Level 6
Teagan
RTX, Austin, Texas
Ich war nervös. Das letzte Mal, dass ich mich so gefühlt hatte, war, als ich Dad von meinen Plänen erzählt hatte, Game Design zu studieren. Zu sagen, dass er es nicht gut aufgenommen hatte, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Er war ausgerastet. Damals war meine Nervosität also durchaus berechtigt gewesen. Aber jetzt?
»Komm schon, Teagan!« Alice stand schon am Ende der Schlange, kam jetzt aber noch mal zurück, um mich am Arm zu packen und mit sich zu ziehen, weil ich ein paar Meter davor stehen geblieben war.
Jetzt standen wir wieder in Reih und Glied – ich in meinen Alltagsklamotten und Alice in ihrem Cosplay von Alice im Wunderland. Inklusive blonder Perücke und blauem Haarband, farblich passend zu ihrem Kleid. Wenn schon Alice, dann auch richtig, hatte sie gesagt, als sie mir mit einem breiten Grinsen in der Hotellobby entgegengekommen war.
Und obwohl ich Alice gerade mal seit einer halben Stunde persönlich kannte, moderierte sie meine Streams schon fast von Anfang an. Sie war eine meiner ersten Zuschauerinnen gewesen und hatte schon damals im Chat durchgegriffen, wenn sich mal ein paar Idioten danebenbenommen hatten. Da war der Sprung zur Moderatorin selbstverständlich gewesen. Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, dass wir uns persönlich gegenüberstehen würden. Davon, gemeinsam auf eine Convention zu gehen, mal ganz abgesehen.
»Das wird toll!«, behauptete sie jetzt und hakte sich bei mir unter, als wollte sie verhindern, dass ich wieder einfach stehen blieb – oder weglief. »Du wirst sehen.«
Ich nickte nur, da mir noch immer die Worte fehlten. Ich war nie wirklich aus meiner Heimatstadt rausgekommen, ganz zu schweigen davon, den Bundesstaat zu verlassen, auch wenn ich mir das mit jedem weiteren Jahr, das ich dort verbrachte, mehr gewünscht hatte. Und jetzt hatte ich nicht nur Washington verlassen, sondern war einmal quer durchs ganze Land gereist. Die Flüge nach Texas waren unglaublich teuer gewesen, aber das war immer noch besser, als über zweiunddreißig Stunden mit dem Auto zu fahren – und das ohne Pausen gerechnet. Mein Gewissen hatte ich damit beruhigt, dass ich nicht nur wegen der Convention hergekommen war, sondern mir auch den Campus ansah.
Das Terrence College lag ziemlich zentral – ich hatte mir extra ein Hotel ganz in der Nähe ausgesucht – und bot einen hervorragenden Game-Design-Studiengang an. Mehrere renommierte Namen, die hier studiert hatten, arbeiteten jetzt bei den ganz großen Unternehmen und lebten meinen Traum. Ich wollte das auch. Ich wollte es so sehr, dass ich alles dafür tun würde, um hier angenommen zu werden.
Sicher, das West Florida Media & Arts College und die University of Southern California waren auch gute Optionen, und ich würde keine Sekunde zögern, dorthin zu ziehen, sollte mich eine dieser Unis annehmen. Zur Not ging auch das DigiPen Institute of Technology in Redmond, Washington, wobei mir das eindeutig zu nahe an meiner Heimatstadt war. Aber nachdem mir meine erste Wunsch-Uni in New York vor rund zwei Wochen abgesagt hatte, war das kleine private – und damit unendlich teure – Terrence College in Austin, Texas, das sich auf Game Art, Game Design und Game Engineering spezialisiert hatte, meine neue Nummer eins geworden.
Allein beim Gedanken an den hübschen kleinen Campus, den ich gestern Nachmittag besucht hatte, und die Möglichkeit, dass ich in einem halben Jahr dort leben könnte, machte mein Magen einen Sprung und zog sich dann vor Anspannung zusammen.
Das könnte allerdings auch an den riesigen Schlangen am Eingang zur RTX liegen, die sich vor den Taschenkontrollen gebildet hatten. Wer war auf die blöde Idee gekommen, ausgerechnet am Samstag, dem Haupttag der Convention, herzukommen? Ach ja: ich. Dass wir hier in der prallen Morgensonne standen, mit Sonnenbrillen auf den Nasen und Kaffeebechern in den Händen, war ganz allein mein Verdienst.
Im Gegensatz zu mir hatte Alice einen wesentlich kürzeren Weg hierher gehabt. Sie wohnte zusammen mit ihrer Partnerin Jo, die auf der Convention als Security arbeitete, in Austin. Sie war auch diejenige gewesen, die mich letztlich dazu überredet hatte, nicht länger herumzuüberlegen, sondern die Tickets einfach zu buchen und herzufliegen. Ohne Ankündigung für meine Zuschauer, denn dafür war es zu knapp gewesen und – ganz ehrlich? Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, was ich hätte sagen sollen.
Hey Leute, ich bin auf der RTX! Überraschung! Lasst uns zusammen einen Kaffee trinken gehen!
Ähm … Nein. Einfach nein. Mal ganz davon abgesehen, dass hier so viele Berühmtheiten herumschwirrten, dass mich sowieso keiner erkennen würde. Was gut war. Auf Distanz und hinter einem Monitor waren mir andere Menschen tausendmal lieber als live und in Farbe. Und noch eine Sache, auf die ich gut verzichten konnte: die Gerüche. Es war schon jetzt so verflucht warm, dass mir mein schwarzes Top am Rücken klebte, und irgendetwas sagte mir, dass das in den Hallen nicht viel besser sein würde.
Doch Alice zog mich erbarmungslos weiter, und wir rückten in der Schlange nach vorne. Wenigstens fiel ich mit meinen braunen, auf halber Höhe knallig lila gefärbten Haaren und den Fingernägeln in der gleichen Farbe nicht auf. Da zog Alice schon deutlich mehr Blicke auf sich. Wobei auch sie zwischen all den anderen Cosplayern und Leuten mit bunt gefärbten Haaren und Gaming-T-Shirts kaum hervorstach.
Direkt vor uns stand eine Gruppe junger Mädchen in Sailor-Moon-Outfits im Punk-Stil. Weiter vorne erkannte ich den Vault Boy aus Fallout mit blondem, leicht gelocktem Haar und blau-goldenem Anzug. Neben ihm tippte Deadpool etwas in sein Handy. Und ein Stück hinter uns liefen ein paar Gestalten aus Final Fantasy zusammen mit Captain America herum.
Und obwohl mich die schiere Masse an Menschen um mich herum schon jetzt geradezu erdrückte, fühlte ich mich nicht … fremd. Zu Hause fiel ich immer negativ auf – sei es mit meinem Aussehen, meinen Interessen oder meinem Verhalten. Vor allem in der Highschool, wo es nur so vor Barbiepüppchen wie Maddison Mae und dazu passenden Kens wie Brandon wimmelte. Gott sei Dank hatte ich mittlerweile meinen Abschluss und würde diese Flure nie wieder betreten. Die Leute, mit denen ich gezwungenermaßen die letzten vier Jahre meines Lebens verbracht hatte, musste ich echt nicht wiedersehen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, in Wahrheit aber nur eine knappe halbe Stunde, bis wir die Taschenkontrolle erreichten, unsere Ausweise samt Schlüsselbändern erhielten und die Convention betraten. Meine Finger kribbelten vor Aufregung, und mein Magen gurgelte leise, weil ich bisher nur Kaffee zu mir genommen hatte. Aber mehr hatte ich einfach nicht runterbekommen.
Ich hängte mir meinen Fachbesucher-Ausweis um, auf dem zum Glück nicht mein richtiger Name, sondern einfach nur TRGame stand – und trotzdem musste ich dem Drang widerstehen, ihn einfach einzustecken, sodass ihn niemand lesen konnte. Was lächerlich war. Das war nicht die Highschool und auch keine Mall in meiner Heimatstadt, sondern eine Gaming Convention. Das hier waren Leute wie ich. Und dieser Gedanke half mir dabei, mich etwas zu entspannen, während wir den Eingangsbereich durchquerten und die erste Halle im Erdgeschoss betraten.
Überall waren Stände von großen und kleinen Entwicklern, bekannten Namen genauso wie Indie-Game-Studios, die ihre neuesten Spiele mitgebracht hatten – manche davon sogar noch vor dem offiziellen Release. Und das Beste daran? Wir konnten sie schon testen.
»Ich bin im Himmel!«, stieß ich hervor.
Alice blieb grinsend neben mir stehen. »Ich hab dir doch gesagt, dass es toll wird. Also: Wo wollen wir zuerst hin? Wir haben Zeit bis ungefähr elf.«
Ich warf ihr einen misstrauischen Blick zu und wich einer Gruppe von Leuten in unserem Alter aus. »Was ist um elf?«
Alice wedelte nachlässig mit der Hand. »Ach, nicht so wichtig. Aber um zwölf beginnt dein Retro-Panel, zwischendurch lasse ich dich kurz allein, um Jo zu besuchen, und um drei ist das Live Let’s Play.«
»Welches Live Let’s Play?«
Grinsend hakte sie sich wieder bei mir unter und zog mich an den Ständen vorbei. »Für das ich dich angemeldet habe. Du brauchst echt eine Managerin, T.«
Ich prustete. Ja, klar. Vielleicht sollte ich ihr böse sein, dass sie mich ohne mein Wissen bei diesem Live Let’s Play angemeldet hatte, aber um ehrlich zu sein, freute ich mich schon jetzt darauf. Außerdem war ich es schon gewohnt, live vor Leuten zu spielen, also konnte das hier nicht so viel anders sein, oder?
In den nächsten zwei Stunden wanderten wir durch die Hallen auf den verschiedenen Ebenen. Wir schauten uns die Stände an, Alice kaufte sich in einem Shop ein Plüsch-Pikachu, wir legten eine kleine Pause ein, um uns eine Schale Pommes zu teilen und etwas zu trinken, dann zogen wir weiter. Soweit ich mitbekommen hatte, sollte es heute Nachmittag ein Meet & Greet mit einigen Produzenten geben, zu dem ich unbedingt gehen wollte, und abends dann exklusive Screenings sowie eine Party auf dem Convention-Gelände. Vorher – und damit vor meinen eigenen Terminen – wollte ich noch zu den Ständen der Manga- und Game-Art-Künstler, doch Alice deutete zur Rolltreppe in die entgegengesetzte Richtung.
Ich warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Zeichnungen an den Ständen, folgte ihr dann jedoch. Später würde ich auf jeden Fall hierher zurückkommen und mich mit den Leuten unterhalten. Vielleicht konnte ich herausfinden, wo sie studiert hatten – falls sie das überhaupt hatten –, und an welchen Game Designs sie aktuell arbeiteten.
Die ganze Zeit über hatte ich ganz bewusst nicht auf mein Handy geschaut und ganz bewusst nicht daran gedacht, dass Parker ebenfalls irgendwo hier herumschwirrte. Und das war mir ziemlich gut gelungen, weil es auf der Convention so unheimlich laut war, so viel zu sehen und zu erleben gab und ich ständig abgelenkt wurde. Aber als Alice jetzt geradewegs zu den Signings marschierte, wurde mir unweigerlich flau im Magen.
Ja, es könnte durchaus sein, dass sie zu einem ganz bestimmten Let’s Player oder Gaming-Star wollte, davon gab es schließlich genug in der Branche, und ich wusste zufällig, dass sie ein riesiger Fan von einigen von ihnen war. Innerlich hoffte ich darauf, dass sie die Räume, die ausschließlich für Signierstunden reserviert waren, nur deshalb ansteuerte. Aber eine leise Stimme tief in meinem Inneren wusste es besser.
Und sie behielt recht. Denn in dem Raum, den wir gerade durch einen Seiteneingang betraten, der nur für Fachbesucher zugänglich war, hatte niemand Geringeres als Parker seine ­Autogrammstunde.
Ich blieb so abrupt stehen, dass meine Stiefel auf dem Linoleumboden quietschten. Glücklicherweise ging das Geräusch völlig unter, denn es war verflucht laut. Die Schlange war endlos, und nur weil wir von der Seite hereingekommen waren, konnten wir überhaupt einen Blick auf Parker werfen.
Er war … groß. Seltsam, dass mir ausgerechnet das als Erstes auffiel, aber er war eindeutig ein ganzes Stück größer als ich. Und mit den strahlend blauen Augen, den dunklen Haaren, die an der Seite kurz geschoren und oben ein, zwei Zentimeter länger waren, im echten Leben noch attraktiver als in seinen Livestreams. Obwohl er auf den ersten Blick ein bisschen schlaksig wirkte, bemerkte ich den trainierten Bizeps und die starken Arme, wann immer er für einen seiner Fans etwas unterschrieb oder den- beziehungsweise diejenige kurz umarmte.
»Ich hasse dich«, murmelte ich an Alice gewandt, ohne den Blick von Parker zu nehmen. Ich hatte es zwar schon geahnt – oder vielmehr befürchtet –, aber dass Alice mich wirklich geradewegs hierhergebracht hatte, war nicht fair. Und so was von nicht abgemacht! »Ich hasse dich so sehr!«
»Damit kann ich leben«, zwitscherte sie gut gelaunt.
Verdammt. Warum konnte Parker nicht wie eine Vogelscheuche aussehen und mega unsympathisch sein? Meinetwegen auch unhöflich und einfach ein Arschloch. Und wieso musste er eine so verflucht angenehme Stimme haben, die mich in den letzten Wochen ständig begleitet hatte? Nein, nicht begleitet. Verfolgt . Parkers Stimme mit dem warmen ­Südstaatenakzent hatte mich regelrecht verfolgt. Mich – und tausend andere, wenn ich mir die Warteschlange so anschaute, die zum größten Teil aus Frauen und jungen Mädchen bestand.
Alice stieß mich mit dem Ellbogen an. »Willst du nicht hingehen?«
Ich lachte ungläubig auf und riss den Blick zum ersten Mal von Parker los, um meine Moderatorin entsetzt anzustarren. »Machst du Witze? Ich soll mich da anstellen? Nein, danke. Ich kann meine Lebenszeit anderweitig wirklich besser verschwenden.«
Sie seufzte. »Aber ihr kennt euch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich nicht anstellen musst, um einen Moment mit ihm zu reden.«
Hey, und falls du doch noch zur RTX kommst, schau vorbei und sag Hallo, ja?
Natürlich musste mir Parkers Nachricht ausgerechnet jetzt wieder einfallen. Und ein Teil von mir … verdammt, ein viel zu großer Teil von mir wollte genau das tun. Einfach da hinmarschieren, über das Absperrband klettern, seine Signierstunde crashen und Hallo sagen. Bei der bloßen Vorstellung musste ich ein irrwitziges Lachen unterdrücken. Und diese Aktion auch noch vor den Augen all dieser Leute? Seiner ganzen Zuschauer, Fans und Follower? Nein. Never ever. Lieber ließ ich Parkers Team freiwillig im Guild Wars PvP gewinnen. Wir kannten uns gerade mal seit … was? Fünf Wochen? Mehr? Weniger? Außerdem hatten wir bisher immer nur miteinander gechattet. Na gut. Und ein bisschen geflirtet. Aber das war’s auch schon. Das war definitiv kein Grund, ihn anzusprechen. Schon gar nicht hier und jetzt.
»Geh schon hin!«, drängte Alice.
»Ich kann nicht!«, stieß ich hervor.
»Ach nein?« Sie runzelte die Stirn. »Und warum nicht?«
»Er ist … beschäftigt. Sieh dir doch nur mal diese Schlange an.« Ich deutete auf die ganzen Leute. Die Schlange zog sich durch die halbe Halle. Wenn nicht sogar noch weiter. Manche saßen auf dem Boden, statt zu stehen, was mir nur zu deutlich vor Augen führte, wie lange sie hier schon auf ihren Lieblingsgamer warteten. Eine Vierergruppe weiter hinten spielte sogar Karten.
Alice verdrehte die Augen. »Für dich macht er sicher eine Ausnahme, wenn du nur kurz Hallo sagen willst.«
Ja, aber ich wollte gar nicht, dass er meinetwegen eine Ausnahme machte. Gleichzeitig wollte ich mich auch nicht stundenlang anstellen müssen, um zwei, drei Worte mit Parker wechseln zu können. Von Angesicht zu Angesicht, statt nur am Handy oder am PC. Gott, dachte ich ernsthaft darüber nach? Warum? Nur weil wir ein paarmal nett miteinander ­geschrieben hatten? Weil wir uns tatsächlich ganz gut verstanden, wenn wir uns nicht gegenseitig im Spiel fertigmachten? Das war total bescheuert. Außerdem wollte ich gar nicht wissen, ob er im echten Leben genauso war wie online. Das konnte doch nur eine Enttäuschung werden. Oder sehr, sehr ­seltsam.
»Lass uns … einfach später noch mal vorbeischauen«, murmelte ich. »Vielleicht ist es dann etwas ruhiger.«
»Später ist er aber nicht mehr da. Er hat einen total vollgestopften Terminplan, das weißt du genauso gut wie ich. Versuch gar nicht erst zu leugnen, dass du dir seine Termine online angeschaut hast! Außerdem: Musst du nicht in einer Stunde zu diesem Panel über Retro Games?«
Ich presste die Lippen aufeinander und wand mich innerlich, denn Alice hatte recht. Zumindest mit ihrer letzten Aussage. Warum zum Teufel hatte ich zugestimmt, bei irgendwelchen Programmpunkten mitzumachen? Es war nicht so, dass ich nichts zu den Themen zu sagen hätte, aber ich hasste Menschen. Und öffentliche Auftritte. Und Menschen bei öffentlichen Auftritten. Und jetzt sollte ich zusammen mit anderen Gamern auf einer Bühne sitzen und etwas Sinnvolles sagen? Ich wusste nicht, ob ich bei der Vorstellung hysterisch lachen oder mich lieber auf dem nächsten Klo einschließen wollte, um mir die Seele aus dem Leib zu kotzen.
Die Livestreams waren nur ein Mittel zum Zweck gewesen, um das Schöne mit dem Notwendigen zu verbinden. Ich zockte, erzählte irgendwelches Zeug und verdiente damit ein bisschen Geld, das ich fürs College sparen konnte. Bekannt zu werden und auf irgendwelche Conventions zu gehen, war nie Teil des Plans gewesen, obwohl ich nicht leugnen konnte, dass ich es genoss, hier zu sein. Zumindest hatte ich das, bis meine Moderatorin mich heimlich zu Parkers Signierstunde manövriert hatte.
»Du kannst das!«, beharrte Alice, und ich hatte keine Ahnung, ob sie damit das Panel oder Parker meinte. Wahrscheinlich sogar beides.
»Nein.«
Hatte ich das nur gedacht oder laut ausgesprochen? Egal.
»Lass uns gehen«, sagte ich entschieden und wollte mich bereits abwenden.
»Hey, du bist doch TRGame!«, rief plötzlich jemand.
Fuck .
In meinem Kopf reihte sich ein Fluch an den anderen, nach außen hin zwang ich mich jedoch zu einem Lächeln und drehte mich langsam um. Es dauerte einen Moment, bis ich das Mädchen in der Signierschlange entdeckte, das mich angesprochen hatte. Sie hatte hellrosa Haare, die mit Sicherheit nur eine Perücke waren, und trug eine weiß-blaue Schuluniform. Und sie starrte mich erwartungsvoll an.
Schicksalsergeben nickte ich. »Die einzig Wahre.«
»Oh mein Gott!«, kreischte sie so laut, dass gleich mehrere Leute in ihrer unmittelbaren Nähe zusammenzuckten. Mich selbst eingeschlossen. »Du bist es wirklich! Ich liebe deine Streams!« Sie gab ihren Freundinnen Bescheid, trat aus der Reihe und kam geradewegs auf mich zu. »Wie du letztens alle in der Guild-Wars-Arena fertiggemacht hast, war einfach göttlich ! Parker ist sooo ausgerastet! Oh. Mein. Gott!«
»Ähm … danke?«
»Deinetwegen habe ich selber mit Tomb Raider angefangen! Ich bin eigentlich kein Fan von Retro-Games, aber du hast das sooo toll gemacht!«
»Danke.«
Was zum Teufel sagte man in einer solchen Situation, abgesehen von etwas so Lahmem wie Danke ? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Bis auf Alice war ich keinem anderen Menschen persönlich begegnet, der ebenfalls zockte – oder mir gerne dabei zuschaute. Und jetzt hatte ich beides in ein- und derselben Person vor mir und keinen Schimmer, wie ich reagieren sollte.
»Unterschreibst du mein T-Shirt? Können wir ein Foto zusammen machen?« Das Mädchen, das höchstens zwei, drei Jahre jünger sein konnte als ich, hüpfte beinahe auf und ab. Von irgendwoher zauberte sie einen schwarzen Stift hervor und drückte ihn mir in die Hand.
Erst als ich damit auf dem Stoff ansetzte, registrierte ich, mit welchem Spruch er bedruckt war: YES I like video games. NO I won’t date you.
Ich musste unweigerlich grinsen. »Cooles Shirt.«
»Danke!« Sie strahlte mich an. »Das gibt’s hier auch im Shop, hab ich vorhin gesehen.«
Dummerweise hatte ich kein Geld, um mir auch eines zu holen, obwohl ich bei den ganzen dämlichen Anmachen, die ich tagtäglich im Chat zu lesen bekam, gerne so ein Shirt gehabt hätte. Und das waren nur die, die Alice nicht schnell genug rausfilterte. Aber Flüge, Übernachtung und Convention-Tickets hatten bereits ein Loch in meine Ersparnisse gerissen, das ich schnell wieder auffüllen musste, wenn ich nicht noch ein Jahr in meiner Heimatstadt bleiben und Kaffee für dämliche Pryans zubereiten wollte. Oder doch noch auf Dads Angebot einging und etwas Vernünftiges studierte, bei dem er alle Kosten für Studium und Unterkunft übernehmen würde. Nein, danke.
»Hier.« Ich gab ihr den Stift zurück und lächelte – diesmal sogar ehrlich. Doch fast augenblicklich gefror es mir auf den Lippen, als ich feststellte, dass mittlerweile zahllose neugierige Augenpaare auf mich gerichtet waren. Von Parker-Fans, die mich offenbar ebenfalls erkannten. Und es wurden immer mehr.
Shit. Ich musste hier weg. Ich sah mich nach Alice um, die wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien, doch dann blieb mein Blick am anderen Ende der Schlange hängen. An Parker. Der ausgerechnet in diesem Moment vom Signieren aufsah.
Ich hatte es immer für eine verkitschte Lüge gehalten, wenn Leute behaupteten, ihnen würde kurz das Herz stehen bleiben. Doch als sich unsere Blicke trafen, hätte ich schwören können, dass mein Herz einen Schlag lang aussetzte und dann in alarmierend schnellem Tempo weiterpochte. Entweder war an diesem Spruch doch etwas dran oder ich sollte mich dringend ärztlich untersuchen lassen.
Überraschung erschien auf Parkers Gesicht, dicht gefolgt von einem breiten Lächeln, was ihn irgendwie nur noch anziehender machte. Verdammt . Wie war das überhaupt möglich? Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, sagte er etwas zu dem wartenden Fan vor ihm, dann legte er den Stift ab, kletterte über das Absperrband und … marschierte direkt auf mich zu?!
Okay, das musste ich mir einbilden. Das konnte gerade unmöglich wirklich passieren.
Mayday Mayday Mayday!
Was war hier los?
Ehe ich auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen konnte – davon, irgendetwas Intelligentes zu sagen oder zu tun, ganz zu schweigen –, stand Parker plötzlich vor mir und ich fand mich in einer Umarmung wieder. Gott, ich sollte wirklich dieses blöde Organ in meinem Brustkorb untersuchen lassen, denn plötzlich hämmerte es wie verrückt. Aber wenigstens reagierte es in irgendeiner Form, während der Rest von mir völlig erstarrt war.
Dann bemerkte ich Parkers Geruch – und starb innerlich ein kleines bisschen.
Da war diese Mischung aus frisch und kühl – und doch so verlockend intensiv. Ich meinte, Rosmarin und Apfel wahrnehmen zu können, dazu etwas, das ganz Parker zu sein schien. Am liebsten hätte ich meine Nase an seinem Hals vergraben und diesen Duft einfach nur inhaliert. Shit. Wieso hatte mich niemand vorgewarnt, wie gut dieser Kerl roch?
Nach und nach kam wieder Leben in mich, und ich realisierte, dass ich ihn genauso fest umarmte, wie er mich – und dass ich mich dafür auf die Zehenspitzen stellen musste. Von irgendwoher meinte ich, Geräusche zu hören. Stimmen. ­Jubel. Das Klicken von Handyfotos. Aber das war alles ganz weit weg.
Bis es mit einem Schlag zurückkehrte, als Parker sich ein Stück zurücklehnte und meinen Blick suchte. »Hi.«
»Hallo.« Meine Mundwinkel wanderten wie von selbst in die Höhe, doch dann verzog ich das Gesicht. »Sorry. Ich wollte deine Signierstunde nicht crashen, aber jemand hat mich hierher geschleift.« Ich sah zu meiner Moderatorin, die jetzt wieder nur zwei Schritte entfernt stand und ziemlich selbstzufrieden aussah. »Parker, das ist Alice. Alice, Parker.«
Er ließ mich los, um Alice die Hand zu geben, und ich erwischte mich dabei, wie mir sofort die Wärme fehlte, die von ihm ausgegangen war. Und sein Geruch. Was zum Teufel stimmte nicht mit mir?
»Freut mich, Alice«, begrüßte Parker sie gut gelaunt. »Ich hab schon von dir gehört.«
Die pragmatische, bodenständige Alice wurde schlagartig blass und riss die Augen auf. »Du hast … ihr habt … über mich geredet?« Sie deutete zwischen uns hin und her.
Ich musste mir auf die Lippen beißen, um bei dieser Reaktion nicht laut loszulachen. »Hey, sieh mich nicht an. Ich hab nur Gutes erzählt. Denke ich.«
Alice warf mir einen mörderischen Blick zu, und ich prustete leise.
Auch Parker grinste und schien etwas hinzufügen zu wollen, als jemand seinen Namen rief. Er schnitt eine Grimasse. »Danke, dass du sie hergeschleift hast«, sagte er zu Alice und zwinkerte ihr zu, dann wandte er sich an mich. »Ich muss zurück, aber sehen wir uns später noch?«
Ich war überrascht, wie schnell ich sowohl mit Ja als auch mit Nein antworten wollte – und gar keinen Ton über die Lippen brachte.
Zum Glück hatte ich Alice dabei. Meine wundervolle Moderatorin. Meine wundervolle, bald schon tote Moderatorin, weil ich sie spätestens heute Abend nach dem letzten Programmpunkt erwürgen würde.
»Auf jeden Fall!«, warf sie breit grinsend ein. »Ihr seid in gegnerischen Teams beim Live Let’s Play heute Nachmittag und könnt euch bei PlayerUnknown’s Battlegrounds austoben. Außerdem ist Teagan beim Retro-Panel auf der Bühne, falls du vorbeikommen willst. Und dann …«
Ich packte ihren Arm so fest, dass sie vor Schreck quietschte. Aber das war immer noch besser, als sie an Ort und Stelle umzubringen. Hier gab es eindeutig zu viele Zeugen.
Amüsiert blickte Parker zwischen uns hin und her. »Gut zu wissen«, erwiderte er und ignorierte das Rufen des dunkelhaarigen Kerls bei der Signierbühne total. »Und heute Abend? Habt ihr da schon was vor?«
»Nein, aber …«
Diesmal ließ mir Parker keine Chance, weiterzusprechen.
»Perfekt. Dann sehen wir uns auf der After-Show-Party. Bis später.« Er warf mir ein Lächeln zu, das seltsame Dinge in meiner Magengegend auslöste, dann machte er auf dem Absatz kehrt und joggte zurück.
»Tjaaa …« Selbstgefällig verschränkte Alice die Arme vor der Brust. »Lief doch super.«
»Ich töte dich«, murmelte ich und hoffte, dass sich die Morddrohung nicht in meiner Mimik widerspiegelte, da uns noch immer ein paar Leute aus der Schlange beobachteten.
Sie winkte ab. »Freu dich lieber. Sieht so aus, als hättest du heute Abend ein Date. Da wirst du gar keine Zeit haben, mich zu töten, schließlich musst du dich noch frisch machen und – «
»Oh, ich finde vorher eine Gelegenheit dazu, verlass dich drauf.« Und damit packte ich sie und zog sie aus dem Raum.