Max

 

Jaakko ging es drei Tage später wenigstens so weit besser, dass ich es verantworten konnte, ihn mit Mom allein zu lassen. Wir mussten dringend wieder nach Berlin. Unsere Clubtour startete am Montag und wir mussten unser Equipment zusammenpacken und im Tourbus verstauen. Eine Crew hatten wir nicht, nur Sticks Großvater Opa Samuel, den alle nur Paps nannten. Bei der Gelegenheit erfuhr ich auch, dass Sticks in Wirklichkeit nach seinem Großvater benannt worden war. Er hieß ebenfalls Samuel, nur nannte ihn niemand so, weil er sein ganzes Leben nichts anders gemacht hatte, als auf Drums einzuschlagen. Opa Samuel war Busfahrer gewesen und mittlerweile im Ruhestand. Er würde uns auf der Tour begleiten, den Bus fahren und auch sonst für uns sorgen.

Der Bus war bereits in die Jahre gekommen, doch er würde seinen Zweck erfüllen. Im vorderen Bereich direkt hinter Paps’ Platz befanden sich acht Sitzplätze, vier auf jeder Seite mit einem Tisch in der Mitte. Dahinter hatten ein kleines Badezimmer sowie eine Toilette und eine winzige Einbauküche Platz. Der hintere Bereich war ganz den Schlafkabinen gewidmet. Sechs jeweils einen Meter zwanzig breite Schlafplätze, wo wir unsere Nächte verbringen würden. Ich wollte mir zwar eine Kabine mit Ben teilen, doch Paps hatte darauf bestanden, dass jeder eine eigene hatte, um auf Tour genug Schlaf zu bekommen. Paps hatte bereits einige Touren hinter sich, er wusste also, wovon er sprach. Am Montagmorgen um acht Uhr stand ich mit gepackten Koffern vor meiner Wohnung in Berlin Prenzlauer Berg auf der Straße, Jacky neben mir, und wartete auf den Bus. Unsere erste Station würde Leipzig sein, wo wir heute Abend ein kleines Clubkonzert im Hellraiser geben würden. In den nächsten Tagen ging es dann nach Dresden, Coburg und Bamberg. Nürnberg war eine größere Nummer, wir durften in der Rockfabrik auftreten und dann nach München. Zwischen den einzelnen Auftritten lag jeweils ein Tag. Wir würden in der Nacht fahren, vormittags die Location aufbauen und abends abrocken. Jaakko fand das Programm zu straff, doch die Fahrten dauerten nur etwa zwei Stunden. Genug Zeit, um auf dem Parkplatz vor dem Veranstaltungsort die Nacht zu verbringen. Wir hatten es genau durchgeplant.

»Oh, ich werde dich so vermissen.« Jacky fiel mir in die Arme und drückte mir einen liebevollen Kuss auf. »Was soll ich nur ohne dich machen?«

Ich erwiderte ihre Umarmung. »Na lernen zum Beispiel?« Wir hatten die Tour so gelegt, dass sie in die Semesterferien fiel. Es war Anfang März.

Jacky schob schmollend die Unterlippe vor. »Toll, wirklich toll. Ich wäre viel lieber mit dir durch die Clubs gezogen, stattdessen ist dein Plan so vollgestopft, dass du noch nicht mal Zeit zum Telefonieren haben wirst.« Mir passte der Tourplan auch nicht, aber Sad but true sollte erfolgreich sein. Wir mussten auftreten und das ging nun mal nur in der Zeit zwischen den Semestern.

»Wir sehen uns im Backstage in München, ja? Dann nehmen wir uns den Nachmittag und shoppen und Abends rocken wir.« Jackys Zugticket war bereits gebucht. Wir würden uns in knapp zwei Wochen wiedersehen, wenn wir an einem Freitagabend in der Backstage Halle auftreten durften. Das allein schon war der Wahnsinn. Ich freute mich jedoch auf jedes einzelne Konzert. Endlich spielen, spielen und nochmals spielen! Der Winter war so hart gewesen, doch jetzt würde es wieder losgehen. Letztes Jahr hatten wir die Berliner Rock- und Metalszene aufgemischt, aber in diesem Jahr würden wir in Deutschland die Clubrunde machen und für das nächste Jahr nahmen wir Europa aufs Korn und irgendwann … irgendwann würde vielleicht auch ein Label auf uns aufmerksam werden. Das war der Plan. Doch damit sie überhaupt eine Chance hatten, uns zu sehen, mussten wir Konzerte geben. Manchmal trieben sich die Scouts der Labels in kleineren Clubs herum. Genau auf so einen Glücksfall hofften wir. Der Hellraiser heute Abend war jedenfalls ausgebucht. Was vielleicht auch mit mir zu tun haben könnte. Man erinnerte sich noch gut an die Kleine bei Shootingstar.

Jacky schmollte ein wenig. Ihr wäre es am liebsten gewesen, uns zu begleiten, aber der Platz im Tourbus war begrenzt und sich in jeder Stadt ein Hotelzimmer zu nehmen, ließ ihr Geldbeutel nicht zu. Außerdem hatte sie über die Semesterferien einen Job als Kellnerin angenommen, um unsere Haushaltskasse etwas aufzubessern. Ich konnte gerade kaum dazu beitragen. Meine Ersparnisse und das wenige Geld, was wir für die Auftritte bekamen, flossen fast vollständig in neues Equipment. Wir brauchten so dringend einen Sponsor, einen Plattenvertrag oder lukrative Gigs. Die Tour war der erste Schritt in die richtige Richtung. »Hey, nicht schmollen. Wir sehen uns bald und ich verspreche, täglich anzurufen und dir alles zu erzählen.«

Jacky seufzte. »Braucht ihr nicht vielleicht doch noch eine Backgroundsängerin?« Wir studierten beide Musikwissenschaften, konnten beide hervorragend singen und Jackys Harmonien würden sicher fantastisch mit mir und Ben klingen, aber das altbekannte Problem blieb.

»Wir können dich nicht bezahlen, Süße.« Ich schloss sie in die Arme. Der altersschwache Bus in kräftigem Kobaltblau bog mit Paps auf dem Fahrersitz gerade um die Ecke. »Meine Mitfahrgelegenheit kommt.« Jacky folgte meinem Blick.

»Ach, ich werde dich vermissen. Irgendwann müssen wir noch mal sowas wie Shootingstar machen, nur ohne …«

»… ohne Shootingstar«, vollendete ich ihren Satz. Wir lachten gemeinsam.

»Ja, nie wieder Casting-Show.« Jacky kicherte. Ich zog sie nochmal an mich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Jacky erwiderte meine Umarmung.

»Wir sehen uns.« Der Bus hielt am Straßenrand. »Und tu nichts, was ich nicht auch tun würde«, fügte sie mit einem Blick auf Ben und einem Augenzwinkern hinzu.

Lachend boxte ich ihr gegen die Schulter. »Das würdest du garantiert nicht tun! Und außerdem ist Privatsphäre im Bus ein Fremdwort.« Jacky erwiderte mein Lachen.

»Ja, aber ihr geht auf Tour. Das ist so dermaßen abgefahren, dass ich vor Neid ganz grün bin.«

Ben stieg aus und begrüßte uns mit einem Grinsen. Sein schwarzes Haar glänzte feucht. Sein weißes T-Shirt trug er kombiniert mit einer ausgewaschenen Jeans. Breite Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem dünnen Baumwollstoff ab. So grinsend, wie er in der Tür stand, sah er aus, als würde er Werbung für einen Herrenduft machen. Jackys Augen wurden groß. Mit offenem Mund starrte sie ihn an.

»Kann es sein, dass du über Nacht noch ein paar Muskeln zugelegt hast?«

Ben lachte und zeigte seine strahlend weißen Zähne. »So schnell wachsen die nun auch wieder nicht.«

Ich beugte mich zu Jacky. »Das ist das weiße Shirt. Er kauft es extra eine Nummer zu klein, damit es ordentlich spannt.« Jacky rollte mit den Augen.

»Die Ladies stehn drauf!«, verteidigte sich Ben. »Und ich will eine Menge kreischende weibliche Fans im Publikum sehen.«

»Und an mir übst du schon mal, oder was?« Jacky fuhr sich durchs Haar. »Ben, Ben, Ben …«, tadelte sie ihn liebevoll. Ben streckte seine muskulösen Unterarme vor.

»Ich kann nichts dafür, ich tue das nur für Max.« Er warf mir einen zärtlichen Blick zu. Die Nacht hatten wir getrennt verbracht. Die kurze Auszeit bei meinen Eltern hatte gut getan, aber erheblich unserem Zeitplan geschadet. Wir hatten noch so viel zu tun gehabt, dass wir uns lieber auf die zu erledigenden Aufgaben konzentrierten, statt aufeinander. Immerhin würden wir die nächsten Wochen gemeinsam verbringen, praktisch jede Minute aufeinanderhocken.

»Ja, klar. Alles fürs Showbizz, was?« Jacky zog mich erneut in ihre Arme. »Mach’s gut, Süße, und ruf an, ja?«

Ich nickte brav. »Ja, Mom.« Jacky lachte, gab mir noch einen Kuss auf die Wange und schob mich dann zu Ben, der mittlerweile aus dem Bus ausgestiegen war und meine Sachen in den dafür vorgesehenen Stauraum gepackt hatte. Dann zog er mich an sich, schloss mich in seine Arme und schenkte mir einen liebevollen Blick. Ich kuschelte mich eng an ihn und sah auf. Er war wirklich verdammt groß. »Bereit für unsere erste Tour?«

Mein Herz klopfte vor Aufregung. Jetzt ging es endlich los. Unsere erste eigene Tour. Diesmal waren wir nicht nur ein Gast-Akt, waren nicht von meinem Dad auf einer großen Bühne angekündigt worden und durften zwei Songs spielen. Nein, diesmal waren wir der Hauptakt. Wir füllten eine kleine Halle, die Fans waren wegen uns da.

Sad but true ging auf Tour. Und es würde großartig werden.

 

*

 

Gute zwei Stunden später waren wir auch schon in Leipzig. Wir machten eine kurze Pause bei einem Fastfoodimbiss. Nach Burgern und Pommes wollte ich mir ein wenig die Füße vertreten, außerdem musste ich einen kurzen Anruf machen. Jaakkos Termin bereitete mir Kopfzerbrechen. Am liebsten wäre ich überhaupt nicht gefahren. Wir hatten Tourstart und mein Dad war im Krankenhaus. Das fühlte sich so falsch, so verkehrt. Eigentlich sollte ich bei ihm sein und stattdessen … Ich würgte den dicken Klos in meinem Hals herunter und drückte die Schnellwahltaste für Mom. Egal, wo sich Jaakko befand, sie würde bei ihm sein. Sie ging jedenfalls ans Handy, er nicht. Seit ich mit Jesse geredet hatte, war sein Telefon ausgeschaltet. Während ich darauf wartete, dass Mom abnahm, musste ich an die vielen Glückwünsche denken, die auf Moonstucks Pressemitteilung hin für Jaakko eingegangen waren. Man sei traurig, dass er die Band verlassen habe, wünsche ihm aber alles Gute für die Zukunft. Ich habe diese Worte in so viele Variationen gelesen, dass ich sie überhaupt nicht mehr zusammenbekam. Die Leute hatten doch keine Ahnung. Wenn sie wüssten, was wirklich vorgefallen war, würden sich die Fans in zwei Lager spalten und sich gegenseitig mit Schlamm bewerfen. Alles online. Das waren natürlich nur Vermutungen, aber ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie eine öffentliche Trennung tatsächlich vonstattengehen könnte. Zwischen Jesse und Jaakko herrschte Funkstille – und das war auch erst mal besser so.

»Hey, Liebling. Seid ihr schon in Leipzig?«, begrüßte mich Mom.

»Ja, gerade Mittagessen. Wir fahren gleich zum Hellraiser und treffen Moses.« Kurz nach unserem Wacken-Auftritt mit Moonstuck war Kristopher Moses auf uns zugekommen und hatte uns seine Visitenkarte gegeben. Er schien mit Jaakko auf einer Wellenlänge zu liegen, legte uns damals ans Herz, uns erst einmal auf unsere Ausbildung zu konzentrieren, und die Auftritte weitestgehend auf das Berliner Umland zu beschränken. Diese kleine Tour war ihm zu verdanken. Er hatte sie organisiert und würde uns auch bei jedem Konzert begleiten. »Wie geht’s Dad? Gibt es schon eine Diagnose?«

Mom atmete tief durch. »Er war gleich heute Morgen im MRT und jetzt ist er noch beim Arzt drin. Sie vermuten eine Arthrose in den Lendenwirbeln. Was auch immer.« Sie seufzte. »Ich hoffe, er bekommt vernünftige Schmerzmittel. Den Weg über den Parkplatz hat er kaum geschafft. Die Schmerzen machen ihm richtig zu schaffen.« Ich hätte zu Hause bleiben müssen, ich hätte für meine Eltern da sein müssen. Doch stattdessen tingelte ich durch die Republik.

»Mom, wenn ich irgendetwas tun kann …«

»Scht, Schatz, nicht. Wir haben darüber geredet. Jaakko will, dass du diese Tour machst. Ich kümmere mich um ihn. Du wirst sehen, in ein paar Wochen geht es ihm wieder besser und dann kommen wir auch zu eurem letzten Konzert. So wie wir es abgesprochen haben. Er freut sich schon drauf, euch rocken zu sehen. Also geh deinen Weg, zieh das durch. Du kannst das.«

Hinter meiner Stirn begann es zu pochen. Automatisch legte ich Daumen und Zeigefinger um die Nasenwurzel und versuchte, den Schmerz weg zu massieren. Vergeblich. »Aber wenn du mich brauchst …«

»Nein, Max. Ich schaffe das. Ich bin stärker als früher, weißt du. Und es ist ja nicht so, dass Jaakko …« Sie brach ab. »Es geht ihm gut, okay?« Sie sprach die Worte nicht laut aus, aber ich wusste genau, was sie meinte. Nicht so wie bei Dennis. Mein anderer Vater, der Mann, der mich aufgezogen hatte, war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben. Jaakko hatte keinen Krebs, er würde nicht sterben. Er hatte die Band rechtzeitig hinter sich gelassen. Jaakko war vernünftig. Das ich nicht lachte. Wenn man das Wort Unvernunft im Lexikon nachschlug, würde daneben ein Bild meines Vaters prangen. Vernunft kam in seinem Wortschatz eigentlich nicht vor – wenn es um ihn selbst ging. Nicht bei mir oder Mom. Für uns hatte er einen ganz genauen Plan. Aber bei sich selbst versagte er auf ganzer Linie. Für gewöhnlich. Nur schien es diesmal tatsächlich anders zu sein. Er hatte seine Gesundheit über die Band gestellt. Wow. Und das meinte ich nicht sarkastisch, sondern ehrlich. Wow.

»Ja, alles klar, Mom. Rufst du mich an, wenn sich etwas Neues ergibt?«

»Natürlich. Sie spritzen ihm gerade ein Schmerzmittel in den Rücken. Sie wollen ihn mit einer Art Wärmetherapie und Physio behandeln. Wenn das nicht anschlägt, wird es wohl zu einer OP kommen. Aber das kann dauern. Max, der Arzt kommt gerade raus, ich muss zu ihm. Wir reden später, ja?«

Ich lächelte. »Ja, Mom. Bis später. Drück mir die Daumen.«

»Jederzeit. Hab dich lieb.«

»Ich dich auch!« Und damit legte sie auf. Nachdenklich nahm ich das Telefon vom Ohr und blickte auf das Display. Arthrose. Das hörte sich nicht so an, als ob Jaakko schnell wieder auf die Beine käme, eher als wäre das keine Krankheit, sondern ein dauerhafter Zustand. Erschöpft setzte ich mich auf eine Bank am Parkplatz und ließ meinen Blick über die abgestellten Fahrzeuge schweifen, bis mir allmählich das Ausmaß der Diagnose bewusst wurde. Jaakko würde spielen können, keine Frage. Aber nicht heute, nicht morgen, frühstens in ein paar Monaten. Das würde ihm überhaupt nicht gefallen. Es war ja nicht so, als ob er irgendeine Wahl hatte. Hoffentlich machte er keine Dummheiten.

Während meine Gedanken zu Hause waren, schlenderte Ben über den sich langsam in der Märzsonne erwärmenden Parkplatz auf mich zu, beugte sich über mich und stahl mir mit seiner breiten Brust die Sonne. Zärtlich hauchte er mir einen Kuss auf die Lippen. »Du siehst aus, als wärst du ganz weit weg.« Er rieb seine Nase an meiner Wange.

Ich umarmte ihn und legte meinen Kopf an seine Schulter. »War ich auch. Hab grad mit Mom telefoniert.« Ben setzte sich neben mich, nahm meine Beine und zog sie über seine Oberschenkel. Er legte einen Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. So ineinander verschlungen blieben wir einige Augenblicke sitzen.

»Wie geht es ihm?«, fragte er nach einer ganzen Weile einträchtigen Schweigens. Ich hätte ewig so neben ihm sitzen und nachdenken können. Mit Ben fühlte sich Stille nicht unangenehm an, nein, neben ihm die Gedanken fliegen zu lassen war genau richtig. Ich erzählte ihm kurz den Inhalt des Telefonats mit meiner Mom.

»Klingt nicht gut.«

»Nein, überhaupt nicht.« Ich schwieg.

»Du würdest viel lieber bei deinen Eltern sein, statt hier mit uns zu touren«, stellte er schlicht fest und zog mich enger an sich, als ob ich davonfliegen würde, wenn er mich losließe.

»Ja, würde ich. Aber das ist unsere erste Tour. Wir haben so verdammt hart dafür gearbeitet, auftreten zu können. Moses hat sich richtig ins Zeug gelegt. Nein, auch wenn ich lieber zu Hause sein würde, werde ich nicht kneifen. Was könnte ich schon groß machen? Die beiden sind erwachsen und Mom sagt, sie kriegt das hin. Ich habe nur Angst, dass Jaakko irgendeine Dummheit macht, weil er seinen Entschluss, die Band zu verlassen, bereuen könnte. Musik ist sein Leben …«

Ben verschränkte seine Finger mit den meinen. »Und er wird wieder Musik machen können. Nur muss er sich jetzt erst mal um seine Gesundheit kümmern. Das hat Vorrang. Und wir müssen weiter.« Ben deutete mit dem Kinn über den Parkplatz, wo die Jungs und Paps sich um unseren alten Bus versammelt hatten und sich miteinander unterhielten.

»Du solltest mich eigentlich holen, oder?«, mutmaßte ich die schwungvollen Handbewegungen Jaspers in unsere Richtung. Ben murmelte eine Zustimmung.

»Und warum hocken wir dann hier?«

»Weil ich mit dir alleine sein wollte.«

»Dir gehen die anderen jetzt schon auf die Nerven?«

»Nein, mir geht nur auf die Nerven, dass ich dich mit ihnen teilen muss.« Ich lachte leise, reckte mich ihm entgegen und spitzte die Lippen.

»Es gibt keinen Grund, eifersüchtig zu sein.«

»Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig.« Ben legte seine große Hand auf meinen Rücken und vergrub die andere in meinen schwarzen Locken, zog mich an sich.

»Doch, bist du …« Ben erstickte meinen Protest mit seinen Lippen, zog mich auf sich und schob seine Zunge in meinen Mund. Für einen kurzen Augenblick vergaß ich all meine Sorgen, spürte nur noch Ben unter mir, seine starken Arme, die mich hielten, mir Kraft gaben und mich in einen Kokon aus Stärke und Wärme hüllten. Mit Ben an meiner Seite würde ich die nächsten Wochen durchstehen.

»Hey, ihr Turteltauben!«, hörte ich Jasper rufen. Ich lächelte an Bens Lippen, streichelte seinen sprießenden Dreitagebart, den er unbedingt behalten wollte, um besonderen Eindruck auf die weiblichen Fans zu machen.

»Ich glaube, wir sollten uns mal wieder Richtung Tourbus begeben.« Ben knabberte an meiner Unterlippe.

»Mh, nur noch einen Augenblick.«

 

*

 

Eine gute Stunde später entdeckten wir Moses im Hellraiser. »Max! Ben!« Er winkte uns zu sich. Ben und ich waren erst einmal in den Club gegangen, während die Jungs mit Paps‘ Unterstützung das Equipment ausluden, wollten wir herausfinden, wo wir aufbauen sollten.

»Moses!« Ben winkte ihm zu, nahm meine Hand und ging mit mir zu ihm. Moses strahlte. Seine langen Beine steckten in einer dunklen Jeans und über seinem Bauch spannte ein Amorphis-T-Shirt. Sein Haar trug er etwas länger und hatte es im Nacken zu einem zweckmäßigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Mir kam es so vor, als wollte er einen auf Metal machen, hatte aber leider nicht die Veranlagung dazu. Seine Schläfen dünnten bereits aus und das Blond seines Haars war auch nicht mehr taufrisch. Na ja, es konnte nicht jeder mit so einer Pracht gesegnet sein wie mein Vater. Er hatte trotz seiner fünfundfünfzig immer noch dickes, hellblondes Haar, obwohl ich glaubte, am Wochenende hier und da eine graue Strähne entdeckt zu haben.

Moses griff nach Bens Hand und schüttelte sie kräftig. Dann zog er mich in eine herzliche Umarmung. »Ich hab das mit deinen Dad gehört.« Er löste sich wieder von mir. »Wie geht’s ihm?« Sein Blick vermittelte mir, dass er eine Ahnung haben könnte, was tatsächlich hinter den Kulissen von Moonstuck abgelaufen war. Auf jeden Fall glaubte er nicht an die einvernehmliche Trennung, die die Band in ihrer Pressemitteilung suggerierte.

»Gut.« Ich konnte Moses unmöglich die Wahrheit sagen. Ja, klar, er war unser Manager, trotzdem kannten wir ihn noch nicht so gut, dass ich ihm Privates erzählen würde. Moses hob eine Augenbraue.

»Wirklich? Ich hab da ganz anderes gehört. Dass er gesundheitlich nicht mehr auf der Höhe ist.« Forschend sah er mich an. »Okay, Max, du musst mir nichts sagen. Eure Familiensache.« Er schenkte mir ein Lächeln, doch dann fiel sein Blick auf Bens und meine Finger, die fest ineinander verschlungen waren. Seine Miene gefror. »Kinder, wir hatten darüber gesprochen, oder? Ben hat so hart trainiert, da möchte ich nicht die weiblichen Fans verschrecken, weil ihr auf der Bühne rumknutscht.«

»Aber hier sind doch noch gar keine Fans!« Genau diese eine Sache an Kristopher Moses störte mich gewaltig. Er war fest davon überzeugt, dass eine Beziehung unter Bandmitgliedern das Image schädigte. Moses wollte, dass wir für die Dauer der Tour unsere Beziehung auf Eis legten.

»Max, ihr könnt euer Verhalten nicht kontrollieren, wenn es erst einmal zur Normalität geworden ist. Also lasst die Finger voneinander. Ich möchte nicht, das irgendjemand hier Wind davon kriegt. Denkt an die Karriere.« Abrupt ließ Ben mich los, schenkte mir aber ein entschuldigendes Lächeln. Wir waren nicht in der Position, Moses Vorschriften zu machen, genau genommen waren wir in überhaupt keiner Position. Die Tour musste ein Erfolg werden und wir würden alles tun, was Moses von uns verlangte. Er hatte mehrere großartige Künstler unter Vertrag und uns vermutlich nur wegen meiner Verbindung zu Jaakko angenommen. Ob ich es wollte oder nicht, mein Name öffnete uns Türen, die für andere verschlossen blieben. Moses war eine dieser Türen und er hatte es geschafft, für eine nahezu unbekannte Folk Metal Band eine kleine Deutschlandtour zu organisieren. Natürlich hatten wir noch bei keiner Talent-Agency unterschrieben, aber Moses hoffte, dass wir überzeugen konnten und wenn Veranstalter direkt uns anfragten, könnten wir relativ zügig einen Vertrag bekommen.

»Okay, Moses«, antworte ich. Moses schenkte mir ein breites Lächeln, hob die Hand und tätschelte unter Bens bohrendem Blick meine Schulter.

»So ist’s brav. Und jetzt zeig ich euch die Location. Ihr werdet begeistert sein.«

 

*

 

Der Hellraiser war der Wahnsinn! Der Club fasste problemlos eintausend Leute und war nahezu brechend voll, als wir drei Stunden später einen Blick vor die Bühne wagten. Wir würden die Menge alleine unterhalten. Trotz dass es Montagabend war, platzte der Club aus allen Nähten.

Ich riskierte einen Blick in den Zuschauerraum. »Ich glaub, ich spinne.« Ben steckte seinen Kopf über mir hinter dem Vorhang durch und sog scharf die Luft ein.

»So viele Leute hatten wir noch nie.«

»Doch, Wacken.«

»Ja, aber die waren nicht wegen uns da, sondern sowieso auf dem Festival und außerdem wollten sie Moonstuck sehen. Das hier ist eine ganz andere Hausnummer. Die haben die Karten mit unserem Namen drauf gekauft. Ich glaub, mir ist schlecht.« Ich drehte mich zu ihm um, legte meine Arme um seine Schultern und warf einen kurzen Blick in den Backstagebereich. Kein Moses in Sicht. Knapp küsste ich Ben, bevor ich ihn wieder losließ und einen Schritt zurücktrat.

»Wir schaffen das.« Ben lächelte unsicher.

»Ja, in dem Outfit haust du jedem um.« Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß. Ich zuckte mit den Schultern. Moses hatte mir nur eine Vorgabe gemacht: Knapp und sexy, so dass dich dein Vater am liebsten in einen Kartoffelsack stecken würde. Jaakkos schockiertes Gesicht vor Augen hatte ich meinen Koffer genau mit solchen Kleidungsstücken gefüllt. Knapp war noch harmlos dagegen, was ich heute trug. Ich liebte Hotpants und kombinierte meine schwarze, mit Nieten besetzte Lieblingshose mit einer Netzstrumpfhose, die aussah, als hätte sie schon ihre besten Zeiten hinter sich gehabt. Dazu trug ich Stiefel mit zehn Zentimeter Absätzen, die mir bis über die Knie reichten. Als Oberteil entschied ich mich für ein kurzes Top, das meinen Bauch freiließ. Eine einzelne weinende Rose blitzte über dem knappen Bund meiner Hotpants hervor. Die Tätowierung war sozusagen unser Bandlogo, eine rote Rose, die blutige Tränen vergoss. Über dem Top trug ich einen knallroten Lederbolero. Moses Kommentar zu meinem Outfit war ein zufriedenes Nicken. Na also! Ben jedoch bedachte mich mit einem nachdenklichen Kopfschütteln. Ich schätzte, er würde mich auch lieber in einen Kartoffelsack hüllen. Doch wir wollten die Menge begeistern und wenn ein knappes Outfit dazu beitrug, würde ich nicht Nein sagen. Zumal Ben sowieso den Mund halten musste. Seine Muskeln drohten die Ärmel seines T-Shirts zu sprengen. Der Stoff klebte wie eine zweite Haut an seinem Oberkörper, sodass man wirklich jedes Detail sehen konnte. Wenn er das durfte, durfte ich auch in knappen Hosen und bauchfrei herumlaufen.

»Alles für die Fans!« Ich lachte und drehte mich im Kreis. Ben schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Okay, lass uns zu den anderen gehen und dann rocken wir den Club!«