Level 4
Teagan
Ich war total übermüdet – und das war ganz allein meine Schuld. Na ja, und die von Parker. Genau genommen war es allein seine Schuld, weil er mich herausgefordert hatte und wir die halbe Nacht Dead by Daylight gespielt hatten. In der ersten Runde waren wir beide ziemlich schnell gestorben. In der zweiten hatte ich ihn vom Haken gerettet, woraufhin er auf einer Revanche bestand, aber in Runde Nummer drei hatte der Killer uns beide direkt am Anfang getötet, weil er uns zusammen an einem Generator erwischt hatte. Bei Runde Nummer vier hatten wir ewig auf weitere Mitspieler warten müssen und vor lauter Langeweile angefangen, uns alberne Emojis und Lamabilder zu schicken. Im Anschluss daran hatten wir noch Guild Wars gezockt. Und ehe ich mich versah, war es vier Uhr morgens, und mein Wecker würde in zwei Stunden klingeln.
Was er leider auch pünktlich tat. Grummelnd tastete ich nach meinem Handy, um den nervigen Alarm auszuschalten – und fand nichts auf dem Nachttisch. Ich richtete mich auf den Ellbogen auf und sah mich aus zusammengekniffenen Augen um. Ugh. Jeder Muskel in meinem Körper schrie nach Schlaf, und ich bekam die Lider kaum auf. Aber mein Vergangenheits-Ich war um vier Uhr morgens clever genug gewesen, das Handy so weit entfernt vom Bett hinzulegen wie möglich, was mein Gegenwarts-Ich dazu zwang, jetzt aufzustehen.
Draußen war es schon hell, was es mir wenigstens ein bisschen leichter machte, richtig wach zu werden. Trotzdem wünschte ich mir, heute wäre nicht Freitag und damit kein Schultag. Argh. Wieso hatte ich gestern Abend nach dem Stream auch noch unbedingt zocken müssen? Ach ja. Weil Parker mich herausgefordert hatte.
Allein bei der Erinnerung daran musste ich den Kopf schütteln. Ich ging neben der Tür in die Hocke, hob mein Smartphone auf und schaltete den Alarm aus. Wie kam es, dass mich einer der berühmtesten Gamer des ganzen Landes kannte? Das war total absurd. Außerdem dachte ich besser nicht allzu genau darüber nach, wie viele Zuschauer und Fans Parker hatte, wie groß seine Reichweite war und dass er wahrscheinlich genug Geld verdiente, um in einem riesigen Haus mit Pool und eigenem Kinosaal zu leben.
Ich schnaubte leise. Wenigstens schien er nicht abgehoben zu sein – wenn man mal von seiner Arroganz absah, was Spiele betraf. Allerdings hatte es durchaus Spaß gemacht, mit ihm zusammen zu zocken.
Mit noch halb geschlossenen Augen schleppte ich mich ins Bad und schaffte es irgendwie, zu duschen, mich anzuziehen und anschließend sogar zu schminken, ohne mir Kajal, ­Augenbrauenstift oder Mascara aus Versehen in die Pupille zu jagen. Wirklich wacher machte mich das allerdings nicht. Da half nur noch Koffein. Eine Menge davon. Und vielleicht sollte ich mir auch gleich ein oder zwei – oder zehn – Dosen ­Energydrinks einpacken, da mir wieder mal ein langer Tag bevorstand.
Lustlos schlurfte ich die Treppe hinunter, erleichtert darüber, dass ich meine Tasche schon gestern Abend vor dem Livestream sortiert und damit alles eingepackt hatte, was ich für diesen Schultag benötigte.
»Guten Morgen, Teagan.« Dad stand an der Kochinsel und sah mich über den Rand seiner Kaffeetasse an.
Ich kam zu einem abrupten Halt und blinzelte mehrmals, doch das Bild vor meinen Augen blieb dasselbe. Litt ich unter Halluzinationen aufgrund von Schlafmangel? Aber nein, mein Vater war wirklich in unserer Küche und stellte gerade eine zweite Tasse in den Vollautomaten.
»Schwarz, richtig?«
»Mit drei Löffeln Zucker«, antwortete ich mechanisch und starrte auf seinen breiten Rücken.
Wie immer trug er einen maßgeschneiderten Anzug und hatte sich das dunkelbraune Haar, in dem keine einzige graue Strähne zu sehen war, zurückgekämmt. Ein frischer, würziger Duft hing in der Luft. Also war Dad offenbar nicht gerade eben aus dem Büro gekommen, sondern hatte hier geduscht und vielleicht sogar hier geschlafen.
Oh verdammt. Ob er mich letzte Nacht gehört hatte? Ich war nicht gerade leise gewesen, wann immer ich Parker, den Killer oder andere Mitspieler verflucht hatte. Andererseits waren die Wände in diesem Haus dick, und mein Zimmer lag weit genug vom Elternschlafzimmer entfernt. Vom Elternschlafzimmer . Richtig. Ich schnaubte innerlich, da Dad schon seit drei Jahren allein dort übernachtete. Wenn er überhaupt mal da war.
Das letzte Mal, dass ich meinen Vater morgens vor der Schule in der Küche angetroffen hatte, war … keine Ahnung. Es war so lange her, dass ich mich nicht mal mehr richtig daran erinnern konnte, weil dieser Mann praktisch in seiner Firma wohnte. Was diesen Morgen nur noch seltsamer machte.
»Guten Morgen«, trällerte Susanna, die mit ein paar Zwiebeln und einer Packung frischer Milch aus der Vorratskammer neben der Küche kam. Im Gegensatz zu mir schien sie überhaupt nicht überrascht zu sein, meinen Vater hier anzutreffen, also wusste sie Bescheid oder hatte bereits mit ihm ge­sprochen.
Susanna arbeitete für uns, seit ich denken konnte. Erst hatte sie Mom und Dad im Haushalt geholfen, dann war sie zu einer Art Nanny für mich geworden, wenn meine Eltern arbeiten waren. Aber das waren die seltenen Ausnahmen gewesen, denn Mom hatte sich immer Zeit für mich genommen. Sie hatte mich von der Schule abgeholt, war mit mir Eis essen gefahren, hatte mich bei meinem allerersten Besuch im GameStop begleitet und mir das erste Spiel gekauft. Aber auch nachdem Mom gegangen war, blieb Susanna ein fester Bestandteil unseres Lebens. Sie war diejenige, die dafür sorgte, dass im Haus alles sauber und aufgeräumt war, die mir Frühstück und Abendessen kochte und mir früher nach der Schule immer Gesellschaft geleistet hatte. Das war, bevor ich den Job im Coffeeshop angenommen hatte, um fürs College zu sparen. Ein College, das Dad nicht finanzieren wollte. Genauer gesagt, einen ganz bestimmten Studiengang, den er für sinnlos hielt.
»Teagan, setz dich doch«, forderte Susanna mich auf und deutete auf den Tisch in der Frühstücksecke. Sie lächelte warm. »Ich bin gleich mit dem Essen fertig.«
Ich folgte ihrer Anweisung automatisch, da ich noch immer zu überrascht und außerdem zu übermüdet war, um zu protestieren. Oder um überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen.
»Hier.« Dad stellte die Tasse vor mich und setzte sich mir gegenüber an den Tisch, wo bereits die Zeitung lag, die der Lieferjunge heute Morgen vor unser Haus geworfen haben musste.
Ich war kurz davor, mit lauter Fragen herauszuplatzen, hielt mich jedoch zurück. Denn im Grunde wollte ich gar nicht wissen, warum Dad an diesem Morgen plötzlich da war – und vor allem wollte ich nicht erfahren, dass er in zwei Minuten wegmusste oder noch heute eine längere Geschäftsreise antreten würde. Es war so lange her, dass wir zusammen gefrühstückt hatten, dass ich das hier einfach nur genießen wollte.
Dad schien meinen Blick zu bemerken, denn er schob die bereits aufgeschlagene Zeitung beiseite. Dann lächelte er leicht. »Was steht heute bei dir an?«
»Das Übliche. Schule. Arbeit. Du kennst das.« Nach außen hin gab ich mich unbekümmert und zuckte mit den Schultern, innerlich freute ich mich jedoch über diese Frage. Weil es so verflucht lange her war, dass sich abgesehen von unserer Haushälterin überhaupt jemand für das interessiert hatte, was ich tat. Genauer gesagt jemand, der nicht dafür bezahlt wurde.
Dad schmunzelte. »Auch wenn ich am Anfang nicht glücklich damit war, dass du nach der Schule jobbst, bin ich jetzt sehr froh darüber.«
»Tatsache?«
Er nickte. »Hart zu arbeiten ist eine gute Sache. Dabei lernst du wichtige Dinge, die dir in der Highschool keiner beibringt.« Er sah auf, als Susanna uns das Frühstück brachte und bedankte sich bei ihr.
»Danke«, sagte ich ebenfalls und stürzte mich als Erstes auf die Spiegeleier und den Toast. Wohlweislich hatte Susanna mir nur wenig Bacon und Würstchen dazugelegt, da sie wusste, dass fettiges Essen am Morgen nicht gerade mein Favorit war.
Dad warf einen kurzen Blick auf sein Handy, und ich wappnete mich innerlich bereits, doch dann legte er es beiseite und griff nach seiner Gabel. »Hast du schon was von den Colleges gehört, bei denen du dich beworben hast?«
Ich war gerade dabei, erleichtert aufzuatmen, als diese Frage kam und sich alles in meiner Brust zusammenzog. Plötzlich fand ich meine Spiegeleier höchst interessant und zerschnitt die dazugehörigen Pancakes mit akribischer Genauigkeit.
»Noch nicht«, log ich und schob mir einen großen Bissen in den Mund.
Denn hier kam das Problem: Mom und Dad waren vorbildliche Schüler gewesen und die Universitäten – privat und staatlich – hatten sie mit Kusshand genommen. Mich dagegen? Eher weniger. Von den bisherigen Colleges, bei denen ich mich nur auf Dads Wunsch hin beworben hatte, hatte ich entweder noch keine Antwort oder bereits Absagen bekommen. Nur Washington D. C. stand noch aus. Ausgerechnet die Uni, auf der Dad mich gerne sehen würde, weil sie einen sehr guten Ruf hatte, er ein paar der Dozenten persönlich kannte und vor allem natürlich, weil er selbst dorthin gegangen war. Eine katholische Universität ohne kreative Kurse – und damit das letzte College, auf das ich gehen wollte. Mal ganz davon abgesehen, dass keine einzige dieser Universitäten, die er ausgesucht hatte, Game Design als Studienfach anbot. Aber das war ein ganz anderes Thema. Eines, über das wir schon viel zu oft diskutiert hatten. Und ich hatte keine Lust auf weitere Streitereien deswegen.
»Hm«, machte Dad und trank einen Schluck von seinem frisch gepressten Orangensaft, ehe er sich wieder dem Frühstück widmete. »Mach dir keine Gedanken. In den nächsten Wochen müssten die ersten Zusagen kommen und dann können wir entscheiden, welches College es wird.«
Wir. Nicht du, Teagan. Wir würden das entscheiden. Ich antwortete nicht darauf, zerkaute mein Essen aber mit mehr Gewalt als nötig. Irgendwann würde mein Vater akzeptieren müssen, dass ich nicht in die Business-Schiene wollte wie er, und dass aus seinem kleinen Mädchen auch keine Ärztin oder Anwältin werden würde, weil ihre Noten viel zu schlecht dafür waren. Und weil sie verdammt noch mal keine Lust auf den Scheiß hatte.
Ich wollte Game Design studieren und eines Tages bei einem der ganz großen Spieleentwickler arbeiten. Ich wollte neue Welten miterschaffen, mir coole Konzepte überlegen und den Leuten das geben, was Spiele mir gegeben hatten: eine Zuflucht aus dieser beschissenen Welt. Das wollte ich schon, seit ich das erste Game gezockt hatte. Mom hatte das gewusst und mich immer in diesem Bestreben unterstützt. Aber Mom war nicht mehr hier …
»Schmeckt es dir nicht?«, fragte Dad plötzlich und deutete mit einem Kopfnicken auf meinen fast vollen Teller, während seiner bereits zur Hälfte geleert war. »Ich bin sicher, Susanna kann dir etwas an…«
»Das Frühstück ist toll.« Wie zum Beweis lud ich meine Gabel extra voll und schob sie mir in den Mund.
Dad nickte zufrieden, und Susanna warf mir ein Lächeln zu, bevor sie sich wieder den Pfannen widmete, die sie gerade abspülte.
»Bist du am Wochenende zu Hause?«, fragte ich schließlich, auch wenn mich diese Frage Überwindung kostete. Ich kannte niemanden, der fast darum betteln musste, Zeit mit seinen Eltern verbringen zu dürfen. Andererseits kannte ich nicht viele Leute, also war das vielleicht etwas völlig Normales.
Das Gesicht meines Vaters hellte sich auf. »Darüber wollte ich mit dir sprechen. Ich bin …«
Ein Vibrieren unterbrach ihn mitten im Satz. Dad griff nach seinem Smartphone und nahm den Anruf entgegen, obwohl er früher immer gepredigt hatte, dass Handys am Esstisch nichts zu suchen hatten. Aber da war er wenigstens noch an den Wochenenden zum Essen daheim gewesen.
»Nein, schon gut«, sagte er jetzt und notierte sich etwas an den Rand der Zeitung. »Das ist keine Unannehmlichkeit. Gut, dass Sie sich gemeldet haben. Ich kümmere mich umgehend darum.«
Hoffnung war ein trügerisches Miststück. Man spürte kaum, wenn sie sich anschlich und einen wie eine warme, flauschige Decke einhüllte. Dafür merkte man umso deutlicher die Eiseskälte, wenn sie sich ohne Vorwarnung wieder verabschiedete.
Ich trank ein paar Schlucke, aber das bittere Gefühl blieb. Und das lag nicht am schwarzen Kaffee.
Dad beendete das Telefonat und schob den Stuhl zurück. »Tut mir leid, aber das kann nicht warten. Ich muss sofort los.«
Ich nickte nur und verzog meinen Mund zu einem Lächeln, das meine Augen nicht erreichte. Was hatte ich auch anderes erwartet? So langsam müsste ich doch daran gewöhnt sein, dass es für die Menschen in meinem Leben immer etwas oder jemanden gab, der oder das wichtiger war als ich. Erst Mom, dann meine Kindergartenfreundin Penny und dann auch noch mein Ex-Freund Brandon … Für sie alle war ich irgendwann nicht mehr wichtig genug gewesen. Da sollte es wirklich keine Überraschung mehr sein, schon gar nicht von meinem Dad, bei dem es im Grunde schon so gewesen war, seit ich denken konnte.
»Macht nichts«, kam es mir ganz von selbst über die Lippen. Ich schaufelte noch zwei Bissen in mich rein und trank den Kaffee aus, dann stand ich ebenfalls auf. »Ich muss auch los. Die Bildung wartet nicht.«
Dad warf mir ein abgelenktes Lächeln zu. Aber vielleicht galt das auch dem Handydisplay, wer wusste das schon so genau? Innerhalb von Sekunden war er weg, und gleich darauf war der BMW zu hören, der die Einfahrt verließ. Dass er den neuen Wagen nicht mal in die Garage gestellt hatte, verriet schon alles.
Ich mied Susannas mitfühlenden Blick, stopfte ein paar Energydrinks in meine Tasche und nahm die Brotdose, die sie auf die Kochinsel gestellt hatte, dann machte ich mich ebenfalls auf den Weg.
Hoffnung war zum Kotzen. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich nie wieder auf etwas hoffen wollen – oder auch nur in Versuchung geraten, mich auf andere Menschen zu verlassen. Wozu auch? Die Enttäuschung war von Anfang an vorprogrammiert.
Als ich abends nach Hause kam, war die Sonne schon untergegangen, und meine Laune befand sich auf einem ähnlichen Tiefpunkt. Freitagabende im Coffeeshop waren das Letzte. Als hätte jemand alle Idioten der Welt rausgelassen und ihnen lediglich eine Richtungsanweisung gegeben – direkt zu uns. Nur dass an den Wochenenden zusätzlich zu den Idioten auch noch Betrunkene dazukamen, da der Laden vierundzwanzig ­Stunden am Tag geöffnet hatte. Ich mied die Nachtschichten, auch wenn sie gutes Geld einbrachten, da ich in der Zeit streamen und schlafen wollte. Aber die Abendschichten nahm ich mit.
Nach so vielen Stunden hinter dem Tresen taten mir nicht nur die Füße, sondern auch das Gesicht weh. Letzteres vor allem von den vielen Fake-Lächeln, zu denen ich mich jedem Kunden gegenüber zwingen musste, und weil ich die Zähne die ganze Zeit so fest zusammengebissen hatte. Aua. Nur ein Freitagabendstream und ein paar möglichst gewalttätige Spiele konnten diesen Tag noch retten.
Im Haus war es wie so oft dunkel. Ich kümmerte mich um die Alarmanlage und schaltete das Licht ein, holte mir aus der Küche den Auflauf, den Susanna für mich zubereitet hatte, und aß ihn noch im Gehen. Oben angekommen verschlang ich den Rest, machte mich kurz frisch, dann startete ich den Computer.
»Hi zusammen!«, begrüßte ich den Chat etwas zu überschwänglich, aber ich war einfach so froh und erleichtert, jetzt hier zu sein und diesen miesen Tag hinter mir zu haben. Mehr noch. Es war Wochenende. Und bis auf eine Schicht am Sonntag hatte ich frei. Frei! Was zur Hölle sollte ich nur mit der ganzen Zeit anfangen?
»Sorry, dass es so spät geworden ist«, entschuldigte ich mich und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag wirklich ehrlich. »Ich war noch bei der Arbeit und bin nicht früher weggekommen. Wie war euer Tag?«
Ich goss mir eine Cola ein und überflog die Antworten, während ich trank. Es war erstaunlich, wie viel die Leute online von sich preisgaben. Viele meiner Zuschauer waren in meinem Alter oder noch jünger und erzählten jetzt von der Schule, andere freuten sich genau wie ich aufs Wochenende, und wieder andere standen kurz vor der Geburt ihres Kindes, saßen inmitten von Kartons in ihrer neuen Wohnung oder hatten sich zu einem Mädelsabend mit Pizza und Wein versammelt, um mir beim Zocken zuzusehen. Manchmal fragte ich mich, warum sich diese Leute dazu entschlossen, ihren Freitagabend ausgerechnet hier mit mir zu verbringen. Okay, das war gelogen. Das fragte ich mich sogar ziemlich oft. Gleichzeitig war ich aber auch so unendlich dankbar dafür, dass es diese Leute, diese Community gab, dass ich manchmal nicht wusste, wohin mit diesen ganzen Empfindungen.
Games und Livestreams hatten mir in den schwierigsten Zeiten meines Lebens geholfen. Sie hatten mich abgelenkt, als ich es am dringendsten gebraucht hatte. Sie hatten mir etwas zum Nachdenken gegeben, mich lachen, weinen und fühlen lassen. Aber vor allem hatten sie mir ein Zuhause gegeben, als mein eigenes auseinandergebrochen war.
»Wow. Ihr habt eindeutig spannendere Leben als ich.«
Das erntete ein paar Lacher im Chat, und ich grinste.
»Was wollen wir heute spielen? Sollen wir direkt mit Lara Croft weitermachen? Oder erst mal etwas anderes zum Aufwärmen?«
jaaaa
Guild wars war letztes mal so cool
DBD! DBD!!
oh ja, dead by daylight!
also ich bin ja immer noch für hello kitty online
Ich prustete leise. »Nein, wir spielen immer noch kein Hello Kitty«, wies ich den Chat zurecht.
Die Reaktion waren lauter Emojis, die mir die Zunge rausstreckten. Typisch.
Die Leute warfen mit weiteren Vorschlägen um sich, aber ich startete bereits Dead by Daylight. Obwohl man im Grunde ständig dasselbe tat – Generatoren reparieren und vor dem Killer fliehen –, hatte dieses Spiel eindeutig Suchtpotenzial. Vor allem nach letzter Nacht.
YESSSS! DBD!!
mega!!
machen wir wieder community runden?
Kann ich der Killer sein?
hey, dein rang hat sich verbessert! hast du etwa ohne uns gespielt??
Ich blinzelte kurz, überrascht davon, dass das jemandem aufgefallen war, obwohl ich es nicht mal selbst gemerkt hatte. Andererseits war ich letzte Nacht zu übermüdet gewesen, um überhaupt noch etwas wahrzunehmen.
»Stimmt, ich hab ein bisschen ohne euch trainiert«, gab ich zu und registrierte die ersten Spenden des Abends. Es war nicht viel, aber jeder Dollar zählte. Außerdem war das Geld zweitrangig. Bei den Streams ging es mir vor allem um den Spaß und die Community.
Eine sehr aufmerksame Community, wie ich wieder mal feststellte, während ich meine Überlebende in der Lobby mit Inventar und Opfergabe ausstattete. Dass ich gestern ausgerechnet mit Parker4G trainiert hatte, erwähnte ich nicht. Zum einen tat das absolut nichts zur Sache, zum anderen wollte ich mich nicht dadurch profilieren. Und vielleicht wollte ein kleiner Teil von mir das auch nicht preisgeben, weil es keine Streaming-Sache war, sondern etwas … Persönliches.
Ich schnaubte. Persönlich . Als ob. Trotzdem hielt mich irgendetwas davon ab, meinen Zuschauern davon zu erzählen.
Was als Aufwärmen begann, endete erst nach zehn oder elf Runden mit der Community. Auf einmal war es zwei Stunden später und meine Cola fast leer.
»Ich hole mir kurz was zu trinken, dann starten wir mit Tomb Raider. Diesmal wirklich!«, versprach ich, nahm das Headset ab und stand auf.
Ich sprintete nach unten, um mir eine neue Flasche aus dem Kühlschrank zu holen, dazu noch zwei Energydrinks, auch wenn mich der hohe Konsum dieses Zeugs wahrscheinlich irgendwann ins Grab bringen würde. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Bad kehrte ich zurück und ließ mich auf den bequemen Gaming-Stuhl fallen.
»Weiter geht’s! Ich bin versorgt und ihr hoffentlich auch.«
Ich schob das Discord-Fenster auf den anderen Monitor, ließ das Programm aber offen, da Alice mir dort schrieb und mich informierte, sollte irgendetwas mit dem Stream oder Chat sein. Dann startete ich das Game auf dem Hauptbildschirm. Sofort erfüllte die verpixelte Grafik den Stream, und die Leute jubelten, als Lara Croft in ihrem mintfarbenen Tanktop und den Hot Pants erschien. Ganz ehrlich? Diese Figur mit den Riesenbrüsten und der superschmalen Taille war schon längst keine Frau mehr, und die Game Designer gehörten mit dicken Wälzern über Sexismus und Gender-Debatten geschlagen. Trotzdem waren die Spiele gut. Außerdem war Tomb Raider das Game, mit dem ich damals angefangen hatte. Das Game, das mich als allererstes in diese fremden, spannenden Welten eingeführt und meine Liebe zum Zocken geweckt hatte. Also konnte ich auch über Laras XXL-Brüste hinwegsehen. Meistens zumindest. Wenn sie mir nicht gerade die Sicht auf irgendwelche Gegner oder Wände verdeckten, an denen ich hochklettern musste.
Der letzte Speicherpunkt lud, und schon fanden wir uns in Level 5 in der Wüste Nevadas wieder, wo ich erst mal die kreisenden Geier besiegen musste. Der Vorteil an den alten Games waren eindeutig die Sprünge und Saltos, die Lara Croft in den neueren Spielen noch nicht draufhatte, weil sie die Vorgeschichte darstellten. Aber solange ich die alten Teile durchspielte, genoss ich dieses Detail sehr.
»Okay, hier ist nichts außer einer dämlichen Schlange«, murmelte ich und lief weiter, durch einen Tunnel hindurch, bis ich in einer Höhle landete, wo weitere Schlangen und ein Medipack auf mich warteten. »Finden wir hier noch etwas anderes?«
Ich sah kurz zum Chat, dann auf den anderen Monitor, wo Alice etwas bei Discord geschrieben hatte. Ohne nachzudenken, klickte ich auf den grünen Button bei einer neu aufploppenden Meldung, und dann auf den Screenshot, den mir meine Moderatorin geschickt hatte. Anscheinend hatte der Stream kurz geruckelt, was an der Internetverbindung liegen könnte, aber jetzt schien alles wieder zu funktionieren.
»Seid ihr noch alle dabei?«, fragte ich und sah wieder zum Chat. »Läuft alles bei euch?«
»Also bei mir läuft es super«, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme in meinem Ohr.
Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich beinahe mein Glas umstieß und mir fast die Kopfhörer runterriss. »Was zur Hölle?!«
Mein Herz raste wie verrückt, und meine Hände zitterten, während ich zu begreifen versuchte, was gerade passierte. Der Chat explodierte auf einmal nur so vor Nachrichten, Emojis und Großbuchstaben, und lief so schnell durch, dass ich kaum etwas davon richtig erkennen konnte.
»Hey TRGame«, sagte wieder diese Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam und bei der sich mein Herzschlag verdreifachte. Sie war warm und hatte einen weichen Südstaatenakzent, der mich ganz kirre machte.
Und plötzlich wusste ich ganz genau, was gerade passiert war und mit wem ich da sprach, auch wenn ich nicht fassen konnte, wie das überhaupt möglich war. Und warum. Aber gerade eben hatte ich bei Discord noch eine Meldung weggeklickt. Zumindest hatte ich das geglaubt, aber wie es aussah, hatte ich stattdessen einen Anruf entgegengenommen.
Ich räusperte mich. »Parker …?«
»Hundert Punkte!« Auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, war das Grinsen deutlich aus diesen Worten herauszuhören. »Sag Hallo zu fünfundneunzigtausend Zuschauern!«
Vielleicht war es ganz gut, dass ich mein Glas vorsorglich von meiner Tastatur weggeschoben hatte, denn jetzt hätte ich seinen Inhalt definitiv darüber ausgegossen. Fünfundneunzigtausend Zuschauer? Was. Zum. Teufel?
»Hi«, brachte ich irgendwie hervor, klang dabei aber ein bisschen erstickt. »Streamst du etwa gerade?«
Gott, und ich redete hier mit ihm. So ganz nebenbei, als wäre das völlig normal. Oder als hätte mich der Mistkerl vorgewarnt, denn das hatte er definitiv nicht!
»Vielleicht …?« Und da war sie wieder, diese gedehnte, fast schon entspannte Sprechweise aus den Südstaaten, die man hier oben in Washington so selten hörte, und die mich an heiße Sommer, endlos weite Felder und lange Abende auf einer Veranda denken ließ.
Etwas blinkte rechts von mir auf, gleich darauf erschien eine Meldung nach der anderen auf dem Hauptmonitor, alle inklusive herumhüpfendem Gif. Meine Followerzahl stieg – und das in einem rasanten Tempo. Genauso schnell wie die Spenden eintrafen. Immer mehr und höhere Beträge innerhalb so kurzer Zeit, dass mir der Kopf schwirrte und ich überhaupt nicht mehr mitkam.
Was passierte hier?