Ich trat auf die Lichtung und entschied mich schnell, es noch einmal mit der Netzsuche zu probieren. Noch drei Prozent. Das war wirklich knapp gewesen. Ich deaktivierte den Flugmodus, und schon leuchteten drei Striche auf.
«Ja!», brüllte ich. «Ja! Endlich auch mal Glück. Nimm das, Schicksal! Ha!»
Dann ging das Handy aus.
«Waaaas?!» Ich schrie mein Telefon an. Obwohl ich natürlich wusste, dass es schon bewusstlos war und mich nicht mehr hörte.
«Ich hatte noch drei Prozent, du blöde Sau! Drei Prozent! Da kann man doch nicht einfach so ausgehen! Das darfst du gar nicht! Nimmst du deine eigenen Anzeigen überhaupt ernst?»
Tränen schossen mir in die Augen. Plötzlich fiel jede Hoffnung von mir ab. Ich war dem Erstickungstod entronnen, hatte einen Kreislaufkollaps überstanden, war dem Bärtigen entwischt, hatte Angriffe von Wildschweinen überlebt, war blind durch Bäume gerannt, hatte mich aus den Fängen des Dornenbusches befreit und mit einem Wolf zusammen abgehangen.
Nichts davon hatte mich entmutigen können. Aber das war jetzt definitiv zu viel. So vom eigenen Telefon verarscht zu werden schlug für mich dem Fass die Krone ins Gesicht.
«Ich hasse dich! Du Arsch-Phone! Gesichtserkennung, Mega-Cloud und Superprozessor, aber zu doof zum Dreirunterzählen. Du hast die zwei und die eins vergessen, du dummes Stück Sklavenarbeit! Von wegen Zukunft ist jetzt! Am Arsch, die Zukunft! Lern erst mal zählen, bevor du mit deiner Augmented-Reality-Scheiße anfängst! Eine Anti-Verarscht-Werden-App! Das wäre mal toll! Aber die wäre ja wohl für euch selbst geschäftsschädigend. Ich hatte noch drei Prozent! Drei Prozent! Das ist mehr, als ihr Steuern zahlt! Schick das mal der NSA!»
Dann sackte ich zusammen und blieb liegen. Schluchzend. Für immer. Ich würde hier einfach so heulend für alle Zeiten liegen bleiben. Daran gab es keinen Zweifel.
«Marco!»
Durch mein Geflenne konnte ich die Stimme zunächst nicht richtig hören.
«Marco, bist du das?»
Das war Jana.
Ich wollte antworten, verschluckte mich aber an der eigenen Rotze und den Tränen, weshalb ich nur husten konnte und schon wieder zu ersticken drohte.
Tatsächlich war ich nur gute hundert Meter vom geparkten BMW wieder aus dem Wald gekommen. Ich mochte nicht recht glauben, dass der Wolf mich absichtlich zu diesem Ort geführt hatte, wollte es aber auch nicht völlig ausschließen.
Jana war schon eine ganze Weile wieder dort. Nachdem sie ins Dickicht gesprungen war, hatte sie bald realisiert, dass der Bart ihr nicht folgte. Leider war ihr der Kontakt nicht nur zu mir, sondern auch zu Mareike und Dörki verloren gegangen. Mit viel Glück gelang es ihr, zum Auto zurückzufinden. Seitdem hoffte und wartete sie. Auf Anrufe, SMS oder WhatsApps hatte niemand reagiert. Vermutlich waren die anderen beiden immer noch ohne Netz. Dörki sogar ohne Akku, und obendrein hatten wir mit ihm nicht mal unsere Nummern ausgetauscht.
Ich schloss mein Telefon an die Powerbank an, und nachdem es wieder zum Leben erwacht war, stellte ich fest, dass ich auch drei WhatsApp-Sprachnachrichten von Mareike bekommen hatte. Wahrscheinlich suchte sie uns, oder sie saß irgendwo und wollte abgeholt werden. Wir atmeten erleichtert durch. Wenn sie uns ihren Standort sendete, würden wir sie schnell finden. Ich schaltete auf Lautsprecher, und wir hörten die erste Mitteilung ab.
Sie begann mit einem Grunzen. Eines, das leider definitiv nicht von Mareike kam.
«Hallo, mein Mädchen. Meine neue Freundin meint, du heißt Marco und so erreiche ich dich und deine Begleiter. Unserer Freundin hier geht es gut, und ich würde gerne sicherstellen, dass dies auch so bleibt. Deshalb wäre es ganz entzückend, wenn du zurückrufen oder schreiben wür dest.»
Verdammt. Offensichtlich hatte der Bart Mareike erwischt. Die zweite Nachricht:
«Marco, lieber Marco. Wir sind in Sorge. Um dich und noch viel mehr um Mareike. Melde dich doch bitte schnell, damit ihr nichts passiert.»
Und die dritte Message:
«Das ist jetzt deine Schuld, Marco. Ich habe gesagt, du sollst schnell zurückrufen, damit Mareike nichts passiert. Also das ist jetzt wirklich deine Schuld.»
Jana schaute mich bestürzt an.
«Was, denkst du, hat er ihr getan?»
Ich konnte nicht antworten. In meinem Kopf dröhnte es. Ein Wirrwarr von Geräuschen. Das röhrende Kichern des Barts, während er meine Kehle zudrückt, Mareike, wie sie mein Freund sagt, grelles Quieken von Wildschweinen, die uns über den Haufen rennen. Alles auf einmal.
Ohne weitere Besinnung oder Rücksprache mit Jana drückte ich auf Rückruf. Es wurde sofort abgehoben.
«Marco, mein Mädchen.» Es feixte kehlig am anderen Ende. «Warum hat das so lange gedauert?»
«Was haben Sie mit Mareike gemacht?»
«Nanana, kein Hallo? Keine Antwort auf meine Frage? Stattdessen nur eine unhöflich formulierte, gebellte eigene Frage? Bitte bemühe dich etwas um sprachliche Sorgfalt, mein Marco. Du weißt, wie ungehalten ich sonst werden kann. Und das wäre gerade für Mareike unerfreulich.»
Ich holte tief Atem.
«Hätten Sie bitte die Freundlichkeit, mir mitzuteilen, wie es meiner Freundin geht?»
«Sie ist kommod, im Rahmen des Erwartbaren. Aber das wird sie euch später alles selbst erzählen.»
«Ich will ein Lebenszeichen.»
«Bitte?»
«Ich meine, mit einem Lebenszeichen von ihr würden Sie mir eine große Freude bereiten.»
«Gewiss. Alles zu seiner Zeit. Zunächst einmal sieht es aber wohl so aus: Ich habe etwas, das ihr wollt. Und ihr habt etwas, das ich gerne zurückhätte. Wie wäre es, wenn wir tauschen?»
«Nur wenn Mareike wohlauf ist.»
«Gut. Auch recht. Dann gebt ihr mir ein Lebenszeichen von meinem Freund, und ihr erhaltet dafür eines von eurer Freundin.»
Ich schielte hilflos zu Jana. Die wusste Rat. Sie rückte nah ans Mikro des Handys.
«Ihr Freund ist bewusstlos. Er liegt im Kofferraum des BMW.»
«Wie ist das passiert?»
«Ein Unfall.»
«Was denn für ein Unfall? Etwa mit dem Chloroform?»
Jana zögerte.
«… ja, genau. Er hat sich mit dem Chloroform versehentlich selbst betäubt.»
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
Doch der Bart schien Jana zu glauben. «So ein Idiot. Ich habe ihm immer gesagt, dass es Schwachsinn ist, die Chloroformsäckchen in der Geldtasche mit sich rumzuschleppen. Aber er lässt sich ja nichts sagen. Also gut, der BMW mit der Tasche und meinem Kollegen gegen eure Freundin. Außerdem bringt ihr noch ein Gurkenglas mit, das ich auf das Arschloch, das mich beworfen hat, werfen darf.»
«Der ist nicht hier.»
«Warum nicht?»
«Keine Ahnung. Vielleicht findet er uns nicht. Vielleicht hat er sich auch verkrümelt. Wir kennen den eigentlich gar nicht.»
Es bollerte gurgelnd in der Leitung.
«Na, macht nichts. Ich werde ihn garantiert finden. Und dann bekommt er ein schönes Gurkenglas von mir. Aber zunächst zu unserem Geschäft. Ich kann vorbeikommen, dann machen wir den Austausch.»
«Nein!» Jana schrie fast ins Mikro. Ich wusste nicht, was ihr Problem war, aber sie beachtete mich gar nicht.
«Wir machen den Austausch nicht hier. Wir treffen uns vor dem Eingang des Airport in Wolfenbüttel, der Disco der Lucifers. Kennen Sie sicher. Dort bekommen wir Mareike, und Sie bekommen dafür den Schlüssel vom BMW.»
«Den Schlüssel des BMW.»
«Meinetwegen auch den.»
«Warum dort, mein Mädchen?»
Janas Stimme wurde hart.
«Damit Sie uns nicht wieder reinlegen und angreifen. Auf dem Territorium Ihrer Feinde werden Sie das nicht wagen.»
Ein langes, schlürfendes Luftholen.
«Also gut. Mir doch egal. Dann eben so. In genau einer Stunde vor dem Eingang des Airport. Versucht lieber keine Tricks. Euer nächster Fehler wäre sonst endgültig der letzte. Kapiert? Sollte was mit meinem Kollegen sein, das nicht wieder gut wird, oder Geld in der Tasche fehlen, sagt es mir lieber gleich. Ansonsten finde ich euch. Heiliges Versprechen. Ich finde jeden immer. Überall. Das zumindest sollte euch ja wohl mittlerweile klar sein. Es ist meine Superheldenfähigkeit.» Er grunzte fröhlich. «Solltet ihr noch einmal die Absprachen nicht einhalten, kann ich beim Nachverhandeln sicher keine guten Konditionen mehr anbieten. Wenn ihr versteht.»
«Tun Sie Mareike bitte nichts.» Nun war ich wieder am Mikro.
«Ihr müsst schon entschuldigen. Ich wirke zwar nicht immer so, aber ich versichere euch: Ich bin ein Ehrenmann.»
«Was heißt das?»
«Dass ich niemals etwas versprechen würde, was ich nicht halten kann.»
Der Bart giggelte abermals hohl. Mittendrin legte er schlagartig auf.