Abgestandene Cola, schales Bier und ein Hauch Zigarette bildeten die Basis der Gerüche in der Halle. Darüber lag ein intensives Aroma nach Schmieröl, das davon berichtete, dass hier früher Motoren auseinandergenommen wurden. Lack und alte Farbe überlagerten den zarten Geruch nach Frühlingsblumen, die ihre feine Note über die weit geöffneten Fenster in die eiskalte Halle steckten und eine Vorahnung von Wärme mit sich brachten. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die verdreckten Scheiben, doch sie konnten absolut gar nichts zur Veränderung der Raumtemperatur beitragen.
Die Halle lag irgendwo in einem Industriegebiet in Berlin Marzahn und kostete uns praktisch nichts, was schon mehr war, als wir uns leisten konnten. Wir mussten nur den Strom bezahlen. Hier hinten konnten wir wenigstens die Verstärker voll aufdrehen und störten niemanden. Im Keller von Bens Eltern war es irgendwann nicht mehr gegangen. Die Nachbarn beschwerten sich schon. Wir hatten Dämmplatten angebracht, doch auch das hatte nicht gereicht und da wir für die anstehende kleine Tour proben, proben und nochmals proben mussten, brauchten wir einen abgeschiedenen Raum, wo wir niemandem auf die Nerven gingen. Die Tour sollte schließlich ein voller Erfolg werden.
Nach unseren zwei Songs in Wacken, die wir nur Jaakkos Einfluss zu verdanken hatten, war kein steiler Karriereanstieg gefolgt. Uns fehlte schlicht die Zeit, da wir alle noch studierten. In den Semesterferien spielten wir uns durch diverse Clubs und nutzten jede freie Minute für kleinere Auftritte in Berlin und im Umland. Doch um wirklich groß rauszukommen, mussten wir touren. Und das sollte sich jetzt ändern. Wir hatten einen Manager, der sich um die Organisation kümmerte und uns versprach, möglicherweise einen Plattendeal an Land ziehen zu können. Kristopher Moses arbeitete genauso für lau. Er sah in uns ein Talent, das er fördern wollte. Doch bevor wir auch nur erwägen konnten, an ein Label heranzutreten, mussten wir richtig gut werden. Mehr als gut. Wir mussten sie umhauen! Und dazu mussten wir üben, üben und nochmals üben.
Die Halle würde nie warm werden, egal ob Sommer oder Winter, hier drin war immer Kühlschrank angesagt. Ich hatte mir einen dicken Wollpullover übergezogen und mich anschließend in eine übergroße Winterjacke gehüllt, die einem der Jungs gehörte. Ich schob die Hände in die Jackentaschen und sang die letzten Akkorde unserer neuen Single, bevor ich zähneklappernd auf einem Hocker Platz nahm. »Mensch, ich erfriere noch. Nächstes Mal suche ich die Halle für die Proben aus!«
Ben legte seine Akustik beiseite, stellte sich hinter mich und umarmte mich innig. »Wenn du sie zahlst. Morgen besorgen wir dir einen Heizlüfer, ja?« Noch mehr Stromkosten, na toll.
Ich murrte unwillig. Die Jungs waren so heiß aufs Spielen, dass sie nicht einmal Jacken brauchten. Sie lungerten hier in T-Shirts rum! Sticks konnte ich ja noch verstehen. Dem wurde hinter seinen Drums garantiert warm, aber Simon stand die ganze Zeit am Keyboard und Ben und Jasper bewegten sich mit Akustik und Bass auch kaum. Himmel, war das kalt hier.
»Ach komm, Max, so bleiben wenigstens die Getränke schön kühl und wir sparen den Strom für den Kühlschrank.« Jasper prostete mir zu. Bier zum Frühstück, echt jetzt? Ich beschoss ihn mit einer Salve giftiger Blicke, bevor ich wieder durch mein Handy scrollte und die Nachrichten checkte. Nichts Neues, weder von Mom noch von Malin oder Jaakko. Alles ruhig an der Heimatfront. Nur Jackie hatte mir ein Selfie von ihrem neuen Job geschickt. Sie sah fantastisch in ihrer kurzen Schürze als Kellnerin aus.
Die Jungs machten es sich derweil auf der Couch bequem, schaufelten Chips in sich rein und spülten mit Bier nach. Ich würde nie verstehen, wie man noch vor dem Mittagessen Bier trinken konnte. Oder vielleicht war das ihr Mittagessen? Kopfschüttelnd schnappte ich mir den Text der neuen Single Alone enough und ging Zeile für Zeile in meinem Kopf durch, fertigte eine gedankliche Landkarte an, um Text und Melodie miteinander zu verbinden. Die Technik hatte ich im Studium gelernt und verwendete sie häufig, wenn ich mir schnell etwas einprägen musste. Nur zehn Minuten später saß der Text. Stolz lächelte ich auf das Blatt hinab und schickte meinem Vater ein imaginäres Dankeschön. Ohne Jaakkos Drängen hätte ich nie mit dem Studium begonnen und dadurch eine Menge Techniken nicht erlernt, die mir jetzt das Leben erleichterten.
»Ach du Scheiße!«, entfuhr es Ben mit solcher Heftigkeit, dass alle Bandmitglieder aufsahen und ihm irritierte Blicke zuwarfen.
»Was denn los?« Sticks schlug einen Rhythmus mit seinen Drumsticks auf dem Couchtisch, doch Ben starrte nur fassungslos auf sein Handydisplay.
»Das glaube ich jetzt nicht …«, stammelte er weiter, hob den Kopf und starrte mich an. »Hast du das gewusst, Max?«
»Mh?« Fragend hob ich die Augenbraue. »Was soll ich gewusst haben?«
Ben runzelte die Stirn. »Natürlich hast du es nicht gewusst, sonst hättest du’s uns doch gesagt, oder?«
»Häh!?«, machte ich verwirrt, rutschte von meinem Hocker und stellte mich hinter Ben, um einen Blick auf sein Display zu werfen. Was immer er meinen konnte … Hinter und neben Ben war es beträchtlich eng geworden, da die anderen sich ebenfalls um ihn drängten. Ich hatte noch nicht richtig erfasst, worum es gehen könnte, da entfuhr Jasper bereits ein Pfeifen, während Simon sich nicht zurückhalten konnte und fluchte. »What the heck?!«
Irritiert starrte ich ihn an. »Könnte ich vielleicht mal dein Handy haben und lesen, worum es überhaupt geht? Offensichtlich scheint es ja mich mehr zu betreffen als euch.« Ben seufzte, warf den Jungs einen scharfen Blick zu und reichte dann das Handy an mich weiter. »Vielleicht solltest du dich setzen.« Er erhob sich und schob mich auf seinen – vorgewärmten – Platz. Stirnrunzelnd folgte ich seinen Bewegungen, bis er vor mir saß und mich aufforderte, zu lesen. Okay.
»Vielleicht solltest du ihr was Stärkeres als Bier holen. Wenn sie tatsächlich keine Ahnung hat, wird sie es brauchen.« Ich ignorierte Jasper. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Ben ihn mit einer Geste zum Schweigen brachte.
»Lass sie lesen.« Ben legte seine Hände auf meine Knie und drückte sie liebevoll.
Okay, das war seltsam, sehr seltsam. Ich runzelte die Stirn, überlegte kurz, ob etwas mit meiner Familie sein könnte. Aber Mom hätte mir geschrieben, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. Wir vertrauten einander … Mein Blick glitt über Bens Display. Er war auf der Internetpräsenz von Moonstuck. Eine aktuelle Pressemitteilung hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Okay, es ging also um die Band meines Vaters … die Augen zusammenkneifend konzentrierte ich mich auf den in Englisch verfassten Text, übersetzte gedanklich und … erstarrte.
»Das … kann ich nicht glauben.« Meine Brust zog sich unwillkürlich zusammen. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Wieder überflog ich den knappen Dreizeiler, in dem Moonstuck bekanntgab, sich in gegenseitigem Einvernehmen von ihrem Bassisten und Songwriter Jaakko Salmela getrennt zu haben. Sie wünschten ihm für die Zukunft alles Gute. Die weitere Tour würde wie geplant mit einem Session-Bassisten stattfinden. »Was zur … Hölle?«, stotterte ich und kramte nach meinem Handy. »Ich muss ihn anrufen …«
Ben nahm meine zitternden Finger. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie mein ganzer Körper bebte, wie meine Welt aus den Angeln zu geraten drohte. »Ruhig, Liebes, ganz ruhig. Ich denke, dafür wird es einen triftigen Grund geben. Jedenfalls wirst du nichts erfahren, wenn du ihm mit Vorwürfen begegnest, ja?«
Mein Hals zog sich zusammen, doch vergraben unter der Angst um meinen Vater wusste ich, dass Ben recht hatte. Ich atmete einmal, zweimal tief durch, bevor ich nickte und ihm mit einem Lächeln signalisierte, dass ich mich im Griff hatte. »Die Musik und die Band sind sein Leben. Da wird schon sehr viel mehr nötig sein, als ein triftiger Grund, damit er das aufgibt.«
»Da steht in gegenseitigem Einvernehmen. Ich finde, das klingt eigentlich so, als wären alle damit einverstanden«, nuschelte Jasper, während er sich eine Handvoll Chips in den Mund warf.
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Du kennst ihn längst nicht so gut wie ich. Nein, ich muss anrufen. Ich muss mit ihm reden, ich muss …« Fahrig fuhren meine Hände durch die Taschen der Winterjacke, schlüpften darunter, versuchten, in meinem Hoodie das Handy zu ertasten. Ich hielt inne, als Ben mir mein Telefon unter die Nase hielt. Er lächelte.
»Keine Vorwürfe, ja? Das kann er gerade am allerwenigsten gebrauchen.« Ich nickte, nahm das Handy entgegen und suchte nach Jaakkos Nummer auf den Kurzwahltasten. Angespannt lauschte ich dem Freizeichen.
»Ja?«, hörte ich seine verschlafene Stimme.
»Hey.« Das Herz hämmerte mir in der Brust. »Wo steckst du? Immer noch in Atlanta?«
»Nein, zu Hause.«
»Okay. Alles klar?«
»Ja.« Toll, keine Chance, dass er etwas von sich aus sagen würde.
»Dad … was ist los? Wieso … wir haben die Pressemitteilung gelesen.« Schweigen.
»Welche Pressemitteilung?«
»Moonstucks, dass sie sich von ihrem Bassisten getrennt haben. Klingelt da was?« Den Sarkasmus konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Ben verdrehte die Augen.
»Ach das, ja, davon hab ich gehört. Echt? Eine Pressemitteilung? Der Arsch muss sich ja verdammt wichtig vorkommen.«
»Dad? Redest du von Jesse?«
»Von wem denn sonst?«
»Also stimmt es … das mit dir und der Band ist vorbei?«
»Sieht wohl so aus. Aber es ist alles gut. Ich bin zu Hause und hab jetzt mehr Zeit für … deine Mom, okay? Das ist doch das, was du all die Jahre wolltest.« Die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Aber doch nicht so. Immerhin wart ihr - wie lange zusammen? Fünfzehn Jahre?«
»Vierzehn, aber das spielt keine Rolle. Ich … ich kann nicht mehr so weitermachen, Max.« Erschöpfung. Seine Stimme hatte jegliche Kraft verloren und plötzlich hatte ich Angst, so viel Angst, dass ich nicht mehr stillsitzen konnte.
»Dad? Was ist passiert?«
Das Schlucken am anderen Ende der Leitung zerriss mir fast da Herz. »Zu viel. Aber mach dir keine Sorgen, Baby. Das wird schon wieder werden, ja? Bereitet ihr euch gut vor? Übt ihr gerade?« Ich schloss gequält die Augen.
»Nein, du wechselst jetzt nicht das Thema. Ich …«
»Doch, das tue ich. Ich will nicht drüber reden. Also steht die Setlist?«
»Jaakko!«, fuhr ich ihn wütend an.
»Nein, Max, nicht. Ich bin durch. Entweder du tust so, als ob alles normal wäre, oder ich lege auf.«
»Ich kann nicht …« Ein Klacken in der Leitung signalisierte mir, dass er es ernst meinte. Fassungslos nahm ich das Telefon vom Ohr und starrte auf das Display. »Er hat einfach aufgelegt.«
*
»Max, ich glaube nicht, dass das eine so gute Idee ist.« Hastig raffte ich ein paar Sachen zusammen, stopfte sie in meinen Rucksack und ließ den Blick kurz durch das Zimmer schweifen. Ben lehnte mit verschränkten Armen am Schreibtisch und beobachtete mich mit finsterer Miene. »Dein Dad braucht Zeit, nicht dich, die ihn wie eine Furie verhört.«
Wütend hielt ich inne. »Er hat einfach aufgelegt, Ben! Da ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Ich kann nicht proben, wenn ich weiß, dass zu Hause etwas grundlegend schief läuft.« Erschöpft ließ ich die Arme sinken. »Ich muss nach Hause, ich muss mich davon überzeugen, dass es ihm gut geht. Ich kann nicht einfach weitermachen, verstehst du?« Ben lächelte mich mitfühlend an.
»Klar verstehe ich das. Aber du solltest nicht versuchen, ihn zu irgendetwas zu drängen. Und damit das garantiert nicht passiert, werde ich dich begleiten.«
»Was?« Gerade wollte ich weiterpacken, doch Bens Ansage ließ mich erneut innehalten. »Mach dich nicht verrückt, ihr könnt auch ohne mich üben. Du brauchst nicht mitkommen.«
»Doch, muss ich. Irgendwie ist deine Familie doch auch meine, oder?« Ben hatte nie eine Familie gehabt. Obwohl wir im Keller seines Elternhauses probten, waren seine Eltern nie wirklich für ihn da gewesen, hatten sich nie nach unserer Musik erkundigt, sondern sich lediglich über die Lautstärke beschwert. Mein Dad war es gewesen, der uns dabei geholfen hatte, den Probenraum schalldicht zu machen. Ben hatte vermutlich in den letzten Jahren mehr Zeit mit mir und meinem Vater verbracht, als mit seiner eigenen Familie. Zustimmend nickte ich.
»Okay.«