Selbstverständlich machten wir es genau so, wie der Bart wollte. Welche andere Möglichkeit hätte es denn auch gegeben? Wenigstens war der Kofferraum eine Ladefläche. Denn der Bart fuhr tatsächlich einen riesigen SUV. Einen Jeep Cherokee, wie ich der Schrift auf der Heckklappe entnahm. Er hatte hinten einen Gepäckbereich wie bei einem Kombi, also nach vorne hin zum Sitzbereich offen. Der Kofferraum war somit kein kleines dunkles Frachtloch, sondern Teil des gesamten Innenraums.
Unter einer dunklen Decke lag Mareike. Ich konnte sie kurz sehen. So gut, wie der Bart behauptet hatte, ging es ihr sicher nicht. Sie war geknebelt und musste schon eine Weile im Kofferraum gelegen haben. Dennoch schien sie sich zu freuen, als sie mich sah. Wenn auch nur kurz.
Es machte mich fertig, ihr nicht helfen zu können. Ich kam mir wie ein Versager vor. Erst recht, als ich auch noch gezwungen wurde, Jana zu fesseln. Mit demselben Klebeband, mit dem auch schon Mareike fixiert worden war. Es war das Tape, das wir im Baumarkt gekauft und dann in der Tüte auf dem Parkplatz vergessen hatten. Hätten wir den Bart dort doch gefesselt. Als wir ihn am Boden hatten. Das wäre klug gewesen. Aber ich war ja nicht bei Bewusstsein. Die anderen hingegen hatten sich offenkundig von der Panik treiben lassen. Dem Fluchtimpuls. Wäre mir garantiert genauso gegangen. Insofern hatte ich mit meiner Ohnmacht ja fast Glück gehabt.
Aktuell wäre ich eigentlich auch lieber bewusstlos gewesen. Dann hätte ich nicht überlegen müssen. Nach keiner Lösung suchen. Nicht verzweifelt sein. Ich hätte mit all dem nichts zu tun gehabt. Ich wäre ja außer Gefecht gewesen. Zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung davon, warum manche Menschen sich unter Druck betrinken. Womöglich gar zu Alkoholikern werden. Vermutlich haben sie meist verdammt gute Gründe dafür. So wie ich. Was hätte ich dafür gegeben, jetzt Alkoholiker zu werden. Um mich schnell besinnungslos zu trinken, und gut ist. Allerdings, was würde dann aus Jana und Mareike werden? Nein, wie immer war der einfache Ausweg eben keine Lösung. Schon wieder ein Satz von meinem Großvater. Unfassbar. Hatte der das alles womöglich vorausgesehen und mich deswegen schon in meiner Kindheit mit den nötigen Merksätzen versorgt? Zugetraut hätte ich es ihm. Ich hätte meinem Opa alles zugetraut.
Nachdem auch Jana gefesselt auf der Ladefläche lag, versteckt unter einer weiteren Decke, fuhren wir los. Der Bart voran, ich hinterher.
Über eine Stunde waren wir unterwegs, bis weit hinter Nienburg, Richtung Süstedt. Nachdem es von der B6 runtergegangen war, wurden die Straßen immer schmaler. Häuser sah man kaum mehr. Nur Felder und Wald. Trotz tiefer Nacht beleuchtete der funkelnde Himmel die Szenerie recht geschmackvoll. Ich hatte das Gefühl, die Gegend war noch abgelegener als Torfstede. Niemals hätte ich vermutet, dass so was überhaupt möglich war. Schließlich bogen wir in einen Schotterweg ein, auf dem wir noch mal rund zehn Minuten lang sehr langsam dahinrollten, bis wir endlich einen kleinen Hof erreichten.
Der Bart stieg aus, öffnete das Tor einer Scheune und wies mich an, den BMW darin zu parken. Nachdem ich den Wagen dort abgestellt hatte, parkte er seinen SUV davor, damit ich nicht mehr wegfahren konnte. Dann schloss er das Scheunentor, knipste eine von der Decke hängende Glühbirne an und befahl mir, den Kofferraum des BMW zu öffnen.
Einen Moment lang starrte er bloß, bis er die Decke mit der erotischen Tänzerin im Leoparden-Look zurückschlug. Er betrachtete die Leiche seines Kumpels. Beinah hastig. Ohne Andacht. So richtig doll schien ihn das wohl doch nicht mitzunehmen. Die Tasche mit dem Geld, den Pillen und den K.-o.-Tropfen hatte er bedeutend sorgfältiger untersucht. Noch bevor wir in Wolfenbüttel losgefahren waren. Sofort hatte er sie an sich genommen. Jetzt nahm er Schaufel und Spaten aus dem Kofferraum und drückte sie mir in die Hand. Ich fand es schon etwas pietätlos, dass die anderen beides augenscheinlich einfach so auf den Toten draufgelegt hatten. Aber der Bart verlor kein Wort darüber. Stattdessen informierte er mich über seine Pläne.
«Das hier ist der Hof von Tonnes Großeltern. Er hat sich gewünscht, hier begraben zu werden. Das hat er immer wieder gesagt. Diesen letzten Dienst werden wir ihm erweisen.»
Ich stutzte. «Er hat sich gewünscht, hier auf dem Hof seiner Großeltern begraben zu werden?»
«Das habe ich doch gerade gesagt. Hörst du schlecht?»
«Nein. Es ist nur …»
Eine innere Stimme riet mir dringend davon ab zu erwähnen, was Jana in Tonnes Büchlein gelesen hatte. Am Ende würde sein Kumpel Tonne sonst noch an uns verfüttern.
«Es ist nur irgendwie komisch, sich vorher so was zu überlegen.»
Der Bart grinste mich an.
«In unserem Metier denkt man viel über den Tod nach. Den von anderen, doch auch den eigenen. Bringt der Beruf so mit sich.»
«Verstehe.»
«Glaube ich nicht. Aber egal. Hinten im Garten unter einer großen Buche ist so eine Art Familiengrab. Da müssen wir hin.»
«Die Großeltern sind hier im Garten vergraben? Ist das denn überhaupt erlaubt?»
«Du solltest dich nicht so viel drum kümmern, was erlaubt ist und was nicht. Hab ich auch nie. Und, hat es mir geschadet?»
Ich verkniff mir eine Antwort.
«Nur Verlierer fragen um Erlaubnis. Am Ende zählt nur, wer der Sieger ist. Wer gewinnt, hat immer recht. Das solltest du dir merken. Wenn du bereit bist zuzuhören, könnte ich dir viel beibringen. Übrigens sind nicht nur seine Großeltern im Garten begraben.»
«Was ist mit seinen Eltern?»
«Das waren Verlierer.» Er hielt kurz inne, als würde er versuchen, sich an etwas zu erinnern. Schien es dann jedoch aufzugeben.
«Wie ist er gestorben?»
Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, dass er danach fragen würde.
«Es war wirklich ein Unfall. Genauer kann Jana das erzählen.»
Ich schaute zum SUV, wo die beiden Frauen sich unter den Decken bemerkbar machten.
«Ach.» Der Rocker winkte ab. «Ich hatte gedacht, wir lassen die erst mal noch da, wo sie sind. Es geht ihnen ja so weit gut, und sie haben es einigermaßen bequem. Diese ersten vorbereitenden Arbeiten schaffen wir locker zu zweit. Zudem haben wir so mal die Möglichkeit, ein bisschen zu quatschen. Uns ein wenig kennenzulernen. Mal ohne die Weiber. Männergespräch sozusagen. Ich bin übrigens Sense.»
Unvermittelt hielt er mir seine riesige behaarte Hand hin.
«Sie heißen Sense?»
«Spitzname. Den hat man mir schon als Kind gegeben, beim Fußballspielen. Hat sich irgendwie gehalten.»
«Marco», sagte ich und bemühte mich, seinem Handschlag standzuhalten. Er drückte kurz zu, etwas knackte, er ließ wieder los.
«Und warum nannte man Tonne Tonne?»
Sense schaute mich irritiert an. «Na, weil er so heißt. Warum denn sonst? Oder hieß, müssen wir ja wohl sagen. Also, wie ist es passiert?»
Ich holte tief Luft.
«Er hat sich wohl Pilze reingepfiffen. Und dann gedacht, er könnte fliegen. Er ist aus dem Fenster gesprungen. Mit ordentlich Anlauf. Dritter Stock.»
Sense oinkte vor Vergnügen. «Oh ja, das klingt nach Tonne. Aber so richtig. Der und seine Pilze. Oder Pillen. Wir haben mal die Zentrale in Stücke gehauen deswegen. Das war eine Sause! Der Chef war so was von stinksauer.»
Er gluckerte regelrecht, verschluckte sich, hatte einen riesigen Hustenanfall, spuckte aus, gurgelte dann weiter.
«Tonne hatte diese Pilze, von irgendeinem niedersächsischen Großmütterchen aus weiß der Geier was für einem gottverlassenen Dorf. Er bestand darauf, dass wir uns die schön zubereiten und lecker zusammen dinieren. Aber wir sind da so übel von draufgekommen. Das war das Heftigste, was ich je erlebt habe. Wir waren überhaupt nicht mehr zu bändigen. Zwei Stunden haben wir gewütet, alles kurz und klein geschlagen und uns schließlich fast gegenseitig totgeprügelt. Keiner hat sich getraut, da dazwischenzugehen. Die haben die Türen abgeschlossen. Ruhig gewartet, bis es vorbei war. Sie wussten nicht, was sie sonst tun können. Am Ende lagen wir glücklich da und mussten beide in die Notaufnahme. Das sind so Sachen, die vergisst du nie wieder. Das schweißt zusammen.»
Für einen Moment schien er sich an einem anderen, fernen Ort zu befinden. Er kehrte aber doch schnell wieder zu mir zurück.
«Obwohl Tonne nun wirklich wusste, dass Pilze nicht gut für ihn waren, konnte er absolut nicht davon lassen. So war er eben. Unbelehrbar. Wollte das am meisten, was am schlechtesten für ihn war. Bei den Drogen wie bei den Frauen. Nur beim Geschäft, da war er der Macher. Hatte es mit Zahlen. Dem konnte keiner was vorrechnen. Er hat alles immer haarklein ausgetüftelt. Wusste stets genau, was jeder zu zahlen hatte. Das hatte der im Blut. Meistens musste er nicht mal rechnen. Wenn einer widersprach, hat er schlechte Laune gekriegt. So schlechte Laune, dass am Ende doch alle eingesehen haben, dass er der bessere Rechner war. Dass nur Tonne genau wusste, was jeder zu zahlen hatte. Wenn du verstehst, was ich meine.»
Erneut verschluckte sich der Riese vor Johlen, um dann kleine Fetzen seiner Innereien hochzuwürgen, die er angewidert ausspuckte. Es schien ihn nicht weiter zu bekümmern.
«Ich dagegen», fuhr Sense fort, «war eher so der Feingeist. Mein Sujet war die Sprache. Tonne fand, ich übertreibe es manchmal etwas mit der Grammatik. Also wenn ich zum Beispiel Leute verdroschen habe, weil sie den Konjunktiv zwei falsch angewandt hatten. Aber er hat das respektiert. Wir haben uns gut ergänzt. Er war unschlagbar mit den Zahlen, und ich war der Kommunikator in unserem Team. Meine Stärke war es immer, mit den Leuten zu reden. Ich habe so eine Gabe, dass sich die Leute bei mir sicher fühlen, sich mir öffnen. Verstehst du?»
Ich nickte, denn bei den letzten Worten war sein Blick sehr intensiv geworden. Er lachte definitiv nicht mehr. Da war auch keinerlei Ironie in seinem zerschundenen Gesicht. Er hielt sich offensichtlich wirklich für einen charmanten und sensiblen Gesprächspartner.
«Ab in den Garten!», verkündete Sense abrupt und schulterte einen schweren Rucksack. Dann öffnete er eine kleine Tür hinten in der Scheune und signalisierte mir vorzugehen.
«Oben an der großen Buche ist die Stelle, wo Tonnes Großeltern begraben sind. Da müssen wir hin.»
Der helle Mond beleuchtete eine sanft ansteigende Streuobstwiese, an deren Ende ein mächtiger Baum stand. Langsam schritt ich über das Feld. Es war umgeben von dichtem Wald und nach unten begrenzt von der Scheune und dem Haupthaus, in dem wohl früher auch die Ställe gewesen waren. Bei den meisten alten Höfen in Torfstede war das nicht viel anders. Ein kleines verstecktes Idyll, fernab von aller Welt. Sogar eine winzige Gartenlaube mit Stühlen und einem Tischchen gab es nahe der Buche.
«Geh ruhig. Rauf zum großen Baum. Ich bin direkt hinter dir.»
Ich erklomm den kleinen Hügel. Umfasste fest die Schaufel und den Spaten. War das die Gelegenheit? Herumzufahren und ihm mit der Schaufel in die Fresse zu schlagen? Wenn ich ihn richtig treffen würde, hätte ich eine Chance, ihn niederzustrecken. Dann würde ich ihn fesseln. Die Fehler vom ersten Mal nicht wiederholen. Mareike und Jana befreien. Die Polizei rufen. Ich musste mich nur im richtigen Moment umdrehen und zuschlagen, so doll ich konnte. Ich ließ den Spaten fallen, packte die Schaufel noch entschlossener, hob sie an und …
«Dir ist der Spaten runtergefallen. Oh. Na, du bist wahrscheinlich müde. Logisch, tut mir leid.»
Sense klang jetzt wirklich mitfühlend. Ich ließ die Schaufel sinken.
«Klar, das war natürlich alles wahnsinnig anstrengend. Und ich hätte dich ja immerhin fast erwürgt. Entschuldigung dafür, aber wenn ich heiß laufe, verliere ich jegliche Beherrschung. Ich werde da zum rasenden Viech. War schon als Kind so, habe es aber leider nie unter Kontrolle gekriegt.»
Er bückte sich nach dem Spaten und hob ihn auf. Nun standen wir uns gegenüber. Er mit Spaten, ich mit Schaufel. Mir war klar, dass ich meinen Waffenvorteil wieder verloren hatte. Er wusste es auch.
«Keine Angst.» Sense röchelte wieder fröhlich. «Ihr müsst das Loch nicht allein ausheben. Ich helfe da gern. So körperliche Ertüchtigung, das hebt meine Laune. Macht mich ausgeglichener. Vielleicht mache ich es doch gleich selbst. Mir reicht völlig, wenn ihr mir dabei Gesellschaft leistet und wir ein bisschen plaudern.»
«Wie denn Gesellschaft leisten?»
«Das wird noch nicht verraten. Schau mal, dort am Baum wartet eine kleine Überraschung.»
Oben angekommen, stellte Sense seinen Rucksack in der Laube ab. Ich legte die Schaufel daneben und ging zur Buche. Im Schatten des Baumes ließ sich trotz des gleißenden Mondlichts nicht sehr viel erkennen. Ich musste sehr genau hinschauen, um es zu entdecken: Vor dem Stamm lag etwas Rundes. Ein großer rostiger Metallring. Ich hob ihn an und stellte fest, dass er an einer schweren Kette hing.
Welchen Sinn hatte das denn?
Sense packte mich von hinten, verdrehte meinen rechten Arm und ließ erstaunlich geschickt eine Handschelle am Handgelenk zuschnappen. Dann drückte er mich zu dem rostigen Ring hinunter, und ehe ich etwas begriff, knackte auch schon das andere Ende der Handschelle um das linke Gelenk.
Sense ging schnell einige Schritte rückwärts und rief spöttisch: «Komm!»
Wie blöd rannte ich los, bis plötzlich die Kette spannte, an meinen Armen riss und mich nach hinten zu Boden warf. Es tat höllisch weh. Womöglich hatte ich mir was gezerrt. Vor allem aber registrierte ich, dass ich offensichtlich an diesem rostigen Ring hing, der wiederum mit der Kette am Baum befestigt war. Ich schrie. Vor Schmerzen. Vor Wut.
«Schrei ruhig. Das nächste Haus ist mehr als zwei Kilometer entfernt. Die Bewohner sind genauso alt, wie sie schwerhörig sind, und außerdem schluckt der Wald sowieso alles. Hier hört einen niemand. Wir haben das schon oft getestet.»
«Was soll das?»
«Was soll das schon sollen? Dein Satz ist unvollständig. Wenn du ein modales Hilfsverb wie soll verwendest, sollte auch ein Vollverb folgen. Soll ohne Vollverb ist kein schlimmes Vergehen, aber du machst deine Lage auch nicht besser damit.»
«Also gut: Was soll die Scheiße?»
«Scheiße ist kein Vollverb. Aber egal, es spielt keine Rolle. Was denkst du denn, was ich mit euch dreien hier anstellen werde? Nach allem, was ihr angestellt habt? Darüber kannst du mal in Ruhe nachdenken, während ich die anderen beiden hole.»
Zufrieden stiefelte er weg. Keuchte er da wirklich «Atemlos durch die Nacht»?