Die schlimmste Reise, die ich je gemacht hatte, war ein zweiwöchiger Aufenthalt auf Mallorca gewesen. Eines der wenigen Dinge, die ich über die Insel wusste, war, dass Jürgen Drews der König von Mallorca genannt wurde und dass sich Männer dort Eimer mit Bier auf den Kopf schnallten und es aus Schläuchen tranken. Zu Jürgen Drews hatte ich seit jeher eine Art Nähe verspürt, da er wie ich seine Jugend in Schleswig verbracht hatte. Er war der einzige Prominente, den die Stadt in ihren Annalen vorzuweisen hatte, und war sogar auf dieselbe Schule wie mein ältester Bruder gegangen. Ich hatte das immer für eine beachtliche Karriere gehalten: direkt aus Schleswig heraus zum König von Mallorca! Als ich zu einer Talkshow eingeladen wurde, unter deren Gästen sich auch Jürgen Drews befinden würde, war ich hocherfreut und gespannt, ob es eventuell gemeinsame Erinnerungen geben würde. Und tatsächlich kannte Jürgen Drews die Psychiatrie, in der ich aufgewachsen war, bestens. Sein Auftritt hat mich noch lange beschäftigt. Der sehr gebildete Interviewer rollte ihm den breitesten Teppich aus, der sich nur denken lässt. Verwies auf seine Fähigkeiten als Banjospieler. Wenn ich mich recht erinnere, war Jürgen Drews deutscher Meister im Banjospielen. Auch über seine Vergangenheit als Jazzmusiker wurde geredet: »So, lieber Jürgen Drews …« Der Interviewer
sah ihn bedeutungsvoll an. »Jetzt haben Sie die Möglichkeit, für uns zu spielen, was Sie mögen. Wir alle freuen uns, den anderen Jürgen Drews kennenzulernen. Das Multitalent, den Jazzmusiker. Bitte schön.« Ich war so wie alle im Publikum gespannt und rechnete mit dem noch nie Gehörten. Der König von Mallorca ein heimlicher Gitarrenvirtuose! Jürgen Drews nahm das Instrument, hielt kurz inne, plötzlich haute er in die Saiten und mit dem ersten Takt erkannten alle den Titel. »Ein Bett im Kornfeld, zwischen Blumen und Stroh …!« Seine Stimme klang schrecklich, in seinem eigenen Hit traf er kaum einen Ton. Das Publikum klatschte rhythmisch und der mit nussbraunen Locken von der Natur großzügig bedachte Interviewer sah konsterniert auf sein Rotweinglas. Wie konnte es nur sein, dass sich Jürgen Drews diese Chance hatte entgehen lassen? Warum zupfte er nicht geistesversunken eine kleine fingerfertige Weise in die Saiten? Nachdem er das Publikum aufgestachelt und sogar zum Gruppensingen animiert hatte, brach er ab und krächzte: »Mensch, ich hätte mich mal einsingen sollen!« Schleswig blieb also doch immer Schleswig und Jazzmusiker und Literaturnobelpreisträger kamen doch eher aus anderen Regionen.
Seit meiner damaligen Reise weiß ich, ich werde Mallorca niemals wieder betreten. Alles an dieser Insel ist leergeglotzt und zynisch. Meine ganze Mallorca-Reise war eine einzige Demütigung und es zerbrach dort eine von mir für alle diktatorisch beschlossene Utopie. Obwohl, wenn ich jetzt, Jahre später, meine Töchter nach Mallorca frage, sind sie begeistert und zählen mir lauter schöne Erinnerungen auf. Ich habe offenbar engmaschigere Siebe, die den ganzen Müll dieser Reise abgefischt haben. In einem Kleinbustaxi waren wir aufgebrochen, meine drei Kinder, Sophie und ich. Ich war euphorisch, alle vier vereint und bei mir zu haben. Der Anflug auf die Insel war spektakulär. Erst im letzten Augenblick
tauchte die Landebahn auf. Schon der Weg vom Flugzeug zur Autovermietung allerdings war desillusionierend. Inmitten von Tausenden Menschen ging es durch eine Shoppingmall der Scheußlichkeiten hindurch. Die Besucher schlurften in Shorts und Adiletten durch diesen Flughafen wie durch ihr Wohnzimmer. Es gab keinerlei freudige Erregtheit, an einem anderen Ort zu sein als zu Hause. Mehrere meiner Kollegen im Theater hatten mir von Mallorca vorgeschwärmt und die lässige Zeit gepriesen, die sie dort mit ihren Familien verbracht hatten. Sophie war von Anfang an gegen die Insel gewesen und hatte versucht, mir andere Orte schmackhaft zu machen. Aber ich war unbelehrbar gewesen. Wohl wissend um die Touristenmassen hatte ich ein wunderschönes Haus im entlegenen Norden angemietet. Eine uralte Ölpresse inmitten von knorrigen Olivenbäumen, viele davon über tausend Jahre alt. Die Aussicht während der Fahrt in die vertrocknete Landschaft hinein und auf die Berge zu hatte etwas kulissenhaft Verkommenes. Wie Objekte in einem verstaubten Diorama schien alles um uns herum nur der Verweis auf etwas zu sein, das es so schon lange nicht mehr gab. Die sehr steile Anfahrt zum Haus hinauf wäre für einen routinierten Autofahrer ein Klacks gewesen und gleichzeitig eine willkommene Möglichkeit, südländisch vor den Familienmitgliedern zu punkten. Solche Momente können als Omen ganze Urlaube bestimmen. Doch ich verkeilte mich im Steilstück. Mit kiesspuckenden Reifen versuchte ich, um die Kurve zu kommen, und würgte den Motor ab. Ich wusste nicht, wo die Handbremse war, und erst Sophie auf dem Beifahrersitz fand sie und drückte einen Knopf. Ich brauchte mehrere Versuche, um am Hang zu starten. Die tausend Jahre alten Olivenbäume ignorierten mich. Natürlich war das Haus schön, natürlich war der Pool mit Blick über das Tal toll und natürlich waren die Esel bezaubernd, und doch ging mir der Ort auf
die Nerven. Es war viel zu heiß und der Pool lauwarm. Es gab ein Haupthaus und ein Gästehaus, das aber nicht klimatisiert und von einem süßlichen Gestank erfüllt war, da dort Hunderte Jahre Brotfrüchte getrocknet worden waren. Der Strand war weit weg. Eine Vorsichtsmaßnahme meinerseits, den Touristen zu entkommen, aber aus Kinderperspektive natürlich Blödsinn. Keine halbe Stunde nach der Ankunft saß meine damals sechzehnjährige Tochter bereits auf einer kleinen Hügelkuppe und weinte herzzerreißend. Sie war frisch verliebt und wollte überall sein, nur nicht hier. Es macht mir eigentlich nichts, wenn mal jemand weint, aber wenn sie
weint, muss ich sofort mitweinen. Ich habe da keine väterliche Distanz, keine tröstenden Weisheiten zur Verfügung und ihr Kummer überträgt sich unmittelbar auf mich. Jeder einzelne der vierzehn Tage war nervenaufreibend und ein einziges Durchhalten und Zusammenreißen meinerseits. Ich fuhr in den Ort hinunter, um einzukaufen, und konnte im Einbahnstraßengewirr den Supermarkt nicht finden. Kein einziges Mal gelang es mir während der zwei Wochen, den direkten Weg zu nehmen. Das Navi schien von weit herzukommen, höchstwahrscheinlich aus China, hatte keine Ahnung, und fragen konnte ich auch niemanden. Es gab eine Kreuzung, an der ich mich tagtäglich für die falsche Abfahrt entschied. In meinem Kopf hatte es etwas Zwanghaftes, diesen Fehler wieder und wieder zu begehen. Noch Sekunden, bevor die Abfahrt kam, wusste ich, dass es die falsche war. Wenn ich sie dann aber auf mich zukommen sah, löste sich die Gewissheit auf und dann, zack, Blinker raus und rein in die Gassenhölle. Die Sonne brannte so intensiv, dass mein kleiner Sohn nur im Schattenkreis eines an den Poolrand geschobenen Schirmes baden konnte. Meine Töchter blieben im Haus. Die Ältere schrieb WhatsApp-Nachrichten nach Wien und die Kleine glotzte stundenlang Disney Channel auf meinem
Handy. Jede Aktion musste mit enormen Kräften angeschoben werden. Sophie half mir, so gut sie konnte, aber auch sie war enttäuscht, da die Reise so gar nicht ihren mediterranen Vorstellungen entsprach. Sie wollte auf der Piazza Fisch essen und Weißwein trinken, die Mädchen zu Hause Spaghetti Carbonara und Cola. Sophie wollte ans Meer, die Mädchen scheuten die lange Autofahrt. Der nächstgelegene Strand, der auf den Fotos nach einer beschaulichen Bucht ausgesehen hatte, entpuppte sich als ein todlangweiliges Rund aus glühend heißem Kies und das Wasser, abgeschirmt durch vorgelagerte Felsen, als leblos und pipiwarm. Die Mädchen wollten, dass ich das Auto runterkühle, Sophie wollte Fahrtwind im Haar. Nichts passte zusammen und mir platzte beim verzweifelten Versuch, die Verschlüsse des Kindersitzes zusammenzustecken, fast der Kopf. Sobald alle Kinder schliefen, legte auch ich mich ins Bett. Unser kleiner Sohn wachte ungewöhnlich früh auf, ich schob ihn im Kinderwagen den steilen Hang hinunter und wieder hoch. Ich hatte im Drei-Tage-Takt Gäste eingeladen. So wollte ich für Abwechslung sorgen. Nach vielem Hin und Her mit der Besitzerin hatte ich es geschafft, dass im Gästehaus eine Klimaanlage eingebaut wurde. Zwei Tage lang wurde gebohrt und der Staub senkte sich als Grauschleier auf das Wasser im Pool. Eine Schmiere aus Sonnenmilch und Gästehausstaub überzog uns.
Mein Bruder kam mit seiner Frau und einem seiner Söhne. Meine Tochter und er verschwanden im Gästehaus und sahen auf DVD
alle Staffeln von The Walking Dead
. Morgens kamen sie mit Husten und Schnupfen völlig verkühlt zum Frühstück, da die nagelneue Klimaanlage sie bei 14 Grad eingefroren hatte. Mein kleiner Sohn konnte blitzschnell krabbeln und die Marmortreppe wurde zu einer ständigen Gefahrenquelle. Innerhalb von fünf Minuten schob ich ihn dreimal vom Treppenabsatz fort, schmierte verbrannte Schultern mit
Sonnenschutz ein, suchte das Ladekabel, um den drohenden Handyabsturz und das Verschwinden von SpongeBob zu vermeiden, und telefonierte mit der Besitzerin, weil im Pool plötzlich grüne Algen schwammen.
Mein Bruder und ich wollten wandern gehen, aber die Hitze machte es unmöglich. Zwanzig Minuten Eselsteig und der Kollaps salutierte. Wir fuhren an einen fantastischen Strand auf der anderen Inselseite und hinter drei Reisebussen musste ich mörderische Serpentinen überstehen. Sobald es schön wurde, schlief ich ein, lag wie ein Besoffener unter Pinien und verpennte traumhafte Stunden. »Papa, wir wollen mal los.« »Wie? Hä? Was?« »Du hast die ganze Zeit geschlafen. Können wir los?« »Klar, ich geh nur kurz einmal schwimmen.« »Nein, bitte, wir wollen jetzt wirklich los. Alle haben Hunger.« »Ach so, klar.« Und dann wieder rein ins Auto und zwei Stunden zurück, während die Kotztüte kreiste. Nach meinem Bruder kam eine kanadische Freundin von Sophie und es wurde etwas besser, da ihre Coolness meine Töchter animierte. Sophie und ihre Freundin mixten sich Cocktails, lagen in Sommerkleidern gemeinsam in der Hängematte und sprachen so rasant Englisch, dass ihnen keiner mehr folgen konnte. Beider Wortwitz war von unermüdlicher Spielwut und wurde einzig von ausgelassenem Gelächter unterbrochen. Sophie genoss es, drei Tage lang Ferien so zu verbringen, wie sie sich das vorstellte. Ich beneidete sie. Aus Wien erreichten mich Mails der Mutter meiner Töchter. Wenn meine älteste Tochter unbedingt nach Hause wolle, dürfe ich sie nicht davon abhalten. Ich vergriff mich im Ton und bestand in harschen Worten auf ihr Bleiben. Ein Mailkrieg, bei dem es dann gleich wieder um alles ging und sämtliche Verletzungen aufbrachen, eskalierte. Im Minutentakt flogen Drohbriefe zwischen Wien und Traumdomizil hin und her. An einem Strand bekamen meine Tochter und ich einen krassen
Nervenzusammenbruch. Eine gute Stunde saßen wir nebeneinander, hielten uns an den Händen und weinten das Meer an. Schließlich gab ich nach: »Gut, wenn du willst, dann buche ich dir einen Flug zurück.« Für ein paar Stunden hatten sich alle Synapsen entladen und die Harmonie und die damit einhergehende Entspannung fühlten sich an, als hätte ich angstlösende, muskelentspannende Drogen genommen. Heroin soll angeblich so wirken und alle Panik in Wärme verwandeln.
Mein liebster Freund kam mit seiner Frau und ihren beiden Töchtern und fünf Minuten, nachdem sie angekommen waren, stürzte seine Frau aus der Hängematte, überschlug sich und hatte eine klaffende Platzwunde am Hinterkopf. Ergiebig pulste das Blut in die Haare. Mein Freund war für Ruhe bewahren und Handtuch drücken, doch mir schien die Wunde zu tief und ich beharrte darauf, zu einem Spital zu fahren. Und nun ereignete sich ein nicht zu toppender Aberwitz, der als Sinnbild für die gesamten zwei Malle-Wochen gelten kann. Wir fuhren in zwei Autos los, da ich, falls es länger dauern würde, zurück zu meinen Töchtern fahren wollte. Mein Freund mit seiner blutenden Frau im einen, ich voraus im anderen Wagen. Das Navi hatte die Ambulanz gefunden, langsam fuhr ich voraus, eine Ortskunde behauptend, die reine Anmaßung war. In einem Kreisverkehr verpasste ich die Abfahrt, fuhr zweimal im Kreis und verlor meinen Freund kurz aus den Augen, fand ihn dann aber wieder. Sein Navi schien einen anderen Weg vorzuschlagen. Er bog ab und ich folgte ihm. Wir durchfuhren den Stadtkern und ich wunderte mich, da ich die Ambulanz am anderen Ende der Stadt wähnte. Doch meine Versuche, den Supermarkt zu finden, hatten das Selbstvertrauen in meinen Orientierungssinn nachhaltig beschädigt. Was wusste ich schon, wo es langging. Wir verließen die Stadt, ich winkte
ihm zu, hoffte darauf, er würde mich im Rückspiegel sehen. Er winkte zurück, wir kamen auf die Schnellstraße. Da ich meiner mittleren Tochter das Handy dagelassen hatte, um auf diversen Apps zu spielen – Cookies backen und dekorieren oder Klamotten designen –, konnte ich ihn nicht anrufen, um zu fragen, wohin wir fuhren. Wahrscheinlich, so dachte ich, war die Blutung stärker geworden und deshalb ging es jetzt direkt nach Palma ins Krankenhaus. Nach circa fünfundzwanzig Minuten bogen wir von der Straße ab und es ging in ein Tal hinein. Ich versuchte durch Aufblenden und Handzeichen meinen Freund kurz zum Anhalten zu bewegen. Ich fuhr dicht auf und wurde zornig, da er immer schneller fuhr. Vielleicht war aber auch inzwischen einfach Eile geboten. Schon länger hatte ich den Kopf seiner Frau nicht mehr auf dem Beifahrersitz gesehen. War sie kollabiert? Geriet hier gerade alles außer Kontrolle? Er fuhr in eine Ausfahrt und einen schmalen Weg entlang. Hatte er die Adresse eines mallorquinischen Notarztes herausbekommen, der auch am Sonntag nähte? Er parkte auf der Auffahrt eines Anwesens und ich fuhr hinter ihm her durch das Tor hindurch. Kaum hatte der Wagen gehalten, flog die Tür auf und ein wildfremder Mann rannte auf mich zu. Ich verriegelte die Tür. Er hämmerte gegen die Scheibe und trat gegen die Tür. Wer war dieser Typ? Wo waren mein Freund und seine schwer verletzte Frau? Er drohte mir, kam so nah, dass die Scheibe beschlug, und ein Hund sprang am Auto hoch, kläffte Speichelfäden gegen das Glas. Ich setzte zurück, fuhr mit den Hinterreifen in irgendein Beet. Der Mann schrie und fuchtelte immer wilder, kam abermals nah an die Scheibe und fotografierte mich mit seinem Handy. Ich versuchte blitzschnell, ein unschuldiges Gesicht zu machen. Er fotografierte das Nummernschild. Ich sah, dass ich mehrere blühende Kakteen plattgefahren hatte, setzte
zurück und floh von seinem Grundstück. Ein Hoch auf die spanische Gastfreundschaft.
Ich ließ mich nach Hause navigieren. In der Einfahrt stand der Wagen meines Freundes. Auf der Rückfahrt war mir langsam gedämmert, dass ich sie in dem mehrfach umrundeten Kreisverkehr verloren haben musste. Über eine Stunde hatte ich ein wildfremdes Auto verfolgt, angeblinkt und angehupt. Ich betrat das Haus, es herrschte entspannte Ferienstimmung. Ohne mich schienen alle vollkommen zufrieden zu sein. Musik lief und es wurde gekocht. Alle Kinder spielten gemeinsam, marschierten krabbelnd wie die Elefantenarmee im Dschungelbuch über den Hof. Die Frau meines Freundes saß mit Kopfverband und Weinglas auf dem Balkon und las. Knallhart traf mich die Erkenntnis, dass das eigentliche Problem dieser ganzen Reise ich selbst war. Ich war der Unruhestifter. Der selbst ernannte Bademeister war höchstpersönlich dafür verantwortlich, dass hier alle ununterbrochen zu ertrinken drohten. Es mutete absurd an, aber egal, was wir auf meine Initiative hin unternahmen, es wurde durch Zwischenfälle vergällt. Der von mir initiierte Besuch in einem botanischen Garten endete mit dem Stich eines Rieseninsektes in den Oberschenkel meiner ältesten Tochter. Eine Quaddel schwoll auf Bierdeckelgröße an. Zu zweit schleppten wir meine Tochter durch den Park, ich hatte ernsthaft Sorge, dass sie ohnmächtig werden würde. Wir trafen auf einen Gärtner, mit Händen und Füßen versuchte ich ihm klarzumachen, dass wir Hilfe brauchten. Ich spielte sogar das Insekt vor, zeigte auf sein Hemd, da beide die gleiche Farbe hatten, was ihn zu kränken schien. Mit mehreren zornigen spanischen Ausrufen verscheuchte er uns.
Der Pool war so stark mit Chlor versetzt worden, dass jetzt zwar alle Algen eliminiert worden waren, aber auch alle Haare der Badenden sich in Gestrüpp verwandelten. Beide
Töchter weinten und mussten in einer Notaktion mit Haarspülung versorgt werden. Durch die Anspannung entstandene Missverständnisse stießen den Patchworkkarren weiter in den Dreck. Nach zwei Wochen war ich weder braun gebrannt noch erholt. Wie ein aus einer lichtlosen Zelle entwichener Strafgefangener schleppte ich mich ausgemergelt und blass dem Urlaubsende entgegen. Der Leihwagen hatte mehrere Dellen durch die Tritte des falschen Freundes davongetragen. Natürlich hatte ich das Geld für eine Vollkaskoversicherung gespart. Während der Übergabe lehnte ich mich unauffällig an die ramponierten Stellen und verdeckte mit meinem abgemagerten Körper die Beulen. Es war mein einziger Erfolg auf der gesamten Reise: eine Bescheißaktion bei Europcar. Das Ausmaß meiner Freude, dem Angestellten das beschädigte Auto untergejubelt zu haben, überraschte mich, während ich mich in meinem Krankenbett auf die Seite drehte. Eine diebische, kleinkarierte Freude war das gewesen, davongekommen zu sein.
Ich setzte mich auf die Bettkante und war ein wenig stolz, die dritte Nacht infolge Berge von Dunkelheit weggesponnen zu haben. War mir doch egal, ob das Stroh oder Gold war, Hauptsache, der Schlaf hatte einem weiteren Schlaganfall nicht die Zugbrücke heruntergelassen. Ich drückte mich in die Höhe und versuchte, meinen viel zu langen Körper auszuloten, mit demoralisierenden Trippelschritten tappte ich zum Klo. Anschließend zog ich mir meinen Bademantel an, verließ das Zimmer und zog mich an der Reling entlang durch den schwankenden Gang. Das Besucherzimmer war versperrt. Ich stellte mich auf ein Bein und hielt dem Ansturm von Fehlinformationen in meinem Gehirn stand. Der Boden bewegte sich und versuchte, mich durch unberechenbare Erdbebenstöße umzuschubsen. Doch ich war standhaft, wankte zwar gehörig, aber kippte nicht. Ich dachte an eine
kleine Szene aus Dantons Tod
. Zwei Bürger gehen über die Straße, plötzlich kann der eine nicht mehr weiter. »Was haben Sie denn?« – »Ach, nichts! Ihre Hand, Herr! Die Pfütze – so! Ich danke Ihnen. Kaum kam ich vorbei; das konnte gefährlich werden!« – »Sie fürchteten doch nicht?« – »Ja, die Erde ist eine dünne Kruste; ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. – Man muss mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen.«
Heute würde ich endlich in ein Einzelzimmer verlegt werden, dachte ich voller Vorfreude. Ich war schon auf dem Rückweg, als ich den Fahrstuhl passierte und beschloss, einen kleinen Ausflug zu machen. Ich betrachtete mich im Fahrstuhlspiegel. Ein unrasierter Kauz mit dunklen Augenringen und groteskem Outfit. Nun sah ich also tatsächlich genauso alt aus, wenn nicht sogar älter, wie ich war. Der Schlaganfall hatte mich vom Spielfeld der Junggebliebenen geschubst. Ich fuhr ins Erdgeschoss und lugte den Gang hoch und runter. Keine Menschenseele, alle Türen zu. Ich schlurfte auf meinen beidseitig gummierten Rutschesocken zum Flurende, fand einen Notausgang und stand im Freien. Der Boden war feucht, aber es war mir egal, es war frostig, aber ich hatte Lust zu frieren. Mich auf einer Mauer abstützend machte ich einige Schritte. Auf der anderen Seite sah ich eine Bank. Würde ich es überhaupt schaffen, freihändig die Straße zu überqueren? Ich konzentrierte mich, peilte das Reiseziel an, hob die Hände vom Mauerwerk und lief los. Ich driftete nach links ab, versuchte gegenzusteuern, aber es funktionierte nicht. Ein heimlicher Magnet zog mich links an der Bank vorbei. Ich stolperte über den Bordstein. Meine linke Hand war nicht schnell genug oben und ungebremst knallte ich in die nasskalte Wiese. Einarmig kämpfte ich mich auf die Knie. Der Pyjamastoff saugte die Nässe auf. Ich kam auf die Beine und lief erneut auf die Bank zu. Wieder knapp links vorbei. Der dritte Versuch
gelang und ich hatte das Objekt meiner Sehnsucht erfolgreich gekapert. Ich versuchte mich zu beruhigen und die Luft, nach der ich schnappte, auch wieder auszuatmen. Lange rieb ich mir das Gesicht: die Stirn, die Schläfen, die Augen und Wangenknochen, massierte alles, was weich war, was Fleisch war am Kopf. Ich spürte lehmige Krümel. Es war mir egal, ich knetete einfach weiter. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich vor mir im Licht der Laterne auf der Wiese einen kleinen Laubhaufen, der sich bewegte. Einzelne Blätter wurden nach innen gezogen. Eine ganze Weile ging das so. Da war jemand fleißig und kruschpelte sich ein Lager zurecht. Ein Tier streckte den Kopf aus dem Laub und ich war mir sicher, verrückt geworden zu sein. Ein Hamster. Ich hatte noch nie einen wilden Hamster gesehen. Er war wunderschön, hatte schwarze Knopfaugen und mümmelte mit seinen wuscheligen Pausbäckchen an einem Halm. Ich saß bewegungslos da, beobachtete ihn und konnte nicht glauben, was ich sah. Mein Gehirn musste sich in der Filmrolle geirrt haben. Hinter dem ersten Haufen, der keinen Meter von meinen durchweichten Rutschesocken entfernt war, entdeckte ich weitere Eingänge. Blätter ruckelten und verschwanden. Halb links der nächste Hamsterkopf. Was war hier eigentlich los? Das Ganze kam mir wie ein geniales, Pokémon-artiges Spiel vor, das Hamster ins Blickfeld kopierte. Immer mehr Nager streckten ihre Köpfchen aus den Blättern, plusterten ihre Halskrausen und sahen mich an. Ich zählte sie. Ich wurde von neun Hamstern beobachtet. Dagegen war Mein Freund Harvey
eine relativ überschaubare Angelegenheit. Ich zitterte vor Kälte und auf meiner Stirn spannte etwas, das sich beim Betasten als getrockneter Dreck entpuppte. Die Hamsterköpfe duckten sich und begannen nach kurzem Innehalten erneut mit ihrem Zupfen und Zerren. Waren die nicht viel zu spät dran mit dem Auspolstern ihrer Winterlager, fragte ich mich. Und wo sollten sie hier auf diesem Gelände die nötigen
Ähren finden, um ihre Kammern und Speicher zu füllen? Oder lebten Hamster inzwischen wie Ratten von Speiseresten und Aas? Ich hatte gesehen, was ich gesehen hatte, und doch wurde ich den Gedanken nicht los, dass es ein Hirngespinst gewesen sein musste. Eine wuschelige Aberration! Gab es nicht genau solche Handyspiele, in denen man so schnell wie möglich aus dem Erdreich herausschauenden Hamstern auf den Kopf hauen musste? Ich trat den Rückzug an, überquerte die Straße und landete links vom Eingang. Im Fahrstuhl rubbelte ich mir vor dem Spiegel die Schmutzkrusten von der Haut. Auf der Stroke brannte bereits Licht und die Frühstücksschwester sah mich erschrocken an: »Wo kommen Sie denn her? Sie dürfen die Station nicht einfach verlassen. Das muss ich melden. Sind Sie etwa gestürzt?« »Alles gut. Alles gut. Ich geh duschen.« »Graubrot, Weißbrot, Schwarzbrot, Semmel, Striezel?« »Egal.« »Egal gibt’s nicht!« »Ein Croissant, bitte.« Sie lachte genervt. »Gibt es nicht. Käse, Leberwurst, Geflügelwurst oder Marmelade!« »Ich nehme ein Croissant mit Orangenmarmelade und dazu ein gekochtes Ei, wachsweich, bitte.« Ich schloss mich im Bad ein, zog mich aus, setzte mich auf meinen Campinghocker unter den heißen Wasserfall und wärmte mich im Geprassel auf. Ich trocknete mich ab und entschied: genug der Maskerade. Ich nahm die Tasche aus dem Spind, die mir Sophie mitgebracht hatte, und zog mir meine eigenen Sachen an. Ich sah nach unten Richtung Hosenknopf. Super! Ich hatte sogar abgenommen. Zwischen Bund und Bauch zwei Finger breit unverbaute Luft. Ich klingelte nach der Schwester. »Ich wär so weit, nach unten umzuziehen.« Ohne etwas zu antworten, verschwand sie. Fünfundzwanzig Minuten später kam ein Pfleger und setzte mich in einen Rollstuhl. Zum Abschied winkte ich in die Runde. Der Sonnenbrillenfreak rührte sich nicht, die Lethargische verzog ebenfalls keine Miene und die Hirnblutung schlief. So richtig
nahegekommen waren wir uns nicht. Es ging mit dem Fahrstuhl hinab ins Erdgeschoss. Die Türen der mit drei oder vier Betten belegten Zimmer standen allesamt offen. Mein erster Eindruck: Vielen Patienten schien der Schlaganfall die Scham zertrümmert zu haben. Im Vorbeigeschobenwerden sah ich mehrere Männer mit weit geöffneten Schenkeln. Alle Weichteile in der Auslage. Aus hängenden Mundwinkeln führten glänzende Spuren zum Kinn hinab. Die Tür von Zimmer Nummer 24 wurde geöffnet, der Pfleger schob mich hinein. Es war ein schmaler, erstaunlich hoher Raum. »Das Bett funktioniert so wie oben. Wenn Sie was brauchen, klingeln Sie.« Er stellte meine Tasche auf ein Tischchen und half mir hinüber ins Bett. »Wollen Sie angezogen bleiben? Hier sind Pyjamas und Handtücher. Die Frau Doktor wird sicher bald nach Ihnen sehen.« »Danke.« Als der Pfleger das Zimmer verlassen hatte, beugte ich mich vor und schob den Vorhang beiseite. Der Blick ging ebenerdig auf die Straße hinaus, direkt am Fenster vorbei führte die behindertengerechte Rampe der Neurologischen Abteilung. Gegenüber stand ein Transporter, aus dem Säcke entladen und in einen Schacht geworfen wurden. Offensichtlich die Wäscherei. Es war genau zwei Wochen her, dass ich zu einer Veranstaltung nach Zürich eingeladen worden war. Sophie und ich waren gemeinsam geflogen und hatten begeistert das edle alteingesessene Hotel bezogen, das drei Nächte für mich gebucht worden war. Wir standen am französischen Balkon, sahen über die Stadt und aßen pistaziengrüne Luxemburgerli. Das Wasser des Limmat direkt vor dem Hotel war von glänzendem Schwarz. Die ganzen drei Tage über zog mich der Farbton magisch an. Träge wie Erdöl schwappte das Wasser an die Ufer. Es gab da eine Spannung, die mir gefiel, denn die Gediegenheit der Boutiquen, der nostalgische Charme des Zirkus am Ufer, die unter den Heizstrahlern trinkenden Touristen waren unvereinbar mit der
Bedrohlichkeit des dunklen Flusses. Nie hätte ich es in Zürich für möglich gehalten, dass ich nur zwei Wochen später mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert würde. Noch viel unglaublicher war es allerdings, dass mich das Einzelzimmer im Wiener Peripheriekrankenhaus zehnmal glücklicher machte als zuvor das Fünfsternezimmer in Zürich. Tatsächlich hatte mich noch nie ein Zimmer so glücklich gemacht wie das eben bezogene. Hätten mir die Veranstalter in Zürich ein solches Zimmer gegeben, hätte ich fassungslos gelacht und wäre auf die Barrikaden gegangen. »Das kann nicht Ihr Ernst sein!«, hätte ich an der Rezeption geschimpft. »Vor meinem Fenster stehen Leute und rauchen und gegenüber wird Wäsche verladen!« Doch jetzt wähnte ich mich im Himmel. Ich streckte mich lang auf dem Bett aus und schloss die Augen. So wie ich es mir seit Tagen ausgemalt hatte, blieb die Panikattacke aus und ich wusste: Hier werde ich schlafen können. In duftenden Kleinstdosen zog der Zigarettenrauch durch das gekippte Fenster, leises Plaudern war zu vernehmen. Ich dachte an das Züricher Zimmer mit seiner fantastischen Aussicht und an die beiden Damen, die einfach, ohne anzuklopfen, hereinspaziert waren, »Grüezi« gesagt und die Tellerchen mit Schokoladenvariationen neu bestückt hatten. Zum Abschied hatten sie das Bett aufgeschlagen und ein Gedicht auf jedes Kopfkissen gelegt. »Guets Nächtli!«
Ich stand auf, stützte mich ab und zog mich nackt aus. Dann nahm ich mir einen frischen Pyjama aus dem Schrank, schlüpfte ungeschickt, aber erfolgreich hinein, zog mir die Bettdecke bis unter das Kinn und schlief endlich ein. Selig und so zufrieden wie schon lange nicht mehr.