I n den Fünfzigerjahren war das Leben in Belgiens gehobenen Kreisen ähnlich streng reglementiert wie das am französischen Hof zur Zeit Heinrichs III . Ich musste mich gedulden, bis Danièle achtzehn und »in die Gesellschaft eingeführt« war, um ihr of‌fiziell den Hof machen zu dürfen.

Mit zwanzig sah ich keinen Grund mehr zu warten. Ich gestand ihr mein schreckliches Geheimnis: »Wenn ich Blut sehe, werde ich ohnmächtig.«

»An dir ist aber wirklich nichts gewöhnlich!«

»Das betrifft auch Tatar und Roastbeef.«

»Dann müssen wir eben Schuhsohle essen.«

Ich fragte sie, ob sie mich heiraten wolle, und sie sagte Ja. Das war 1956 . Unser gemeinsames Leben konnte beginnen.

Aber nein. Ausgerechnet diesen Moment wählte Pierre Nothomb für seinen Auf‌tritt. Er rief mich an, um zu erklären, dass er diese Verbindung untersage.

»Die Familie dieser Demoiselle ist für uns nicht gut genug.«

»Was sagen Sie da, Großvater?«

»Wir sind die Nothombs, wenn ich dich daran erinnern darf. Die Verfassung unseres Landes stammt von einem Nothomb.«

»Wir sind aber nicht die Windsors, soweit ich weiß.«

»Aber nicht so weit von ihnen entfernt, wie du denkst.«

Fest entschlossen, mich nicht auf seinen Wahn einzulassen, legte ich auf und ging zu Danièle.

Zum ersten Mal öffnete mir ihr Vater, ein Riese von fünfundvierzig Jahren und großer Eleganz.

»Patrick Nothomb, nehme ich an?«

»In Person. Ich möchte meine Verlobte besuchen.«

»Es tut mir leid, aber meine Tochter kann nicht Ihre Verlobte sein. Seien Sie sich meines tiefsten Bedauerns gewiss. Aber Ihr Großvater hat mich angerufen und mir verboten, Sie zu empfangen.«

»Wir müssen diesem Despoten nicht gehorchen.«

»Angesichts der Beschimpfungen, mit denen er meine Familie bedacht hat, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich mich dieser Verbindung entgegenstellen werde.«

Ich wurde von unsagbaren Gefühlen überwältigt: wahnsinniger Wut einerseits und ungemeiner Anziehung andererseits. Der Mann, den ich soeben kennengelernt hatte, verkörperte den Vater, von dem ich immer geträumt hatte. Und das Merkwürdigste daran war, dass die Sympathie auf Gegenseitigkeit beruhte: Dieser Vater dreier Töchter fand in mir den lang erhoff‌ten Sohn. Wir waren voneinander in Bann geschlagen, doch unsere Worte entsprachen in keiner Weise unseren Empfindungen.

»Monsieur, ich liebe Ihre Tochter und werde dafür kämpfen, dass sie meine Frau wird.«

»Sie sind mir sehr sympathisch, junger Freund. Aber vergeuden Sie nicht Ihr Leben für eine verlorene Sache.«

Meine Nachforschungen ergaben, dass Danièles Vater, Chevalier Guy Scheyven, dem Brügger Adel entstammte. Zwar war er eine Mesalliance eingegangen, als er Guilaine Boucher aus Tournai heiratete, die der dortigen Bourgeoisie entstammte. Aber daraus zu schließen, dass Danièles Familie für die Nothombs nicht gut genug sei, war ziemlich weit hergeholt. Das erklärte ich Pierre Nothomb auch am Telefon, doch der lachte mich schlichtweg aus.

»Später wirst du mir dafür dankbar sein, mein Lieber. Ich habe auch mit ihrem Vater gesprochen, und er hat mich sehr gut verstanden.«

»Ja, Sie haben diesen Mann, der die Noblesse in Person ist, zutiefst gekränkt.«

»Was befleißigst du dich für einer Sprache, Kleiner?«

»Einer weniger altmodischen als Sie jedenfalls.«

Auf eine so unwirkliche Situation war ich nicht vorbereitet gewesen. Aber das war nötig, um mir bewusst zu machen, wie rückständig die Welt war, der ich angehörte. In diesem Moment beschloss ich, gemeinsam mit Danièle die Heimat zu verlassen.

Auf Danièle zu verzichten kam natürlich nicht infrage. Also trafen wir uns heimlich. Der Ort unserer Rendezvous war der Pavillon de l’Octroi am Eingang zum Bois de la Cambre. Wir sahen uns nur einmal die Woche. In der restlichen Zeit schrieben wir einander leidenschaftliche Briefe, die uns Henri und Françoise überbrachten.

Nach Abschluss meines Jurastudiums durchlief ich erfolgreich das Auswahlverfahren für den Diplomatischen Dienst. Nun musste ich nur noch Danièle heiraten. Diese Absicht verkündete ich in ganz Belgien.

Bald darauf rief Pierre Nothomb mich an.

»Du hast wohl den Verstand verloren, Kleiner.«

»Was ich mache, ist vollkommen legal. Sie haben nicht das Recht, mich daran zu hindern.«

»Ich will diese Frau nicht sehen …«

»Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben. Danièle und ich kommen nächsten Samstag nach Pont d’Oye.«

»Ich werde sie nicht empfangen.«

»Großartig. Dann kann Danièle überall erzählen, dass Sie nicht nur ein Monster an Snobismus sind, sondern auch ein Mann ohne Manieren.«

Damit hatte ich ins Schwarze getroffen, und es war zu erwarten, dass Großvater meine Braut doch noch empfangen würde. Fragte sich nur, wie.

Am besagten Tag lieh ich mir den Wagen meiner Mutter, um mit Danièle in den hintersten Winkel der Ardennen zu fahren. Die Unglückliche, die nur allzu gut wusste, welche Prüfung ihr bevorstand, war bleich wie ein Leichentuch. Vergebens versuchte ich sie während der Reise aufzumuntern.

Wie eine Komtur-Statue erhob sich Pierre Nothomb vor dem Schloss. Bei der Begrüßung begann Danièle vor Schreck zu stottern.

»Bonjour, Mademoiselle«, sagte er förmlich. »Sie sind die Schönheit selbst.«

Das hätte ein höf‌liches Kompliment sein können, wäre es nicht von herablassenden Andeutungen umrahmt gewesen.

Nach und nach kamen die Nothombs, um den Gegenstand des Skandals zu beschnüffeln. Danièle wurde immer blasser. Die Familie nahm sie auf einen Waldspaziergang mit.

Großvater beobachtete sie unablässig aus den Augenwinkeln.

»Sie sehen ja gar nicht auf den See, Mademoiselle.«

»Doch, doch, das tu ich.«

»Und wie finden Sie ihn?«

Normalerweise war Danièle schlagfertig und wortgewandt. In dieser brutalen Prüfung allerdings verschlug es ihr einfach die Sprache.

»Ich finde den See … niedlich.«

Hämisches Gelächter. Simon, der die Szene noch etwas ausdehnen wollte, fragte Danièle, wie sie den Wald finde.

»Ich finde den Wald … lieblich«, stammelte sie.

Es war eine Treibjagd.

Beim Mittagessen brachte sie keinen Bissen hinunter.

»Sie wissen aber schon«, ätzte Pierre Nothomb, »dass Sie als Botschafterin, falls Sie das je werden sollten, von jedem Gang der protokollarischen Mahlzeiten zumindest kosten müssen?«

Danièle sah mich hilfeheischend an.

»Danièle achtet auf ihre Linie«, sagte ich aufs Geratewohl.

Schallendes Gelächter.

»Ich bitte Sie, Mademoiselle, Sie sind ohnehin so dünn wie ein Fädchen, das ist lächerlich.«

Als wir im Garten Kaffee tranken, sah ich, dass Großmutter freundlich mit meiner Verlobten sprach. Meine Erleichterung währte allerdings nur kurz, denn gleich darauf nahm Großvater mich beiseite.

»Ich denke, du hast es verstanden, Kleiner. Sie ist eine dumme Nuss. Eine Ehe mit ihr ist undenkbar. Ich tue dir nur einen Gefallen, glaub mir. Sie ist reizend, keine Frage. Du kannst sie dir ja als Geliebte halten.«

Zutiefst gekränkt, schützte ich eine Verpfl‌ichtung vor, um schnellstmöglich abzureisen und Danièle zu erlösen. Auf der Rückfahrt bekam ich einen Eindruck von ihrer positiven Sicht der Dinge.

»Dein Großvater kann einem schon ein bisschen auf die Nerven gehen«, sagte sie, »aber deine Großmutter mag ich sehr.«

Die Erniedrigungsrunden, die Pierre Nothomb ihr aufgezwungen hatte, hatte sie nicht einmal wahrgenommen. Welche Kraft, welcher Mut! Ich legte den 13 . Juni 1960 als unseren Hochzeitstag fest.

Wenig später erhielt ich Besuch von Danièles Vater.

»Noch ist es Zeit, das Ganze fallen zu lassen«, sagte er.

»Warum sagen Sie das? Ich hatte den Eindruck, dass Sie eine gewisse Sympathie für mich hegen.«

»Eben deshalb. Ihre Familie findet diese Verbindung skandalös.«

»Und Sie finden, dass es dafür gute Gründe gibt?«

»Nein. Aber ich möchte nicht, dass Sie eines Tages bereuen, meine Tochter geheiratet zu haben.«

»Das werde ich schon deshalb nicht, weil sie Ihre Tochter ist. Wissen Sie, die Tragik meines Lebens besteht darin, dass ich keinen Vater hatte. Und Sie sind für mich der ideale Vater.«

Von dieser Erklärung aus der Fassung gebracht, gab mein künftiger Schwiegervater seinen Widerstand auf.

Am Hochzeitstag versuchte es Pierre Nothomb bei ihm mit den gleichen Spielchen, die er schon Danièle aufgezwungen hatte. Ich sollte nie erfahren, was mein Schwiegervater ihm erwidert hatte, aber ich sah, wie Großvater erbleichte und von dannen zog wie nach einer schmählichen Niederlage. Danach war nie wieder von der angeblich niederen Herkunft meiner Frau die Rede.