Fische und die wunderschönen, in bunte Stoffe gewickelten Frauen. Alles vereint in einem einzigen Wimmelbild. Es passten tausendmal mehr Eindrücke in jeden Bildausschnitt, als wir gewohnt waren, und Sophie und ich hielten uns fest an den Händen, um vor Reizüberflutung nicht aus dem Setting geschüttelt zu werden.