Herr Schröder blinzelte. Es dauerte etwas, bis er mich im Dunkeln erkannte. Mit einem raschen Seitenblick realisierte er, dass er selbst hingegen unter der Beleuchtung des Hintereingangs für mich gewiss sehr gut zu erkennen war. Ein paar Augenblicke zögerte er, dann entschloss er sich zur Flucht nach vorn.
«Was machst du denn hier?»
Er trat aus dem Licht und ging drei Schritte auf mich zu. Instinktiv ging ich ihm gleichfalls drei Schritte entgegen, um zu verhindern, dass er dem Wagen zu nahe kam.
«Nichts.»
Jetzt war er nur noch eine Armlänge entfernt.
«Wie, nichts?»
Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter, um zu kontrollieren, ob er aus seiner Position etwas sehen konnte, das ein Problem aufwerfen würde. Wohl nicht. Ansonsten schaltete ich gesprächstechnisch direkt in den Schüler-Lehrer-Modus. Eine solide Patzigkeit war er gewohnt. Die würde ihn wahrscheinlich am wenigsten misstrauisch machen.
«Na, nichts halt. Das darf ich. Oder ist es neuerdings verboten, wo zu stehen und nichts zu machen?»
Mein Mathematiklehrer legte den Kopf schief.
«Dann bist du ganz sicher, dass du hier nicht stehst, um zu schauen, wer da so aus dem Club kommt und reingeht? Und dass du nicht sogar versehentlich Fotos machst?»
«Warum sollte ich denn so etwas tun?»
«Sag du es mir.»
Triumphierend stand er mit dem jahrelang trainierten «Erwischt!»-Blick des abgeklärten Pädagogen vor mir. Aber auch ich war schon zu lange Schüler, um mich davon noch beeindrucken zu lassen.
«Also ich persönlich», sagte ich, «mache hier jedenfalls absolut nichts. Und das ausschließlich. Aber was machen Sie denn hier?»
Er zuckte. Pfiff leise durch die Zähne. Eigentlich sollte Herr Schröder ja schwul sein. Sagte er zumindest selbst. Angeblich hatte er einen festen Freund, der in Braunschweig lebte. Niemand hatte ihn je gesehen. Weshalb nicht wenige vermuteten, seine Homosexualität sei nur eine Schutzbehauptung. Um von seinen Affären mit verschiedenen Frauen des Ortes abzulenken. Denn da wurde so manches gemunkelt.
Zumindest kann man da mal sehen, wie fortschrittlich und weltoffen unser Landkreis mittlerweile ist. Ein schwuler Lehrer ist den Leuten viel lieber als einer, der verheirateten Frauen nachsteigt. Von wegen Hinterwäldler! Auch ein unverheirateter Mann, der ins Bordell geht, wäre hier höchstens gut für ein paar pikierte oder schlüpfrige Bemerkungen, aber nichts, was nachhaltig den Tratsch beflügeln könnte. Jemand jedoch, der die braven und humorvollen Menschen des Landkreises mit einer arglistig vorgetäuschten Homosexualität mutwillig an der Nase herumführt – das wäre ohne Frage ein starkes Stück und würde auch gewiss entsprechend besprochen werden. Insofern war es nicht überraschend, dass Herr Schröder nun anfing, unruhig herumzutrippeln. Erneut linste ich hinter mich, um sicherzugehen, dass er nichts sah.
Was seine Aussicht völlig neu gestalten konnte, war der Umstand, dass der BMW jetzt plötzlich begann, ganz langsam, beinah unmerklich, zurückzurollen. Verdammt. Hatte ich tatsächlich vor Aufregung und im gewohnheitsmäßigen Tran ausgekuppelt? Das musste man nämlich immer beim alten Trecker von Grodes, weil sonst angeblich das Getriebe beim nächsten Starten einen Schlag bekam. Sagte der Grode-Junior, bei dem ich mir ab und an als Aushilfsfahrer etwas dazuverdiente. Auf exakt dem Trecker, der seinerzeit den alten Grode beim Pinkeln überrollt hat. Was ja nur passieren konnte, weil man bei dem immer auskuppeln musste. Und trotzdem bestand der junge Grode weiterhin darauf.
Überhaupt ist es ein komisches Gefühl, einen Trecker zu lenken, von dem man weiß, dass er schon einmal jemanden totgefahren hat. Oder eben totgerollt. Führerlos. Das hat der Trecker praktisch ganz allein gemacht. Quasi aus freien Stücken. Als wollte er den alten Grode für irgendwas bestrafen. Etwas, das der ihm angetan hat. Oder etwas, das der Grode einem anderen zugefügt hat. Das haben dann ja auch durchaus Leute im Ort vermutet. Dass der brave Trecker den alten Grode womöglich für etwas richten wollte. Für Taten, die der arme Trecker mitansehen und nicht mehr ertragen konnte. Für die Leute war das natürlich nur ein Scherz. Denn das war ja so ihr Humor. Aber man hat dann schon irgendwie einen anderen Respekt vor so einem Fahrzeug.
Ich hatte also vermutlich ausgekuppelt. Und deshalb zuckelte dieser verdammte BMW nun los. Um mich zu bestrafen. Für das, was ich seinem Fahrer angetan hatte. Oder was er denkt, dass ich ihm angetan hätte, denn eigentlich ist es ja schon erstaunlich, wie wenig ich bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich erst getan hatte. Gemessen daran, wie unglaublich schuldig ich mich bereits fühlte.
Ich schaute noch mal zum Auto. Keine Frage, es bewegte sich. Zweifellos nur noch ein kurzer Moment, bis der BMW-Vorhang den Blick auf die Leiche freigegeben hätte. Doch noch merkte Herr Schröder nichts. Zu beschäftigt war er wohl mit seiner angestrengten Suche nach einer neuen Gesprächsstrategie. Ich nutzte seine Unaufmerksamkeit, um unauffällig die drei Schritte zurückzuhuschen. Erneut direkt hinter das Auto. Doch diese Bewegung entging ihm nicht. Überrascht von meinem unmotivierten Zurückweichen, schaute er auf, und noch ehe einer von uns etwas sagen konnte, spürte ich das Gewicht der Limousine. Mit aller Kraft lehnte ich mich dagegen. Gleichzeitig konzentrierte ich mich darauf, so natürlich und entspannt wie nur möglich auszusehen.
Herr Schröder schien sich nicht ganz sicher, was er da gesehen hatte.
«Sag mal, wurdest du gerade von dem parkenden Wagen angefahren?»
«Was? Nein. Natürlich nicht. So ein Quatsch. Ich lehne mich nur ein wenig an, weil mir vom langen Stehen die Gelenke weh tun.»
«Echt? Das sieht aber nicht sonderlich bequem aus, wie du da stehst.»
«Doch. Doch. Für mich ist das sehr bequem. Gerade wenn ich mich mit Knie und Schulter so ein bisschen abstützen kann. Das mögen die Gelenke.»
Mein Lehrer zog die Stirn kraus. Offenbar fiel es ihm schwer, sich zwischen Verwunderung und Misstrauen zu entscheiden. Ich kannte diesen Blick. Es war genau der Blick, den Herr Schröder auch hatte, wenn ein Schüler wie ich plötzlich die Lösung einer Aufgabe präsentierte, für die er eigentlich zu blöd war. Wenn an sich klar war, dass der Schüler sie irgendwo abgeschrieben haben musste, dem Lehrer aber leider die Beweise fehlten, ihm das auch nachzuweisen. In solchen Fällen tat Herr Schröder, was jeder gute Pädagoge tut. Nämlich erst mal gar nichts. Vielmehr wartete er geduldig, bis der Schüler sich ganz von selbst reinritt.
«Na gut, dann stehst du da eben bequem. Aber du bist wirklich ganz sicher, dass du hier definitiv überhaupt gar nichts machst und auch nichts zu verbergen hast?»
Ich schluckte.
«Absolut.»
«Also ich gucke mir das jetzt mal genauer an.»
Er schüttelte den Kopf und schickte sich an, um den Wagen herumzugehen.