Max

 

Ben blieb. Einfach so. Erst dachte ich noch, er würde einfach nur die Nacht bei mir verbringen, aber als am Morgen Mike klopfte und ihm einen Sicherheitsausweis überreichte, wurde mir klar, dass er nicht wieder gehen würde.

Beim Frühstück freundete er sich schnell mit Scarlett an. Die beiden lagen voll auf einer Wellenlänge und Ben fand sie absolut cool. In einer ruhigen Minute wandte ich mich an meinen Vater.

»Das wäre echt nicht nötig gewesen.«

Jaakko grinste in seinen Kaffee. »Doch, war es.«

»Aber sollte ich mich nicht um dich kümmern?« Jaakkos Lächeln wurde immer undurchsichtiger. »Das hattest du geplant, oder?«

Jaakko gab einen zweifelhaften Laut von sich. »Nicht ich, ich bin nur ausführendes Organ. Deine Mutter fand, dass dir etwas Abwechslung guttun würde. Ben war allerdings meine Idee. Ich dachte, wo er schon mal hier ist, kann er auch gleich hier bleiben, oder? Und wenn wir nachher die Zelte hier abbrechen und weiterfahren, wird er uns begleiten.« Tränen der Rührung traten in meine Augen. »Außerdem musst du dann nicht mehr meine Koffer rumschleppen.«

Ich boxte meinen Vater liebevoll gegen den Oberarm. »Ich schleppe gerne deine Koffer.« Dank seinem Rücken durfte er nur maximal drei oder vier Kilo heben, was sowohl jeden Koffer als auch nahezu alle seine Gitarren bis auf die Fender mit einschloss. Jaakko musste verdammt vorsichtig sein.

»Weiß ich doch.« Er bedachte mich mit einem liebevollen Blick. »Aber Ben stellt sich gerne zur Verfügung, oder, Großer?«

Ben wandte den Kopf und nickte meinem Vater zu. »Sehr gerne … Dad!«

Jaakko deutete nachdrücklich mit dem Finger auf ihn. »Nicht du auch noch. Ich habe einen Namen und ich will, dass der benutzt wird. Reicht schon, wenn Max und Malin meinen, mich altmachen zu müssen.«

»Das liegt vielleicht daran, dass du tatsächlich alt bist«, setzte ich nach.

Gequält schloss er die Augen. »Scarlett, sag doch auch mal was!«

Die Sängerin lachte herzlich. »Keine Sorge, ich rede dich bestimmt nicht mit Dad an.«

»Danke!«

Es hätte noch ewig so weitergehen können, doch Mike drängte zur Eile. Heute stand nur ein kurzer Pressetermin an und wir nutzten den freien Tag, um zur nächsten Location weiterzuziehen. München stand auf dem Programm und noch heute würde der Metalbuster erscheinen. Wir fuhren die Strecke nach München mit zwei Audi SUVs und starteten am späten Vormittag. Während ich mir die Rückbank mit Jaakko teilte, der natürlich jede freie Minute nutzte und die Augen schonte, saß Ben auf dem Beifahrersitz. Meine Hände zitterten, als ich den Metalbuster öffnete. Marly hatte mir heute Morgen eine E-Mail geschrieben, dass der Artikel im Laufe des Tages online gehen würde. Wir hatten gerade eine längere Pause in der Nähe von Leipzig eingelegt und waren gerade wieder in die Wagen gestiegen, als mir Ronny Morgans Bild entgegensprang. Eine unschöne Aufnahme, die seinen widerlichen Charakter spiegelte.

»Er ist da.« Die Worte fühlten sich an wie der Schritt in eine neue Welt. Unbekanntes Terrain. Was jetzt passierte, hatte ich nicht mehr unter Kontrolle. Noch heute Morgen bestand die reelle Chance, Marly mit einer kurzen Nachricht aufzuhalten. Zu jedem Zeitpunkt hatte ich die Möglichkeit, Nein zu sagen. Unser Vertrag enthielt sogar eine entsprechende Klausel, der uns das uneingeschränkte Recht einräumte, der Veröffentlichung zu widersprechen. Jetzt war es zu spät. Der Artikel war erschienen, mein Schicksal – und das von Sad but true – war besiegelt. So fühlte es sich zumindest an.

Jaakko saß mit verschränkten Armen hinter Ben und hob lediglich eine Augenbraue. Ben wandte sich um und nickte, seine Hand fädelte er durch die Vordersitze, um tröstend mein Knie zu streicheln. »Wird schon schiefgehen.«

Ich schluckte trocken. »Geht bereits schief.«

Doch ich bereute nichts. Zumindest nichts von dem, was nach Ronnys Erpressung geschehen war. Die Fehler waren vorher begangen worden. Von mir. Das hier fühlte sich zwar nicht gut an, aber es war die richtige Entscheidung gewesen, anonym an die Öffentlichkeit zu gehen. Vorerst würde mich niemand mit dem Artikel in Verbindung bringen. Bis der Prozess publik wurde, blieben mir noch Monate. Damit konnte ich prima leben.

Doch dass das Schicksal immer noch ein Ass im Ärmel hatte, sollte ich keine vierundzwanzig Stunden später am eigenen Leib erfahren.

 

*

 

Scarletts Konzerte waren immer ausgebucht. Wenn sie eine Tour ankündigte, bereiteten sich die Veranstalter auf einen massiven Ansturm von Kaufwilligen vor. Ihre Promo-Tour für das neue Album allerdings stand nicht zum Verkauf. Tickets konnten bei Gewinnspielen gewonnen werden oder waren an soziale Projekte sowie die Presse gegangen. Der Saal war dementsprechend mit Personen gefüllt, die eine ganz andere Klientel bildeten, als die üblichen, kreischenden Teenie-Horden, die Scarlett sonst anzog. Da gab es Fachpublikum von Presse und Medienvertretern oder aber Personen, die beinahe ehrfürchtig vor Dankbarkeit die Bühne anglühten. Der Applaus, als Scarlett die Stage betrat, war dennoch nicht weniger euphorisch als bei einem jugendlichen Publikum.

Bei ihrem letzten Auftritt hatte Scarlett die Menge begeistert begrüßt, ein paar persönliche Worte an die Zuschauer gerichtet und dann losgelegt. Diesmal jedoch lächelte uns ihr strahlendes Konterfei nicht aus dem Monitor an, von dem aus ich hinter der Bühne den Auftritt beobachten konnte. Heute Abend war Scarlett seltsam ernst. Trotz des Glitzerkleidchens verströmte sie eine unheilschwangere Aura. Mein Magen zog sich unbehaglich zusammen und ich strich mir über die Arme. Da ging etwas vor sich, das ich noch nicht einordnen konnte.

»Meine Lieben«, begann sie in Englisch. »Diese Worte fallen mir sehr schwer, doch als Frau und als Künstlerin bin ich verpflichtet, sie an euch zu richten.« Hinter ihr erschien die digitale Ausgabe des Metalbuster mit Ronny Morgans Visage in Schwarzweiß. Scarlett wandte sich dem Bildschirm zu. Fotoapparate klickten. Auch das war eine Besonderheit der Promotour. Scarletts Management erlaubte den anwesenden Reportern, ihre Kameras zu benutzen und die Bilder für ihre Zeitschriften und Magazine zu verwerten. Der Werbezweck ging voll auf. Und jetzt nutzte sie diese Plattform für … unsere Sache. Ich schluckte gegen die Übelkeit.

»Dieser Artikel über die Machenschaften von Ronny Morgan ist gestern Nachmittag im Metalbuster erschienen. Ich kenne dieses Onlinemagazin nicht, aber euch dürfte es ein Begriff sein. Ihr fragt euch sicher, warum ich dieses Thema hier anspreche, wo doch das Konzert Freude für die Musik bringen soll. Ich muss es tun, denn nicht nur meine Freundin wurde Opfer von Ronny Morgan, nein, ich war Zeugin.« Ein Raunen ging durch das Publikum. »Ich war hautnah dabei, wie dieser … Mensch versucht hat …« Scarlett rang mit sich, brach ab und kämpfte um ihre Fassung. Beklommen trat ich ein Stück zurück. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr sie die Situation belastete. Dass sie auf der Bühne keine Show abzog, sah ich sofort. In den letzten Tagen hatte ich Scarlett gut genug kennengelernt, um zu wissen, dass sie gar nicht schauspielern konnte. Das, was sie auf der Bühne gerade zeigte, waren nackte, ungeschönte Emotionen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. In meinen Augen sammelte sich Feuchtigkeit.

»Ich möchte auf dieses Thema aufmerksam machen, darauf, wie mit jungen, sehr talentierten Frauen in der Musikszene umgesprungen wird, wie ihre Situation ausgenutzt wird, wie sie misshandelt werden, von Männern, denen die Macht zu Kopf gestiegen ist. Wäre ich an die falschen Agenten, die falschen Promoter oder Veranstalter geraten, hätte dort meine Geschichte stehen können!« Scarlett deutete mit jedem lauter werdenden Wort auf die Videoleinwand. »Wir dürfen nicht länger die Augen verschließen und müssen uns diesem kranken Business entgegenstellen. Wir müssen dafür kämpfen, dass kein Mensch diese Macht hat und wir müssen dafür kämpfen, dass jede junge Frau, der dieses Unrecht widerfahren ist, Gerechtigkeit erhält. Wir müssen ihnen zeigen, dass ihr Mut belohnt wird, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen und die Straftaten anzeigen, wir müssen …!«

Scarletts Stimme verklang, als ich mich vom Bildschirm löste und loslief. Sie führte gerade meinen Kampf, sprach zu der Menge in meinem Namen, setzte sich für mich ein. Ich konnte mich nicht länger hinter der Bühne verstecken und in der Anonymität verkriechen. Ja, Scarlett war berühmt und ich liebte sie für jedes Wort, das sie dort oben sagte, aber sie sollte es nicht allein tun. Ich wollte Gesicht zeigen, das ich es war, der diese schreckliche Geschichte widerfahren war, ich wollte, dass andere Frauen sahen, wie mutig wir sein konnten. Scarlett zeigte diese Stärke und ich wollte sie nicht allein stehen lassen.

»Max … was tust du da?« Jaakko harrte hinter der Bühne aus, kopfschüttelnd, schockiert den Blick auf die zierliche Person am Bühnenrand gerichtet. Er wandte den Blick und starrte mich verblüfft an, bis sich seine Miene klärte und er zu verstehen schien, was ich vorhatte. »Nicht …«, murmelte er zögerlich, wollte nach mir greifen. Doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich konnte meinen Vater verstehen. Er wollte mich nur beschützen, mich verstecken und dafür sorgen, dass mir nie wieder jemand wehtun konnte. Aber so lief das nicht, wenn man erwachsen war. Ich musste meine eigenen Entscheidungen treffen, Fehler machen und an ihnen wachsen. Oder auch nicht. Doch auch das gehörte zum Leben dazu und ich war nicht bereit, Ronny Morgan gegenüber einzuknicken. Es gab nur eine mögliche Konsequenz: Indem ich das fortführte, was Scarlett begonnen hatte und Gesicht zeigte.

»Sorry«, formte ich mit den Lippen. Ich musste das tun. Ben stand neben meinem Vater, lächelte und nickte. Dann geh, sagte er stumm mit den Augen. Ich erwiderte seinen Blick und trat auf die Bühne.

Zunächst verharrte ich noch außerhalb des Lichtkegels, der auf Scarlett gerichtet war. Doch sie registrierte die Bewegung und wandte sich mir zu. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie konnte mich gar nicht gesehen haben, das Licht hüllte sie ein und verhinderte, dass sie außerhalb des erhellenden Kegels etwas erkennen konnte. Doch irgendwie schien sie zu ahnen, dass ich da war. Ihr Lächeln erreichte mich und als sie die Hand nach mit ausstreckte, mich stumm aufforderte, zu ihr zu kommen, machte ich den entscheidenden Schritt und trat zu ihr. Unsere Finger verschränkten sich miteinander, ihre Stärke floss durch mich hindurch und als sie mich neben sich ans Mikro zog und meine Hand nach oben riss, wich jede Angst von mir.

»Jetzt sind wir schon zwei!«, rief sie ins Mikrofon. »Danke für deinen Mut, Max.«

Das Publikum applaudierte, jubelte uns zu und ich spürte, wie allmählich die Anspannung nachließ und ich die bekannte Euphorie verspürte, sobald ich eine Bühne betrat.

»Ich danke dir, für den kleinen Schubser in die richtige Richtung«, raunte ich ihr zu.

»Du bist mir nicht böse?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, du hast recht. Öffentlichkeit ist das Einzige, was Ronny Morgan zerbrechen kann.«