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Weltreise auf engem Raum
Noch während des Vormittags wurde ich zum MRT abgeholt. Diesmal ging es mit dem Rollstuhl hinein in einen Transporter. Ich bot an, zu Fuß zu gehen, aber die Pfleger mochten es gerne zügig und hatten wohl keine Lust auf Stützen und Unterhaken. Im fensterlosen Laderaum saß ich allein im Rollstuhl. Im Wartezimmer vor dem Untersuchungszimmer stand eine Reihe von fünf Betten. Eins vor dem anderen, wie die Waggons eines traurigen Zuges. In jedem Bett lag ein bewusstloser uralter Mensch. Die von Altersflecken übersäten Kopfhäute waren nur noch spärlich bewachsen. Die Haare der Frauen und Männer waren allesamt schütter und lagen als wirrer Flaum auf den Kissen. Todesflusen. Sollten sich in diesen Haaren noch ein paar letzte Tage verfangen? Dass ich nun das Schlusslicht in dieser Karawane sein sollte, erschütterte mich. Sie atmeten alle ganz sanft, waren sediert oder zufrieden und bereit, sich das Gehirn durchleuchten zu lassen. Einer nach dem anderen wurde hereingezogen, ich rollerte ein wenig vor und hinter mir wurden neue Betten angestellt. Später erfuhr ich von einer MTA , dass die Neurologin mir diesen Termin verschafft hatte, obwohl der gesamte Montag von der Geriatrie belegt worden war. Was, fragte ich mich, während ich in der Schlange wartete, würden die Untersuchungsergebnisse für die Greise und Greisinnen bedeuten? Und was würden die 3-D-Aufnahmen Neues über meinen Schlaganfall aus dem Dunkel des Hirnkastens ans Licht befördern? Lag hier noch jemand in der Schlange, der sich Hoffnung auf Genesung machen durfte? Oder war, wer hier wartete, bereits für den ultimativen Abflug eingecheckt? Während ich wartete, kam mir eine Begebenheit in den Sinn. Ich hatte vor der Sicherheitskontrolle am Wiener Flughafen gestanden. Eine junge Frau vor mir tippte ununterbrochen Nachrichten in ihr riesiges Smartphone. Schließlich konnte ich der Versuchung nicht länger widerstehen und blickte ihr über die Schulter. Ich las, was sie schrieb. In kleinen Portionen feuerte sie WhatsApp-Botschaften an verschiedene Empfänger ab. Es ging um allerlei gleichzeitig. »Sandy muss am Vormittag und am Nachmittag raus.« »Unter dem grünen Ordner muss das aber liegen.« »Henry macht nächste Woche eine ›Farbe des Geldes‹-Party. Wo bekommt ihr die Masken her?« Ihre taktilen Fertigkeiten waren beeindruckend. Eine Virtuosin der Kurzmitteilungen war sie, ihre Finger bewegten sich rasend schnell über das Display. Wir kamen der Sicherheitskontrolle immer näher. Sie nahm sich eine Plastikwanne, zog sich den Mantel aus und tippte und tippte. Sie räumte Kosmetika und ein iPad in die Wanne und schrieb: »Bin jetzt kurz nicht erreichbar! « Im letzten Augenblick – sie ging bereits auf den Körperscanner zu – legte sie das Handy in die Box auf dem Fließband. Mich erfreute die Absurdität der Situation. Bin jetzt kurz nicht erreichbar! Während der Sekunde, da sie mit erhobenen Armen im Scanner stand, sah sie tatsächlich restlos verloren, wie von der Außenwelt abgeschnitten und gänzlich uninformiert aus.
Ich war an der Reihe und wurde ins Untersuchungszimmer hineingeschoben. Eine letzte Flughafenimpression passte noch zwischen Tür und Angel. Vor der Abreise aus Zürich hatte ich mir minutenlang die Reisenden angesehen, die vor der Sicherheitskontrolle an einer eigens dafür hergerichteten Theke mit Mülleimern ihre diversen Flaschen leer tranken. An die fünfzig Menschen verschiedenster Nationalitäten standen dort und gluckerten die sogenannten Norgerl in sich hinein, als ginge es in die Wüste. Jedes Menschenalter, dachte ich damals am Flughafen, entwickelt neben den willentlich konstruierten Erscheinungen jede Menge unwillentliche, die aber eigentlich viel mehr über den zeitspezifischen Irrsinn erzählen als das Offensichtliche. Auch die masturbierende Bewegung, mit der Besitzer sündhaft teurer Espressomaschinen die Milchschaumdüsen reinigen und trocken wichsen, ist eine solche und eine echte Bereicherung im Bewegungsrepertoire. Gewisse reißerische Phänomene ermüdeten mich inzwischen mehr und mehr. Schönheitsoperationen für Doggen wie Lefzenkorrektur oder das Fettabsaugen bei Möpsen waren beispielsweise ganz klar krass, aber auch schal in ihrer Drastik. Erst kürzlich hatte mir ein Kollege unmittelbar vor der Vorstellung ein Video unter die Nase gehalten, in dem mit einer Minikreissäge eine große Schraubenmutter von einem monströs blau angeschwollenen Penis gesägt wurde. Ich hatte genug von diesem ganzen Scheiß. Vielleicht lag es am Alter, aber mich bewegten inzwischen weit mehr das erste Schneeglöckchen, das Klappern der Bambusstangen im botanischen Garten oder der Anblick einer Dame, die ihre zwei langhaarigen Windhunde bürstete, deren Fell in Büscheln über die Wiese geweht wurde.
Mit zwar gepolsterten, aber unnachgiebigen Stützen wurde mein Schädel fixiert. Ich bekam einen Kopfhörer auf. Über mein Gesicht stülpte sich eine Schweigen-der-Lämmer- artige Maske und rastete ein. Eine letzte Schraube fixierte mein Kinn. »Haben Sie Platzangst?«, fragte mich eine weibliche Stimme. »Eigentlich nicht.« »Sie bekommen einen Knopf, den können Sie jederzeit drücken und wir brechen die Untersuchung ab.« »Okay.« »Die Untersuchung wird circa dreißig Minuten dauern. Wir werden Ihnen ein Kontrastmittel spritzen, da wird Ihnen dann kurz warm. Es wird allerdings laut. Wollen Sie Musik?« »Gerne.« Ich hörte schnelle Beats und ein dünnes Stimmchen. »Könnte ich einen anderen Sender haben?« »Was möchten Sie?« »Ö1.« »Gerne. Ich werde Ihnen dann genau sagen, wann Sie einatmen und wie lange Sie die Luft anhalten sollen.« »Okay.« »Sind Sie der Herr Meyerhoff, von dem ich annehme, dass Sie es sind?« Da ich nicht nicken konnte, grunzte ich. Zu dramatisch gespannter Cellomusik fuhr ich in die Röhre und ihre Worte kamen nun plötzlich aus dem Kopfhörer. Sie klang entspannter und eigenartig vertraulich. »Ich habe Sie neulich im Theater gesehen. Großartig. So viel Text. Wie kann man sich das nur alles merken?« Manche Menschen haben wirklich ein Gespür für den Moment. Einen Schauspieler genau in dem Augenblick, da er wegen eines Hirnunfalles in ein MRT geschoben wird, für mnemotechnische Meisterleistungen zu loben, deutet auf enormes Fingerspitzengefühl hin. Die nächsten Minuten boten alles, was man von einer Untersuchung im Jahre 2018 nach Christi Geburt erwarten kann. Das Cellokonzert, ich tippte auf Bartók, wurde von schreienden Impulsen und hämmernden Schlägen bearbeitet. Die Sounds der Magnetresonanz waren eine genau durchkomponierte Zersetzung der klassischen Musik. In die Klanginstallation hineingesprochen immer wieder die Anweisungen der MTA : »Einatmen.« »Luft anhalten.« »Ausatmen.« Ich versuchte, durch gedankliche Ablenkungsmanöver der sich heranpirschenden Platzangst zu entgehen. Weite Fluren und Wiesen wären hilfreich gewesen, doch ich dachte unwillkürlich an die vierzehn thailändischen Jungen, die durch überflutete Gänge tauchen mussten. Schließlich der sanft gesprochene Hinweis: »Wir spritzen jetzt das Kontrastmittel.« Warum eigentlich wir?, fragte ich mich. War das eine Drohung? Sollte das bedeuten: Wir sind mehr als du! Das Orchester schwoll und schwang, die Maschine feuerte knackige Quietscher, klingelte Sturm und kurz wurde es an der Kathetereinstichstelle eiskalt. Dann ergoss sich flüssige Hitze in meinen Körper. Ich bog vor Überraschung den Rücken durch. »Bitte nicht bewegen!« Meine Knochen wurden umspült von Wärme, schmolzen, lösten sich auf. Minutenlang klang es, als würde jemand die immer gleiche Saite eines elektronischen Basses zupfen, dann so, als würde auf einem U-Boot Bombenalarm durch die eisernen Gänge schrillen. Das Medizinische lappte hier gewaltig ins Futuristische, dachte ich, während ich aus der weißen Kunststoffröhre wieder herausfuhr. In wenigen Jahren würden Orgasmen, Entertainment und Operationen zu Gesamtkunstwerken verschmelzen. »Neulich hatte ich eine Rückenoperation. Mir ist es dreimal gekommen. Die Sänger waren fantastisch!«
Auf der Rückfahrt im Transporter gab es einen kleinen Zwischenfall, nichts Dramatisches, aber doch befremdlich. Ich hatte plötzlich am linken Handballen ein wenig Scheiße. Woher, war mir ein Rätsel. Reflexartig versuchte ich, die Hand an der Innenwand des Wagens abzuwischen. Doch da ich nach wie vor massive Schwierigkeiten mit der Koordination hatte, knallte die Hand erst gegen das Metall und dann gegen meinen rechten Oberarm. Es begann zu stinken. Ich stand auf, konnte mich auf der Ladefläche nur schwer ausbalancieren und eine Kurve schubste mich zurück in den Rollstuhl. Da, wo mich mein linker Arm getroffen hatte, sah ich auf dem Stoff eine braune Bremsspur. Ich versuchte, einen maximalen Abstand zwischen mir und der tauben, befleckten Hand herzustellen. Doch sie wischte sich abermals an mir ab. Mich überkam die Befürchtung, ich selbst könne womöglich der Verursacher des Stuhlganges gewesen sein. Vielleicht hatte ja mein Gehirnschlag eine gewisse hygienische Lockerheit zur Folge gehabt. Ich hoffte, im Reifenprofil des Rollstuhls etwas zu finden, doch die Herkunft des Kotes blieb mir schleierhaft. Wie war die Erbse aus Scheiße an meine Hand gekommen? Ich bekam eine Ekelattacke. Sobald die Rückklappe geöffnet wurde, rief ich: »Der Rollstuhl muss gereinigt werden!«, erhob mich wie ein durch ein Wunder Geheilter und driftete ab durch die Mitte. Es war mir schon zur Gewohnheit geworden, den durch den Schlaganfall verursachten Linksdrall durch winzige richtungskorrigierende Zwischenschritte auszugleichen. Ich zog mich aus, knüllte das Schlafgewand zusammen und warf es auf den Gang hinaus. So ein paar Verrücktheiten kannst du dir hier schon erlauben, sagte ich mir. Dann ging ich duschen und seifte mich mehrmals ein. Erst nach mehreren Durchgängen und anschließendem Beschnüffeln der Hand verschwand kurzzeitig der Gestank. Den ganzen restlichen Tag hindurch hatte ich den Kotgeruch als Phantomduft jedoch immer wieder in der Nase. Für einen psychisch Instabilen, wurde mir klar, wäre das eine höchst gefährliche Situation und womöglich der Ursprung eines lebenslangen Ticks oder Zwangs. Ich spürte es regelrecht, wie das rational zwar als ekelhaft, aber auch banal einzuordnende Faktum, ein erbsengroßes Fäkalienkügelchen an der Hand vorzufinden, hinüberwollte ins Irrationale, ins Wahnhafte. Ich sah auf mein Handy. Schon bald würde Sophie mit unserem Sohn kommen. Zig Mails, WhatsApp-Nachrichten und SMS warteten darauf, gelesen zu werden. Ich sinnierte ein wenig über die Dynamik, mit der sich Ereignisse verbreiten, wie sich, gleich einem Kettenbrief, der Schock vervielfältigt. Mir fehlte die Kraft, die Schlaganfallbilder, die die Diagnose allerorts evoziert hatte, zu relativieren. Etliche mir nahestehende Menschen stellten sich mich als mental ausgeknipst und gelähmt vor. War es meine Aufgabe, in alle Richtungen »Entwarnung!« zu morsen? Ich wollte mich viel lieber hinter der Drastik verstecken und noch ein wenig ausruhen. Aber meine Mutter musste ich anrufen. Wir hatten schon viel zu lange nichts mehr voneinander gehört. Ich fuhr das Kopfteil in die Höhe. Was sollte ich ihr nur sagen? Ich beschloss, es von ihrem Zustand abhängig zu machen. Sie hatte, nachdem vor vielen Jahren mein Vater gestorben war, einen neuen Mann kennengelernt. Nach zehn gemeinsamen Jahren war auch er gestorben. »Ich habe jetzt zwei Männer gepflegt und begraben«, hatte sie mir gesagt, »jetzt langt es.« Doch dann hatte sie sich wieder verliebt und war so glücklich wie nie zuvor. Mit ihrem neuen Freund, der ein paar Jahre jünger ist als sie, ist sie permanent unterwegs. Kein Monat vergeht, da sie nicht irgendwo hinfliegen, und wenn ich sie anrufe, kann es passieren, dass ich sie zu Hause wähne und sie sagt: »Wie schön, dass du anrufst, wir sitzen beim Whiskey und gucken über Bilbao.« Oder wie kürzlich: »Mama, warum bist du so außer Atem?« »Der Sand ist so tief.« »Welcher Sand?« »Wir stapfen gerade runter zum See Genezareth.« »Wie, seid ihr schon in Israel?« »Klar! Seit Sonntag.« »Oh, ich dachte, das ist erst im Februar.« »Ach, mein lieber Sohn, im Februar sind wir doch in Amsterdam.« Ich beneidete sie um ihr Leben. Sie reisten, besuchten Museen, arbeiteten stundenlang im Garten. Kurz nach ihrem achtzigsten Geburtstag, der meine Mutter ähnlich geschockt hatte wie mich mein fünfzigster, hatte sie eine neue Herzklappe bekommen. Die Operation war gut verlaufen und schon zwei Wochen später waren sie und ihr Freund nach Petersburg aufgebrochen. Doch jetzt gab es Probleme und sie musste tageweise in der Klinik sein. Sie haderte mit ihrem Alter und empfand es als Zumutung für ihren Freund, dass er nun mit einer Achtzigjährigen liiert war. »Ich wäre so unendlich gerne zehn Jahre jünger«, hatte sie mir am Telefon anvertraut und sie schien kurz davor, zu weinen. »Noch einmal siebzig sein, das wäre herrlich.«
Ich wählte ihre Nummer. »Meyerhoff.« »Hallo, Mama, ich bin’s.« « Oh, wie schön. Mein lieber Sohn. Wie geht es dir?« »Gut.« Ich hatte es gesagt, ohne darüber nachzudenken. Und es stimmte. »Und wie geht es dir?« »Auch gut. Die neuen Medikamente vertrage ich immer besser. Nur der Blutdruck geht einfach nicht runter.« »Das ist aber nicht gut.« »Wir dachten erst, das Gerät ist kaputt. Über 200. Doch in der Praxis haben die das auch gemessen. Aber heute geht’s.« »Musst du wieder ins Krankenhaus?« »Ja, nächste Woche. München müssen wir leider absagen. Aber wir hoffen, dass Ischia klappt.« »Seid ihr in Schleswig oder auf dem Land?« »Wir schuften, kann ich dir sagen. Haben noch die letzten Rosen geschnitten. Im Dezember! Viel zu spät. Ich hab Heidesand gebacken. Bisschen dunkel geworden.« »Ich mag sie dunkel.« Mit jedem ihrer gut gelaunten Sätze schwand die Möglichkeit, ihr von mir zu berichten, da ich froh war, dass es ihr gut ging, und ich sie nicht beunruhigen wollte. »Bist du allein draußen?« »Oh nein, mein Bernhard ist auch da. Wir wollen noch die Lichterkette in den Ahorn hängen und ich trau mich nicht auf die Leiter.« »Gott sei Dank.« »Und was machst du gerade?« »Ich? Ich mach gerade Pause.« »Was?«, rief meine Mutter. Und ich sagte sehr leise: »Das heißt: Wie bitte?« »Was? Du musst lauter sprechen, ich hab meine Hörgeräte nicht drin.« »Ich mach gerade Pause.« »Das ist gut, mein lieber Sohn. Sind alle wohlauf?« »Ja, Mama, geht allen sehr gut.« Erst kürzlich hatte ich mir bei einem Besuch bei meiner Mutter ihre Hörgeräte ausgeborgt und in die Ohren geschoben. Über eine schmucke kleine Fernbedienung konnte man die Empfindlichkeit hochpegeln. Ich saß mit meiner Mutter und ihrem Freund am Tisch und plötzlich war jedes leiseste Knistern und Knacken ein akustisches Erlebnis. Ich hörte, wie die Schuhe über den Teppich rieben, wie jeder, bevor er sprach, schluckte und Atem holte, wie die Zungen in den Mündern Spuckebläschen platzen ließen, ich hörte mein eigenes Herz schlagen und den norddeutschen Wind so nah, als würden wir nicht hinter doppelverglasten Fenstern sitzen. Die Hintergrundgeräusche traten in den Vordergrund, und wenn jemand sprach, klang es, als würde die Stimme durch ein Megafon verstärkt. Besonders die hohen Frequenzen intensivierten sich. Wie ein Hund schreckte ich zusammen, wenn meine Mutter die Messerschneide über den Teller zog. Es war, als hätte ich direkt auf der Membran des Lebens Platz genommen. Ich war enorm angetan von diesem Effekt. Wie einfach es war, die Welt durch die Schärfung eines Sinns völlig zu verändern. Meine Töchter hatten mich immer gerne gefragt: Hättest du lieber keine Ohren, keine Augen oder keine Nase? Ich hatte stets, ohne lange nachzudenken, zuerst auf das Riechen, dann das Hören und zuletzt auf das Sehen verzichtet. Mit den Hörgeräten meiner Mutter im Ohr würde diese Sinnesentscheidung nicht mehr so leicht fallen. Meine Mutter hatte mich damals mehrfach auffordern müssen, ihr die Hörgeräte wieder zurückzugeben.
»So, Mama! Ich muss jetzt mal weitermachen.« »Ich denk, du machst Pause?« »Mach ich auch.« »Na, dann mach mal schön weiter Pause.« »Auf bald, liebste Mutter.« »Grüße alle. Ich pack dieses Jahr nur kleine Pakete. Aber Heidesand kommt sicher.« »Das ist lieb. Ich kann ihn schon riechen.« »Wen kannst du riechen?« Ich musste lachen und sprach deutlicher. »Den Heidesand!« »Bisschen verbrannt dieses Jahr.« »So soll es sein.« »Bis dann.« »Bis dann, liebste Mutter.« Ich drückte aufs Display und beendete das Gespräch. Ein paar Tage später sollten mir genau die Medikamente verschrieben werden, die auch meiner Mutter nach ihrer Herzoperation verschrieben worden waren. Auch ich durfte nun in den pharmazeutischen Dreiklang, den die halbe westliche Welt sang, mit einstimmen und Blutdrucksenker, Cholesterinsenker und Blutverdünner schlucken. Nach einem erneut antimediterranen Mittagessen – Selchknödel mit Kraut – trieb mich meine Kackeparanoia ein weiteres Mal unter die Dusche. Ich drehte mich so, dass die fallenden Tropfen meinen linken Arm trafen. Lange saß ich vornübergebeugt auf dem Hocker. Ich war total erledigt vom Hoffnungschöpfen. Mein Kopf brummte. Das Epizentrum dieses Geräusches wanderte in meinem Schädel herum, wurde lauter und leiser. Das Dauerdröhnen arbeitete eindeutig gegen mich, hatte etwas Unversöhnliches, ja Tyrannisches. Würde das für immer so bleiben? Der Fuß gehorchte einigermaßen, der Arm hingegen hatte nur vereinzelt lichte Momente. Die Körperwahrnehmung der linken Hälfte war insgesamt ramponiert. In den Gelenken standen die Knochen nicht richtig zueinander. Haut und Muskeln fühlten sich zäh, ja teigig an. Mit Rechts massierte ich mir den nassen Kopf. Ich sollte, dachte ich, eine Patientenverfügung machen. Auch ein Testament wäre nicht schlecht. Ein erstes Testament hatte ich mit sieben gemacht. Meine Mutter hatte es aufgehoben. Ich sah den zahlreich mit Kruzifixen verzierten Zettel genau vor mir:
Im falle mines Todes bitte nich weihnen. Ich besieze nichts. Mein Zimmer soll kein Büro werden.
Das war’s! So wollte der Legastheniker aus der Welt gehen. Keine Ahnung, warum ich damals eine feindliche Übernahme meines Kinderzimmers durch ein Büro fürchtete. Der frische Pyjama linderte meine Resignation ein wenig. Ich nahm das Smartphone, um mein Gehirn mit der Memory-Spiel-App meines Sohnes auf die Probe zu stellen. Nashorn, Tiger, Wal und Eisbär. Das sind ja lauter vom Aussterben bedrohte Tiere, wurde mir klar. Memory spielen hieß demnach, einen apokalyptischen Blick in die Zukunft zu werfen. Von jeder Art waren nur noch zwei Exemplare übrig und diese wurden dann auch noch vorsätzlich voneinander getrennt und mit anderen von der Roten Liste vermischt. Das letzte männliche nördliche Breitmaulnashorn hätte unter solch strengen Regeln nicht mehr mitspielen dürfen, es war erst vor Kurzem auf die vorderen Knie gesunken, umgekippt und eingeschläfert worden. Der Leiter des Wildreservates hatte es mit den ergreifenden, aber auch hirnrissigen Worten gerühmt: »Er war ein großartiger Botschafter seiner Art.« Schön, wenn in einem knappen Statement der Wahnsinn der ganzen Welt aufscheint. Gleichzeitig Botschafter und der Letzte seiner Art zu sein, schien mir eine kräftezehrende Angelegenheit.