Ich dachte an einen Onkel von mir, einen Biologen, der mich mit einem Begriff beschenkt hatte, der mir ein ultimativer Schlüssel zu allen möglichen Phänomenen geworden war. Bei der sogenannten Kontrastbetonung handelt es sich um ein ökologisches Prinzip, das durch interspezifische Konkurrenz erklärt wird. Wenn eine Art irgendwo in ihrem Verbreitungsgebiet mit einer anderen, ähnlichen konkurriert, verstärken beide die Unterschiede. Diese können morphologisch, aber auch physiologisch sein. Bestimmte Käfer sind nirgendwo in ihrem Verbreitungsgebiet so bunt wie im direkten Kontakt mit einer anderen, verwandten Käferart. Im Hinterland unter ihresgleichen kann sich die Farbpalette gelassener geben. Ich fand die Anwendbarkeit der Kontrastbetonung auf alle möglichen Lebensbereiche äußerst amüsant und erhellend. Nie wird meine Mutter so sehr zum überzeugten Fleischfresser, wie wenn ihre veganen Enkel zum Osteressen anreisen. Dann gibt es zum Mittagessen Lammbraten und schon der Frühstückstisch biegt sich unter Aufschnitt und Fleischsalat. Nirgendwo ist das bayerische Idiom stärker als direkt an der österreichischen Grenze. Und nie benehmen sich Schauspieler exzentrischer, als wenn sie mit anderen Schauspielern zusammen in einem Raum sind.
Ich nahm mein Handy und schrieb meinem Onkel eine Mail.
»Lieber biologisch hochbegabter Onkel –
Gibt es irgendetwas, das Du über Hamster weißt, was sonst niemand oder kaum jemand weiß? Birgt der Hamster ein Geheimnis? Kann er etwas, das ich nicht kann? Überleg doch mal, nur ganz kurz – mit liebsten Grüßen
Joachim«
Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»Mein Lieber, fast alles, was ich über Hamster weiß, kann man immer auch nachlesen – wie alles, was zoologisches Allgemeingut ist und was ich nicht selber erforscht habe. Hamster: Man sieht sie fast nie, also schätze Dich glücklich, wenn Du einen getroffen hast! Wenn man sie trifft, sind sie meistens wüst aggressiv und können auch wirksam beißen. Aggressiv sind sie auch untereinander (wie viele unterirdisch und grabend lebende Tiere, denn die Nahrung ist dort zeitweilig knapp). Ich hab mal Hamster im Burgenland vor Apetlon Neusiedler See im Vorüberfahren getroffen: Einer war auf einer Straße platt gefahren worden und ein zweiter nagte an der Leiche. Als ich eine halbe Stunde später zurückfuhr, lagen zwei platt gefahren auf der Straße. Wie die meisten Vegetarier ist er also bisschen inkonsequent. Das Fell ist ausgesprochen dekorativ, auch als Innenfutter in Mänteln. Vor paar Jahren waren wir in Trondheim in Norwegen und stöberten in einem Antikladen, der fast mehr ein Kramladen war. Da gab es so einen Mantel auf einem Bügel. Der hätte mir sogar gepasst und war günstig. Aber Heidi meinte, so was könne und würde ich nie anziehen, und also hab ich jetzt keinen. Ob ein Hamster (also der europäische Hamster!) was kann, was Du nicht kannst? Vielleicht alleine leben? Die sind notorische Einzelgänger und mögen einander nur kurz zur Paarung und auch die
Mütter schmeißen die Jungen aus dem Bau, sobald die selber fressen. Das ist anders als bei Dir.
Liebe Grüße
Dein Onkel«
Wo waren nur die Ränder des Denkens hin? Ich lag gemütlich im Zentrum einer Kugel und um mich herum wölbte sich ein Kosmos an Möglichkeiten. Da ich während der Duschorgie kurz an den übergriffigen Hamam-Strolch gedacht hatte, kamen ganz zahm andere Begebenheiten jener Türkeireise zu mir ans Bett und leisteten mir Gesellschaft. Auch Erinnerungen, dachte ich, haben ein unterschiedliches Naturell. Es gibt die vorlauten, die koketten und dreisten genauso wie die verklemmten, verhärmten und schüchternen. Mein Freund und ich waren ohne jegliche Ahnung mit nichts weiter als leichten Jacken ins anatolische Hochland aufgebrochen. Es war die erste Reise nach meinem einjährigen Amerika-Aufenthalt. Schlafsäcke hatten wir keine, dafür leichte Nesselbezüge. Selbst diese schienen uns überflüssig, da alle Nächte der bisherigen Reise viel zu warm gewesen waren. Am Abend bauten wir in einem einsamen, kargen Tal unser Zelt auf. In der Ferne sahen wir monumentale Pfeiler einer Gondelbahn. Den ganzen Tag über waren wir bergauf gestiegen, ohne zu wissen, auf welche Höhe wir geraten waren. In dem Augenblick, da die Sonne hinter dem Gipfelgrat verschwand, wurde es schlagartig kalt. Wir sammelten Brennbares für ein Feuer. Doch außer Papiermüll und einigen Lumpen, die wir in einem trockenen Bachlauf fanden, gab es nur das hellgelbe Gras, das die gesamte Ebene bedeckte. Das Feuer brannte kurz auf, qualmte fürchterlich und erlosch wieder. Es wurde stockdunkel und immer kälter. Erst lachten wir noch, doch mit jeder Minute wurde es abstruser, bei den eisigen
Temperaturen im vom Wind gebeutelten Zelt auszuharren. Noch nie hatte ich so gefroren. Nirgendwo im Stoff der wenigen Schichten, die wir trugen, konnte sich auch nur die geringste Wärme verstecken. Wir klapperten mit den Zähnen, im Schein der Taschenlampe strömten weiße Schwaden aus unseren Mündern. Wir beschlossen, dass es unumgänglich war, sich zu bewegen, wickelten uns in den Nesselstoff und krochen aus dem Zelt. Die Reste des Feuers waren längst verweht worden. Wir drehten uns aus dem Wind und begannen, auf der Stelle zu hüpfen. Nach zweihundert Sprüngen hatten sich die Körper aus der eisigen Umklammerung befreit. Im Zelt aber kam die Kälte gnadenlos zurück. Es war wie ein Diebstahl. Die Kälte klaute uns wie ein Trickdieb die mühsam erhüpfte Wärme aus den Taschen und kurz darauf lagen wir wieder tiefgefroren und blank auf dem steinharten Boden. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als alle zwanzig Minuten herumzuspringen und die Arme um unsere Körper zu schlagen. Wir legten uns enger zusammen. Dann ganz eng. Nie sprachen wir später über dieses Umklammern in Not. Selbst die Zeit schien ein- und festgefroren an dieser Stelle im anatolischen Hochland. Irgendwann dämmerte es und wir hüpften bibbernd vor dem Zelt auf und ab, als über einen Bergkamm ein Sonnenstrahl fiel. Wie aus einem mit glühend geschmolzenem Stahl gefüllten Bottich ergoss sich das goldene Licht ins Tal. Wir sahen das Präriegras aufleuchten und begriffen, dass unser Zelt noch lange im Schatten liegen würde. Als wären wir Verdurstende, die auf eine Oase zustolpern, liefen wir auf den golden beschienenen Flecken zu. Da lachten wir schon wieder. Wir erreichten die Sonnenstrahlen und legten uns in eine windgeschützte Mulde. Es war, als würde die eiskalte Haut in der Wärme zerfließen. Nach und nach schälten wir uns aus unserer Kleidung. Die zerknüllten Nesselbezüge lagen
da wie abgestreifte Fetzen geschlüpfter Rieseninsekten. Immer weiter zogen wir uns aus. Die Sonne stieg schnell und schließlich lagen wir da in Unterhosen und saugten Licht und Wärme in uns auf. Von der verkrampften Frostleiche zum entspannten Sonnenanbeter in nur einer halben Stunde. Und dann wurde es uns auch schon zu warm und wir liefen in Unterhosen, jeder mit einem zusammengerafften Bündel vor dem Bauch, zurück zum Zelt. Auf einem entfernten Hügel entdeckten wir bewegungslos mehrere Hirten, die in unsere Richtung sahen. Selbst die Ziegen schienen reglos herüberzuglotzen. Wir packten zusammen und wanderten weiter. Kamen tatsächlich an Skiliften vorbei und stiegen in ein Tal voller Haselnussbäume und Melonenfelder. Hin und wieder hörte man ein lautes Knacken, das wir erst nicht zuordnen konnten, dann aber begriffen wir, dass es die überreifen Melonen waren, die in der Sonne aufbrachen und einen überhitzten Brei aus vergorenem Fruchtfleisch und Kernen erbrachen. Wir waren vollkommen ausgehungert und wurden am Rand eines Dorfes in ein Haus eingeladen. Dort gab es eine in Scheiben geschnittene, scharf angebratene Wurst zusammen mit zehn Spiegeleiern und gezupfter Petersilie. Unter den Blicken der Familie aßen wir gierig und wischten die Pfanne mit Fladenbrot aus. Vom Baby mit verschmiertem Gesicht bis zur zahnlosen Alten mit Kopftuch waren alle Generationen zahlreich vertreten. Ein Mädchen war anders. Sie sah uns anders an. Saß anders. Sie trug den gleichen gewickelten Rock wie die anderen Mädchen und Frauen, die gleiche gestrickte Jacke, und dennoch passte sie nicht ins Bild. Sie sah uns beim Essen zu und lächelte. Einer der Männer erzählte uns, dass er bei Opel gearbeitet hatte. Wir berichteten von unserer Nacht in den Bergen und wiesen in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Er übersetzte und die gesamte Versammlung
brach in ein irrsinniges Gelächter aus. Einige spielten Frieren und Skifahren nach. »Kann schneien«, sagte der Opel-Arbeiter. Wir sollten im Ehebett der Eltern schlafen. Es war unmöglich, zu begreifen, wer wie in welchem Verhältnis zueinanderstand. Wer war wessen Mutter, wer wessen Bruder, wer wessen Sohn oder Tochter? Wir wurden mit Baklava und Wassermelonen gefüttert. Unsere honigverklebten Hände durften wir nicht selbst waschen. Vor jede Hand kniete sich eine Frau und säuberte die Finger einzeln mit einem heißen Tuch. Wir bekamen aus einer Plastikflasche Rosenwasser über die Hände gespritzt. Der Duft war betörend und künstlich. Dann wurden wir in ein Zimmer gebracht. Der Ventilator hing nicht von der Decke, sondern an der Wand, als wäre ein Propellerflugzeug ins Haus gebrochen. Auf dem blanken Betonfußboden stand ein Bett mit türkisblau abgesteppter Decke und vielen Kissen. Unter großem Gejohle wurden die zwei Betthälften auseinandergezogen und an die Wände gerückt. Wir fragten, wo denn die Eltern schlafen würden. »Auf dem Boden«, war die Antwort. Wir wollten uns weigern, aber unsere Rucksäcke wurden ins Zimmer gebracht und die Betten frisch bezogen. Die Eltern waren diejenigen, die wir bis dahin für die Großeltern gehalten hatten. Es kam uns unzumutbar vor, die beiden ehrwürdigen alten Herrschaften aus ihrem Bett zu vertreiben. »Nein, nein, das ist eine Ehre.« Alles in diesem Haus schien das tief in uns verankerte Empfinden für Maßvolles zu sprengen. Die Anzahl der Menschen im Zimmer, die Aufmerksamkeit, die uns zuteilwurde, die Stärke des Tees, die Lautstärke der Gesänge aus dem Radio, die Süße der Nachspeisen, die Anzahl der Kerne in den Melonen, die Kitschigkeit der Hinterglasbilder von Wasserfällen, der stinkende Müll hinter dem Haus mit Ziegenschädel, an dem die Katzen knabberten, ein Berg von in der Sonne vergorenen
Pfirsichen. Alles war zu viel und jeder Sinn musste sich ordentlich strecken, um nicht abgehängt zu werden. Als wir später in einem Kübel unsere Gesichter wuschen, kam das Mädchen, das anders war, zu uns und sprach uns auf Berlinerisch an. Sie war so alt wie wir damals. Zwanzig. Sie drückte sich an die Hauswand, um von innen durchs Fenster nicht gesehen zu werden, und erzählte uns, dass sie im Wedding geboren sei. Als sie von zu Hause ausziehen wollte, habe man sie hierher verfrachtet und ihr den Pass geklaut. »Jetzt bin ik schon zwei Jahre hier, bin verheiratet, hab ’n Kind und glotz von früh bis spät in die Pampa.« Wir wussten nicht recht, wie wir reagieren sollten. Sie erzählte schwungvoll und frohgemut, obwohl die Geschichte schrecklich war. Kurz vor dem Abitur habe sie gestanden. Wir nickten ihr zu, trockneten uns die Gesichter, verabschiedeten uns und gingen zu Bett. Der Ventilatorwind kam von rechts und blätterte die Seiten unserer Bücher um. Vom Tee aufgeputscht lagen wir lange so da und lasen. Am nächsten Morgen war die junge Frau nicht mehr im Haus und wir sahen sie auch während der nächsten zwei Tage nicht mehr, die wir noch im Dorf blieben. Wir fragten den Opel-Arbeiter nach ihr. Er lachte und sagte, sie sei mit ihrem Kind zu Verwandten gefahren. Eine Hochzeit. Noch oft während der Reise redeten wir von ihr und erst nach und nach wurde uns klar, dass ihre Erzählung am Waschtrog ein Appell an uns gewesen war, ihr zu helfen. Sie hatte auf uns vertraut, ihre Worte richtig zu deuten, ohne sich dabei drastisch ausdrücken zu müssen. Aber was hätten wir tun können? Wir trugen das als Schatten noch lange mit uns herum.
Ich nahm mein Handy vom Nachttisch und las die Nachrichten. Sophie hatte mir geschrieben:
»Ich bin immer so unendlich froh, von Dir zu hören – mein Liebster Du! Ich mach mir immer noch solche Sorgen um
Dich. Den ganzen Tag tue ich nur so, als würde ich arbeiten, und denke nur an Dich. Was für ein Schock. Ich vermisse Dich so sehr, mein über alles geliebter Mensch. Hoffe, Du findest Schlaf, und die Übelkeit lässt nach. Umarme Dich vorsichtig. Hier: das schreibt Dir der süße Kleine:
Hadftrrt ggghhkoomiy Wir vermissen Dich. Lizb:446 und ibgllpü«
Morgen würde ein anstrengender Tag werden, denn morgen würden die Therapien beginnen. In mir wucherten und verwilderten Geschichten. Ich kam mit dem Hegen und Pflegen kaum noch nach. Was ich erst mutwillig angestoßen hatte, um mich zu beruhigen und abzulenken, schien außer Kontrolle zu geraten.
Einer meiner Lieblingsmomente in Filmen war seit jeher gewesen, wenn zum ersten Mal das Zuhause eines schizophrenen Professors oder eines irren Serienmörders gezeigt wurde. Hunderte Zeitungsausschnitte kleben an den Wänden, dazu Fotos oder Zahlenreihen. Fäden sind mit unzähligen Stecknadeln kreuz und quer durch den Raum gespannt, versinnbildlichen das Myzel einer entglittenen Logik, in der alles mit allem zusammenhängt, alles mit allem Verbindungen eingeht und kombiniert werden kann. Von den einzeln trocken getupften Fingern in der Türkei vor über dreißig Jahren zu den von Saugbarben im Haus des Meeres
in Wien abgeknabberten Hornhautresten meiner im Wasser hängenden Hände brauchte es nur ein wenig Elektrizität im Gewebe. Ich könnte mein ganzes Leben anhand meiner Hände erzählen, dachte ich, und sogar anhand von Fischen, anhand der Räume, in denen ich geschlafen habe, oder anhand aller je verlorenen Gegenstände. Ich war stets ein versierter Verliervirtuose gewesen und konnte Kinokarten auf dem Weg vom Kassenhäuschen zum Kartenabreißer in Luft auflösen. Das
Unglaublichste, was ich je verloren hatte, war ein nigelnagelneuer Thorens-Plattenspieler gewesen. Ich hatte ihn auf dem Autodach liegen lassen und in einer schwungvoll genommenen Kurve musste er hinuntergeglitten sein. Zu Hause angekommen öffnete ich den Kofferraum und begriff einfach nicht, was los war. Ich suchte die Leere, die sich vor mir auftat, nach dem großen Karton ab. Ich machte mehrmals: Hä? Sah auf der Rückbank nach. Hä? Dann wieder im Kofferraum. Häää? Durch gedankliche Rekonstruktion dämmerte mir dann allerdings, wann ich den Karton zuletzt gesehen hatte. Auf dem Autodach. Ich war zu beschämt, um mich auf die Suche nach ihm zu machen. Die Boxen hatte ich am Tag zuvor gekauft. Die nächsten zwei Jahre lugten ihre kupfernen Kontakte hinter einem Schränkchen hervor. Alle paar Wochen erschrak ich, da mich die Enden beim Einräumen am Handrücken streiften.
Alles kann ins Zentrum rücken, dachte ich, oder ins Nichts abdriften. Die Hände meines Vaters sind den Händen meiner Kinder nie begegnet. Mein verlorener Bruder hat keinen einzigen seiner von 5,4 Dioptrien getrübten Blicke mit den ebenfalls von 5,4 Dioptrien getrübten Blicken meiner älteren Tochter gewechselt. Mein Sohn wundert sich nicht darüber, dass seine Schwestern nicht bei ihm wohnen. Ich dachte an die Wochen zurück, da ich zwischen Verliebtheit und Verantwortung zu zerbrechen drohte. Ich besuchte einen Therapeuten zu einer, wie es hieß: Intervention. Morgens um sieben hatte ich einen Termin und der freundliche Mann begann die Sitzung mit der Frage: »Wollen Sie sich umbringen?« »Oh Gott, nein«, war meine spontane Antwort. »Das ist gut. Dann können wir uns Zeit nehmen.« Nur durch diese eine Frage ging die Tür der Möglichkeiten wieder einen Spalt auf. Bis heute bin ich dem Mann dankbar für diese krasse Eröffnung. Natürlich wollte ich leben. Was denn sonst? So wie
jetzt auch. Für heute war es genug, ich fasste mir noch dreimal an der Nase vorbei und knipste beim ersten Versuch das Licht aus.