Während der letzten Stunde Mathe hatte ich unaufhörlich das Gefühl, von Herrn Schröder auf eine nicht gute, kumpelhafte Art angegrinst zu werden. Doch um dreizehn Uhr dreißig war auch diese Zeitlupenfolter endlich vorbei, und ich machte mich sofort auf den Weg zum Village Rouge. Gerne hätte ich den Ort des nächtlichen Unfalls noch mal genauer inspiziert, aber exakt dort, wo der Mann auf dem Stein aufgeschlagen war, bauten nun zwei Frauen einen riesigen Schwenkgrill auf. Bevor ich mich darüber wundern konnte, stand Jana schon neben mir.
«Wie war’s in der Schule?»
«Ach, wie immer.»
«Echt?»
«Ja, klar.»
«Und wie ist denn immer?»
«Na ja, irgendwie mal so, mal so. Das ist meist ganz unterschiedlich.»
Sie lachte.
Cool, dachte ich. Wir kennen uns erst seit so kurzer Zeit und haben schon so viel miteinander erlebt. Leichen in Kofferräume legen, ein Kuss. Noch vor vierundzwanzig Stunden hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass ich mit einer erwachsenen Frau solche Dinge machen könnte. Erst recht nicht mit so einer tollen. Bei Tageslicht leuchteten die hellblauen Haare noch mehr. Und ungeschminkt sah Jana schon gar nicht mehr so viel älter aus als ich. Vermutlich war sie höchstens ungefähr fünfundzwanzig Jahre. Plus/minus ein bisschen. War ja auch egal. Jana griff sich einen Rucksack.
«Können wir dann los zum Schuppen? Ich kann dir ja unterwegs den Plan erklären.»
«Es gibt einen Plan?»
«Klar. Während du deinen Spaß in der Schule hattest, konnte ich ein bisschen was organisieren.»
Ich bemühte mich, mir meine Irritation nicht anmerken zu lassen.
«Oh. Wo du den Spaß erwähnst, ich fürchte, ich habe noch eine Nachricht für Anna-Lee.»
«Woher kennst du die denn?»
«Ich kenne sie nicht. Das hast du mir eingebrockt. Mit dieser Geheimer-Bote-Geschichte, die du Herrn Schröder gestern Nacht aufgetischt hast. Jetzt hat mir Direktor Liesegang tatsächlich gleich eine Botschaft für Anna-Lee mitgegeben. Kannst du mir sagen, wer das ist?»
«Natürlich. Sie baut gerade den Grill auf. Zusammen mit Dinah. Anna-Lee ist die Kleinere von den beiden.»
«Heißen die wirklich so?»
«Ist das von Belang?»
«Weiß nicht. Warum bauen die da einen Grill auf?»
«Na, warum wohl?»
«Zum Grillen?»
«Du hast eine schnelle Auffassungsgabe.»
«Grillt ihr häufiger?»
Jana gab mir ein Zeichen, mit zum Grill zu gehen.
«Durchaus. Es hat sich gezeigt, dass in einer ländlichen Gegend immer mal wieder Spenden von Stammkunden kommen. Meist Sachspenden, wie ein halbes Rind oder frische Schweinehälften. Da ist es praktisch, dass unsere Köchin Anna-Lee auch eine Metzgerausbildung gemacht hat. Sie kann alles. Zerlegen, filetieren, tranchieren. Also die macht dir sozusagen aus jedem Stück Fleisch perfektes Grill- oder Pfannengut.»
Ich bekam ein mulmiges Gefühl.
«Anna-Lee ist eure Köchin?»
Nun mischte sich die kleine, aber kräftige dunkelhaarige Frau in unser Gespräch ein.
«Auch. Wieso?»
Ich zuckte. Irgendwie war ich nicht darauf gefasst gewesen, so direkt von ihr angesprochen zu werden.
«Na ja, weil ich eine Nachricht von Direktor Liesegang für Sie habe.»
Anna-Lee wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das aus ihrer Jeans hing. «Worum geht?»
Der Akzent gab ihrer Sprache etwas Befehlsmäßiges. Auch wenn er sehr einnehmend war. Ich konnte nicht mal sicher sagen, ob er ost- oder südeuropäisch war. Doch ich mochte ihn.
«Also so ganz genau weiß ich das jetzt auch nicht mehr. Irgendwie, irgendwas mit Himbeersahne. Nach der er ganz wild ist. Wirst du Himbeersahne haben für mich? Oder so.»
«Himbeersahne?»
«Ja, ganz sicher. Das habe ich wirklich sehr häufig von ihm gehört.»
«Alles klar. Dann weiß schon.»
Sie griente zufrieden.
«Sie wissen schon?»
Anna-Lee schaute zu Jana. Die nickte belustigt, woraufhin die kleine Köchin losplauderte.
«Gut. Kann ich verraten dann. Aber erzähl nicht an große Glocke in Schule, ja?»
«Selbstverständlich nicht», log ich.
«Also, Direktor ist süßer Mann. Ganz süßer Mann. Auch bei Essen. Aber hat Cholesterin und Blutdruck und Zucker und Gewicht und Gelenke. Hat alles, was nicht gut. So haben Ärztin und Frau ihn gesetzt auf strenge Diät. Nur noch Obst. Fettarm. Nie Zucker. Also er will Himbeersahnetorte von mir.»
«Er geht in den Puff, um Torte zu essen?»
«Hier er kann Torte aussuchen. Ich backe, was er will. Ganz nach Geschmack. Was immer macht Gäste glücklich.»
«Aber das könnte ein Konditor doch auch. Und wahrscheinlich sehr viel billiger.»
«Dafür Gefahr von Erwischung viel größer. Direktor sagt, seine Frau gibt sich so große Mühe mit seine Diät. Ein Bordellbesuch sie würde vielleicht vergeben. Aber wenn erfährt, dass er Gesundheit gefährdet. Mutwillig. Mit dicke Torte. Das sie vergibt nicht. So er will, wenn sie herausfindet, lieber erwischt werden in Bordell. Ist besser als bei Konditor.»
Jana ergänzte: «Es gibt noch einen Vorteil. Wenn er seine Tortensucht ins Bordell verlagert, ist sichergestellt, dass er ihr nur einmal alle vierzehn Tage nachgibt. Und nicht ständig. Denn eigentlich will er ja möglichst gesund und lange leben.»
«Dafür passe ich auch auf», nickte Anna-Lee fröhlich.
Nicht ohne Erstaunen stellte ich fest, dass ich nun tatsächlich sehr viel mehr über meinen Schuldirektor erfahren hatte, als ich je hätte wissen wollen. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte Daten, die ich gerade quasi versehentlich auf die Festplatte meines Gehirns heruntergeladen hatte, sofort wieder löschen. Aber das ging leider nicht. Ich hätte sie höchstens in einen Ordner mit dem Titel «Bloß nie wieder öffnen» ablegen und dann versuchen können, ihn eben nie wieder aufzumachen. Doch auch das war eher aussichtslos. Wahrscheinlich würde sich dieser Ordner nun, wann immer ich Herrn Liesegang begegnete, ganz von allein öffnen und zusätzlich sogar noch blinken.
Ich wechselte das Thema: «Und heute haben Sie auch noch Grillabend?»
«Ja. Kannst du nix machen. Hat sich ergeben kurzfristig. Wir haben reinbekommen größere Menge frisches Fleisch. Jetzt müssen wir einiges verbrauchen direkt, weil wir nicht alles können lagern.»
Obwohl ich Angst vor der Antwort hatte, musste ich noch mal nachfragen: «Sie haben eine größere Menge frisches Fleisch reinbekommen?»
Anna-Lee beschäftigte sich schon wieder ganz mit dem Grill.
«Ja. Letzte Nacht. Passiert manchmal. Machst du nix.»
Jana zog mich weg.
«Komm, wir müssen jetzt mal los.»
Willenlos trottete ich mit ihr vom Hof.