Level 9
Teagan
Gut eine Woche später saß ich neben meinem Dad im Auto und fummelte an meiner Bluse herum, wobei ich nur mit Mühe ein frustriertes Grummeln unterdrückte. Das Ding hatte Perlenknöpfe, war aus irgendeinem weichen, seidigen Material, cremeweiß und sehr elegant. Und natürlich sehr teuer gewesen. Damit war es genau die Art von Kleidungsstück, das ich niemals freiwillig tragen würde. Aber Dad hatte mich darum gebeten, mir etwas Vernünftiges anzuziehen, und das war eines der wenigen Teile in meinem Kleiderschrank, das in seinen Augen angemessen war. Bonuspunkte gab es dafür, dass es das Tattoo auf meinem Schulterblatt verdeckte. Denn obwohl es nur ein mittelgroßer und noch dazu sehr geschmackvoller Schmetterling war, war ich mir ziemlich sicher, dass Dad es mir nie verziehen hatte, mit sechzehn seine Unterschrift gefälscht zu haben, um mir dieses Tattoo stechen zu lassen. Aber es war ja nicht so, als könnte er es ungeschehen machen.
Parker
Wie wär’s mit einer Runde Guild Wars? Vielleicht haben wir Glück und landen wieder in verschiedenen Teams
Teagan
Aww, vermisst du mein Lama?
Parker
Du hast noch nie meinen Todesstoß gesehen, Baby
Teagan
Parker
Also? Wie sieht’s aus?
Teagan
Ich kann nicht …
Mit einem leisen Seufzen sah ich auf das Smartphone in meiner Hand, bevor ich wieder durch das Fenster beobachtete, wie die Landschaft an uns vorbeirauschte. Kaum zu fassen, dass seit der Convention in Texas mittlerweile fast eine Woche vergangen war. Noch weniger zu fassen war, dass ich mich trotz allem wieder ganz in meinem alten Leben befand, wo jeder dritte Freitagabend im Monat nur eines bedeutete: Dinner mit der ganzen Familie. Meine Großeltern väterlicherseits und der Rest der Familie lebten rund anderthalb Stunden entfernt in einer der Kleinstädte, die sich um Seattle herum ausgebreitet hatten. Zum Glück lagen so viele Meilen zwischen uns, denn sonst würden Treffen wie dieses wahrscheinlich noch öfter stattfinden. Und das war wirklich das Letzte, was ich in meinem Leben brauchte.
Wir waren noch ungefähr eine halbe Stunde von unserem Ziel entfernt, als ich erneut auf mein Handy schaute. Alice hatte geschrieben und sich darüber beklagt, dass sie heute Abend keine Trolle aus dem Chat kicken und niemanden bannen konnte. Bei den ganzen wütenden Emojis, die sie dazu schickte, musste ich unweigerlich schmunzeln. Dabei sollte sie eigentlich froh über den freien Abend sein. Während der letzten Livestreams waren ständig Fragen zu Parker im Chat aufgetaucht. Und zu Parker und mir.
Anscheinend hatten gleich mehrere Leute unsere Umarmung während seiner Autogrammstunde gefilmt und ins Internet gestellt. Dazu kamen ein paar Fotos von uns beiden auf der After-Show-Party und schon brodelte die Gerüchteküche. Wobei das eine Untertreibung war. Die Gerüchteküche war längst explodiert.
Gestern waren wir dazu übergegangen, bestimmte Wörter und Fragen im Chat einfach zu blockieren, sodass sie gar nicht erst auftauchen konnten. Dafür stieg meine Followerzahl unglaublich schnell an, und ich hatte keine Ahnung, wie ich hinterherkommen sollte. Weder bei den ganzen neugierigen Fragen noch bei den vielen neuen Zuschauern oder der Tatsache, dass ich in der letzten Woche genug Geld verdient hatte, um mir fast das komplette erste Collegejahr finanzieren zu können. Nicht die Wohnung und auch keine Lebenskosten, aber zumindest die Studiengebühren waren abgedeckt. Wahrscheinlich würde es noch eine ganze Weile dauern, bis ich das wirklich realisiert hatte. Das Einzige, was mir noch immer fehlte, war eine Rückmeldung von meinen Wunschcolleges. Langsam aber sicher wurde es eng. Spätestens Ende August musste ich irgendwo anfangen, sonst würde ich nur weiter zu Hause hocken und Kaffee für nervige Kunden zubereiten müssen. Ugh.
Ich tippte eine Antwort an Alice und wünschte ihr trotz all der wütenden Emojis zuvor einen schönen Abend, dann schaute ich mir die nächsten Nachrichten an. Sie waren wieder von Parker.
Allein seinen Namen zu lesen sorgte dafür, dass sich mein Herzschlag beschleunigte. Seit der RTX in Austin hatten wir beinahe täglich getextet und mittlerweile noch zweimal bis spät in die Nacht – oder eher bis zum Morgengrauen – miteinander gezockt. Jetzt, da ich nicht mehr zur Schule musste, war das leichter, und ich hatte plötzlich so viel freie Zeit, dass ich öfter streamen und zusätzliche Schichten im Coffeeshop übernehmen konnte.
»Teagan.« Dad warf mir einen warnenden Blick zu und deutete auf das Handy.
Ich verdrehte die Augen und packte es weg, ohne Parker zu antworten. Dieser Abend würde die Hölle werden, das wusste ich jetzt schon. Seit meiner Rückkehr aus Austin war mein Vater ziemlich gereizt. Offenbar waren ein Zettel am Kühlschrank und die Nachricht, die unsere Haushälterin Susanna ihm von mir überbracht hatte, nicht genug gewesen. Wahrscheinlich hätte ich ein halbes Jahr im Voraus ein Meeting mit seiner Sekretärin ansetzen lassen und mich dann mit ihm im Büro treffen sollen, um das Für und Wider dieser Reise mit ihm auszudiskutieren. Na, aber sicher doch.
Die restliche Zeit verbrachte ich damit, aus dem Fenster zu starren und am Radio herumzudrehen, nur um dann frustriert aufzugeben, weil nur Schwachsinn lief. Und weil Dad sowieso lieber Klassik hörte, als irgendetwas mit richtigen Lyrics und Gesang.
Als wir das mehrstöckige Haus mit Garten, in dem meine Großeltern zusammen mit Onkel Peter und seiner Familie wohnten, endlich erreichten und der Wagen stoppte, war ich beinahe erleichtert, dem angespannten Schweigen im Auto zu entkommen. Allerdings nur kurz. Denn sobald wir durch die Eingangstür traten, fand ich mich in mehreren Umarmungen wieder, die ich weder wollte noch besonders enthusiastisch erwiderte. Gut möglich, dass ich mich gerade wie ein verzogenes Biest verhielt, aber ich kannte diese Leute kaum. Und sie kannten mich nicht. Sie kannten nur das Mädchen, als das sie mich sehen wollten. Aber keiner hier wusste auch nur ansatzweise etwas über meine Wünsche und Ziele oder darüber, wie sehr ich mich abrackerte, um sie zu erreichen.
Ich könnte auch einfach auf ein College gehen, das mein Vater guthieß, und mir von ihm alles finanzieren lassen: Anreise, Studiengebühren, Wohnung, Möbel, Lebensmittel. Einfach alles. Aber dann würde ich für immer in seiner Schuld stehen und tun müssen, was er wollte, statt das, was ich wollte. Und das kam nicht infrage.
»Wie schön, dass ihr da seid!«, rief Grandma Ethel und tätschelte mir das Haar, als wäre ich noch fünf. Dann presste sie die Lippen zu einem Strich zusammen, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie ohnehin sehr dünne Lippen hatte, wirklich eine Kunst war. »Oh, was hast du nur mit deinen schönen Haaren gemacht?«
Nur mit Mühe konnte ich ein Augenrollen unterdrücken. Das fragte sie mich jedes Mal. Ganz ehrlich? Löschte sie nach jedem gemeinsamen Abendessen die Erinnerung an meine gefärbten Haare, um sich beim nächsten Mal erneut darüber aufzuregen zu können?
»Ach, lass das Mädchen doch.« Grandpa Douglas klopfte mir etwas zu fest auf die Schulter. »Sie hat ihre rebellische Phase. Die hatten wir alle mal. Das geht vorbei.«
Selbst wenn ich hätte antworten wollen, kam ich nicht dazu, denn jetzt tauchte Onkel Peter im Flur auf.
»Da ist ja mein Lieblingsbruder.« Er umarmte Dad und nutzte es schamlos aus, dass er einen halben Kopf größer und breiter gebaut war als mein Vater. »Wie läuft’s? Wie stehen die Verkäufe?« Damit führte er Dad auch schon Richtung Esszimmer, wo seine Frau und ihre beiden Töchter warteten. Sieben und neun Jahre alt und die Jüngste war so verwöhnt, dass jedes Treffen mit ihrem Geschrei endete. Reizend. Wenigstens Janey war erträglich und für ihr Alter ziemlich aufgeweckt und clever.
»Nun steh nicht hier herum«, wies mich Grandma Ethel an und deutete mir an, ihr zu folgen. »Du kannst mir in der Küche helfen.«
Kurz sah ich Grandpa Douglas nach, der sich ebenfalls in Richtung Esszimmer bewegte, dann folgte ich ihr schicksalsergeben. »Warum helfen Dad oder Onkel Peter nicht?«
Sie lachte auf. »Mach dich nicht lächerlich, Teagan Ramona. Dein Vater und dein Onkel wüssten gar nicht, was sie mit einer Schüssel und einem Löffel anfangen sollten. Die Küche ist das Reich von uns Frauen.«
Diesmal konnte ich es mir nicht verkneifen, die Augen zu verdrehen, aber nahm die Schürze, die sie mir hinhielt, brav entgegen.
»Das habe ich gesehen, Mädchen.« Spielerisch drohte sie mit dem Zeigefinger. »Mit dieser Einstellung wirst du nie einen Ehemann finden.«
»Vielleicht bin ich ja nicht im neunzehnten Jahrhundert stecken geblieben und will gar keinen«, murmelte ich und band mir die Schürze um. Dabei hatte ich das seltsame Gefühl, dieses Gespräch schon mal geführt zu haben. Ach ja. Das hatte ich. Bei ungefähr jedem dieser Treffen in den letzten Jahren.
»Ach, papperlapapp. Das wird sich ändern, sobald du den Richtigen triffst«, behauptete sie und drückte mir einen Kochlöffel in die Hand, gefolgt von einer eindeutigen Geste in Richtung Herd, wo ich in was auch immer herumrühren sollte. »Und dann wirst du froh sein, ihm etwas zu essen machen zu können. Eigentlich sollte dir das deine Mutter beibringen, aber diese Frau hat ja noch nie das getan, was von ihr verlangt wurde.«
Ruhig bleiben. Halt einfach die Klappe und lächle, Teagan.
Aber meine Finger verkrampften sich so fest um den Kochlöffel, dass ich nicht einschätzen konnte, was zuerst in zwei Teile zerbrechen würde – das Holz oder meine Knöchel.
»Ist einfach abgehauen und hat euch allein gelassen …«, murmelte Grandma Ethel und hantierte mit den Gewürzen herum. »Eine Schande ist das! Das kannst du mir glauben.«
Newsflash: Ich war auch nicht gerade begeistert davon, dass Mom uns sitzen gelassen hatte, aber wenigstens behielt ich meine Meinung für mich. Wie wäre es zur Abwechslung damit?
Aber statt meine Gedanken laut auszusprechen, biss ich die Zähne zusammen. Vor ein paar Jahren, kurz nach Moms Verschwinden, hatte ich ein-, zweimal gesagt, was mir zu ihrem Gejammer durch den Kopf ging – und damit eine mittlere Familienkrise ausgelöst. Dad hatte mir Hausarrest verpasst und wochenlang nicht mehr als nötig mit mir geredet. Und zu diesen Abendessen hatte er mich trotzdem weiterhin gezwungen, also hatte mein Protest exakt gar nichts bewirkt. Außerdem war mir mittlerweile klar, dass diese Leute gar keine andere Meinung hören wollten. Ihre eigene war die einzige, die existierte. Also hielt ich den Mund und rührte einfach nur in diesem Topf herum, bis Grandma Ethel mich weiterscheuchte. Gleich darauf stand ich mit einem Messer in der Hand vor einem riesigen Topf gekochter Pellkartoffeln und seufzte innerlich. Das würde ein wundervoller Abend werden.
Zwei Stunden später war ich kurz davor, mir meine Gabel ins Auge zu rammen, nur um diesem Abendessen endlich zu entkommen. Rettungswagen, Notaufnahme, OP und Krankenhaus klangen mit jeder Minute attraktiver. Alles wäre besser, als weiter hier herumsitzen zu müssen, den Alltagsgeschichten und dem ganzen Klatsch und Tratsch zu lauschen und dabei halbwegs interessiert auszusehen. Oder zumindest nicht zu Tode gelangweilt. Immerhin war mein heutiges Outfit – bis auf meine heiß geliebten Boots – makellos, also konnten sie daran nicht viel aussetzen. Das konnte nur ich in Gedanken, weil ich mich in dieser weißen Bluse und der schwarzen Bügelfaltenhose einfach nicht wohlfühlte. Das war nicht ich, sondern ein Püppchen, das man extra zu diesem Anlass ausstaffiert und aufgehübscht hatte.
Während Grandma Ethel und Tante Karlie über die Nachbarin Mrs Miller sprachen, die einen neuen Gärtner engagiert hatte, der höchstens um die zwanzig sein konnte und die Hecken auf eine Weise stutzte, die einfach unmöglich war, unterhielten sich Dad, Onkel Peter und Grandpa Douglas über irgendeinen Senatorenskandal in Alabama.
Seufzend schob ich die Krümel auf meinem Teller hin und her und sah immer wieder auf das Handy, das von der Tischdecke verdeckt auf meinem Schoß lag. Mittlerweile hatte ich die letzten Nachrichten von Parker nicht nur beantwortet, wir hatten noch weitere hin und her geschickt. Wie er es fertigbrachte, mir während seines Livestreams zu schreiben, ging über mein Verständnis hinaus. Und da sollte noch mal jemand behaupten, Männer wären nicht multitaskingfähig.
Als ich das nächste Mal aufsah, bemerkte ich Janeys Blick, der nicht mir galt, sondern dem kaum angetasteten Stück Kuchen auf meinem Teller. Sie selbst hatte nur ein winziges Stück bekommen. Mehr erlaubte ihre Mutter nicht.
Kurz sah ich zu Tante Karlie hinüber, die sich noch immer über den Gärtner echauffierte, dann vertauschte ich schnell die Teller. Meine Cousine strahlte und schob sich sofort eine Gabel voll in den Mund.
Im nächsten Moment gab ihr Karlie einen Klaps auf die Finger. »Du kennst die Regeln, Schatz. Ein Stück ist mehr als genug. Alles andere landet auf den Hüften.«
Ich verschluckte mich an meinem Schluck Wasser und musste husten. »Echt jetzt?«, rief ich und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund.
Karlie warf mir einen wütenden Blick zu. »Denk nicht, ich hätte das nicht gesehen, Teagan Ramona.«
Ich ignorierte ihre anklagenden Worte. »Willst du deine Töchter ernsthaft dazu erziehen, Komplexe wegen ihrer Figur zu haben?«
Sie funkelte mich an. »Es ist nichts Falsches daran, auf die eigene Gesundheit zu achten.«
»Gesundheit, genau. Was soll der Scheiß von wegen ihrer Figur? Janey ist neun!«
»Teagan …«, tadelte Dad mit schneidender Stimme. »Nicht in diesem Tonfall.«
Verdammt. Bis eben ich war mir sicher gewesen, dass er so in die Diskussion mit Peter und Grandpa vertieft gewesen war, dass er gar nicht mitbekam, was um ihn herum passierte. Anscheinend hatte ich mich geirrt.
Ich sah in die Runde. Niemand ergriff Partei oder mischte sich ein; davon, mir in irgendeiner Form recht zu geben, ganz zu schweigen. Und Janey sah nur mit großen Augen hin und her, die Kuchengabel in der Hand, allerdings ohne noch einen Bissen zu nehmen.
»Aber es stimmt doch!«, rief ich. »Sie ist noch ein Kind. Wen kümmert da ihre Figur? Lasst sie doch essen, worauf sie Lust hat, anstatt ihr einzureden, dass das einzig Wichtige im Leben eine schlanke Taille ist, verdammt noch mal!«
»Teagan!« Karlie rümpfte die Nase. »Nur weil deine Mutter dir keine Grenzen gesetzt und völlig in deiner Erziehung versagt hat, heißt das nicht, dass sich andere Mütter keine Mühe geben.«
»Wie bitte?«, stieß ich fassungslos hervor.
Wieso bekam eigentlich immer ich die Seitenhiebe ab, die gegen meine Mutter gerichtet waren? Ich konnte doch auch nichts dafür, dass sie ihre Sachen gepackt hatte und einfach gegangen war. Aber ich konnte sehr wohl etwas dafür, dass sie mich zurückgelassen hatte. Oder nicht? Sie war schließlich nicht nur meine Mom, sondern auch meine beste Freundin gewesen. Zumindest war ich fest davon überzeugt gewesen, bis … ja, bis sie eines Tages weg gewesen war.
»Du bist genau wie deine Mutter.«
Ich erstarrte. Oh nein, das hatte sie jetzt nicht gesagt. Das war unter der Gürtellinie. Und unfair, denn diese Leute hatten meine Mutter noch weniger gekannt als ich selbst. Trotzdem kam ich nicht gegen die Kälte an, die sich bei diesen anklagenden Worten in mir ausbreitete. Oder gegen die Übelkeit.
»Du bist desinteressiert, angriffslustig und unhöflich. Oder denkst du, niemand am Tisch hätte bemerkt, dass du die ganze Zeit auf dein Handy starrst?«
Das Abendessen, das eigentlich ganz lecker gewesen war, lag mir auf einmal wie ein Stein im Magen. »Seit wann ist eine eigene Meinung zu haben dasselbe wie angriffslustig zu sein?«
»Teagan.« Dads warnende Stimme hallte erneut durch das Esszimmer. Nach außen hin wirkte er völlig ruhig, aber ich konnte die Ader auf seiner Stirn pochen sehen, wie jedes Mal, wenn er kurz vorm Explodieren war.
Karlie schüttelte nur den Kopf und widmete sich wieder ihren Töchtern, denen sie für alle hörbar erklärte, warum es wichtig war, dass man auf seine Familie und vor allem auf Menschen, die älter und klüger waren als man selbst, hörte und ihnen mit dem nötigen Respekt begegnete.
Als das Abendessen endlich vorbei war, tat mein ganzer Kiefer weh, weil ich die ganze Zeit über die Zähne so fest zusammengebissen hatte. Vielleicht hätte ich erleichtert oder sogar froh sein sollen, als wir uns verabschiedeten und das Haus endlich verließen, doch dafür war die Stimmung zwischen Dad und mir zu angespannt.
Wir schwiegen während der Fahrt zurück und diesmal war ich klug genug, das Handy nicht hervorzuholen, auch wenn es mich in den Fingern juckte, herauszufinden, was Parker getextet hatte. Aber dann würde Dad wahrscheinlich gleich der Kopf platzen, und das war während einer Autofahrt ziemlich unpraktisch.
Also wartete ich, bis wir daheim ankamen und sich das Garagentor hinter uns schloss, um wie nebenher beim Aussteigen mein Handy aus der Tasche zu fischen. Bisher hatte Dad nichts zu dem Abendessen bei seiner Familie gesagt, obwohl ich ihm ansehen konnte, dass ihm eine Million Vorwürfe auf den Nägeln brannten. Aber das Ding war … Dad hatte nie einen großen Teil zu meiner Erziehung beigesteuert. Mom hatte mir beigebracht, Bitte und Danke zu sagen, aber auch, mich nicht mit meiner Meinung zurückzuhalten, wenn ich mich im Recht glaubte. Sie hatte mir ebenso Manieren beigebracht wie Respekt vor älteren Menschen und Autoritätspersonen – allerdings nur, wenn es angebracht war. Und wenn es nicht angebracht war, hatte sie den Leuten die Hölle heiß machen können.
Einmal hatte sie den Kinderarzt so zur Schnecke gemacht, weil er zu ruppig mit mir umgegangen war und mir nichts erklärt hatte, dass er hinterher derjenige war, der fast geweint hätte, und nicht mehr ich.
Dad war in all den Jahren bis auf die wenigen Abendessen an den Wochenenden praktisch nicht anwesend gewesen, weil er seine gesamte Lebenszeit lieber in der Firma verbrachte statt zu Hause bei seiner Frau und seiner Tochter. Insofern erschien es dem Rest der Familie wahrscheinlich sogar ganz berechtigt, dass sie hauptsächlich auf mir und meiner Mutter herumhackten – und nicht auf ihm.
»Du hast dich heute Abend unmöglich benommen«, murmelte er beim Aussteigen.
»Wie bitte?« Ich sah vom Handy auf und starrte ihn über das Dach des BMWs hinweg an. »Ich habe mich unmöglich benommen? Ich? Nicht Karlie?«
»Wie Karlie und Peter ihre Kinder erziehen, geht dich nichts an, Teagan. Das ist ganz allein ihre Sache.«
»Soll ich etwa danebensitzen und auch noch applaudieren, wenn sie ihren Töchtern Komplexe mit auf den Weg gibt? Als wäre der sexistische Mist in diesem Haus nicht schon schlimm genug.«
»Das reicht.« Er knallte die Tür mit so viel Schwung zu, dass ich zusammenzuckte. »Deine Tante hat recht. Du bist die ganze Zeit am Handy und auch sonst ständig mit den Gedanken woanders. Bis vor Kurzem dachte ich noch, das liegt am ­Klausuren- und Bewerbungsstress, aber das ist doch längst vorbei.«
Wow, ein Wunder, dass er das überhaupt bemerkt hatte, schließlich war es ja nicht so, als wäre er besonders häufig zu Hause gewesen. Er hatte es vor ein paar Wochen nicht mal zu meiner Abschlussfeier geschafft – im Gegensatz zu den Eltern all meiner Mitschüler. Und ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er in letzter Zeit öfter im Büro geschlafen hatte als daheim. Aber machte ich ihm deswegen Vorwürfe? Nein. Also sollte er mich doch auch einfach in Ruhe lassen.
»Du tust, was du willst, und vergisst völlig, dass ich die Verantwortung für dich trage. Ich bin dein Vater, Teagan. Und denk ja nicht, dass dein heimlicher Ausflug letzte Woche ohne Konsequenzen bleiben wird. Du bist ohne Erlaubnis nach Texas geflogen. Und dann auch noch ganz allein!«
Diesmal war ich diejenige, die die Autotür mit mehr Kraft als nötig zuschlug. »Ich bin keine sieben mehr, Dad. Ich kann lesen, schreiben, bar und mit Karte bezahlen, einen Flug buchen und – oh! Auch nach dem Weg fragen oder mein Handy benutzen, sollte ich mich verlaufen.«
»Wie wär’s, wenn du dein Handy benutzt hättest, um mich anzurufen und vorher um Erlaubnis zu fragen!«
Sekundenlang konnte ich ihn nur anstarren. Dann platzte all die Wut, all die Frustration aus mir heraus.
»Ich bin achtzehn Jahre alt!«, rief ich. »Ich verdiene mein eigenes Geld. In ein paar Wochen ziehe ich aus und werde sonstwo leben – hoffentlich tausend Meilen von hier entfernt. Ich brauche keine Erlaubnis, um mir Colleges anzuschauen!«
Und damit ließ ich ihn stehen und stapfte aus der Garage ins Haus, wo ich als Erstes diese dämliche Alarmanlage ausschaltete, damit sie nicht plötzlich losschrillte.
»Verkauf mich nicht für dumm, Teagan Ramona.« Dad folgte mir in den Flur und wurde mit jedem Wort lauter. »Du warst nicht nur dort, um dir den Campus anzuschauen, sondern auch auf dieser Convention.«
Ich wirbelte zu ihm herum. »Und wenn schon! Dich interessiert das alles doch sowieso nicht! Du willst nur, dass ich brav und nett bin und zu allem Ja und Amen sage. Zu dem Mist am Esstisch genauso wie zu den Universitäten, die du für mich aussuchst, als hätte ich keinen eigenen verdammten ­Willen!«
»Es interessiert mich sehr wohl, wenn meine einzige Tochter allein quer durchs Land fliegt, um sich mit irgendwelchen Freaks auf einer Freakshow zu treffen!«
Ich zuckte zusammen. Seine Worte waren nicht direkt gegen mich gerichtet gewesen, trotzdem fühlte es sich so an, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. Der Tag auf der RTX, das Treffen mit Parker, Alice und den anderen. Die Spiele, Gespräche, die ganzen Infos, die Cole mir zu seinem Studiengang gegeben hatte … Das war alles für mich. Alles. Zum vielleicht ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich nicht wie eine Außenseiterin gefühlt, nicht wie die Seltsame in der Schule, die sich die Haare bunt färbte und auf komische Computerspiele stand. Und mein Vater nahm all das, all meine schönen Erinnerungen, und zog sie durch den Dreck, indem er die Convention als Freakshow bezeichnete und die Teilnehmer und Besucher als Freaks? Ohne sich auch nur einen Hauch von Gedanken darüber zu machen, was mir das bedeutete?
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Das meinst du nicht ernst.«
»Und wie ich es ernst meine.« Er erwiderte meinen Blick genauso starr, wandte sich dann jedoch mit einem Seufzen ab und fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. »Ich weiß, dass du diese Games magst, Liebling, aber das ist nur ein Hobby. Es hat keine Zukunft. Deine Zukunft ist auf einem College mit einem guten Ruf und in einem Beruf, der dich weiterbringt.«
»Du meinst einen Beruf wie deinen, bei dem ich zwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche im Büro hocke.«
»Zum Beispiel.«
Ich schnaubte. »Du bist echt unglaublich.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du dein Leben mit so einem Schwachsinn verschwendest, Teagan. Was willst du denn machen, hm? In irgendeinem dunklen Keller sitzen, ohne Freunde, ohne ein richtiges Leben, und irgendwelche Spiele programmieren? Willst du dich wirklich vor der echten Welt verstecken, bis du alt und grau bist und es bereust, nie richtig gelebt zu haben?«
»Oh, bitte erspar mir dieses Klischee!«
Abgesehen davon wollte ich keine Spiele programmieren . Ich wollte sie designen , mich mit ihrem Aufbau, der Story, den Charakteren und der ganzen Welt auseinandersetzen. Ich wollte meinen Ideen Farbe verleihen und ganze Welten erschaffen, einfach weil ich es konnte. Und ich wollte andere Leute genauso dafür begeistern, wie ich mich dafür begeisterte. Aber natürlich begriff Dad den Unterschied nicht. Für ihn war alles dasselbe. Und die Ironie des Ganzen? Wahrscheinlich verbrachte er mehr Zeit im Büro vor einem Monitor, als ich es als Game-Designerin je tun würde. Vielleicht sollte er mal darüber nachdenken.
»Du tust das wegen Mom, oder? Du bestrafst mich dafür, dass sie abgehauen ist!«
Er wurde blass. Sein Blick verfinsterte sich. »Das hat nichts mit deiner Mutter zu tun.«
»Ach nein?«, konterte ich, und plötzlich waren da all die Worte, die ich ihm schon seit Jahren an den Kopf werfen wollte. Schon lange vor dem Tag, an dem Mom ihre Koffer gepackt hatte, ins Auto gestiegen und nie mehr zurückgekehrt war. Weil er schon damals nie da gewesen war und sich nie für mich interessiert hatte. »Es hat also nichts damit zu tun, dass du mit ihrem Job und ihren Hobbys nie wirklich etwas anfangen konntest? Dass du die Leute, mit denen sie befreundet war, nicht ausstehen konntest? Dass sie in Paris jemanden kennengelernt hat, der sie besser versteht und sie unterstützt, statt ihre Leidenschaft zerstören zu wollen?«
»Du redest da über Dinge, von denen du keine Ahnung hast«, erwiderte er mühsam beherrscht. »Was zwischen deiner Mutter und mir vorgefallen ist, hat nichts mit dir zu tun. Und selbst wenn es so wäre: Ich werde nicht zulassen, dass du dich genauso in eine Traumwelt flüchtest wie sie. Damit ist jetzt Schluss.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte den Flur hinunter. Zuerst begriff ich nicht, was er vorhatte, doch dann sah ich, was er ansteuerte: das Telefon, an dem auch der WLAN-Router hing. Der Zugang zum Internet. Mein Zugang zu einer Welt, in der mich die Leute verstanden, statt mich komisch von der Seite anzuschauen.
»Dad …!«
Er reagierte nicht.
Ich lief los. »Das kannst du nicht machen!«
»Oh doch, und wie ich das kann.« Er zog den Router aus der Steckdose und richtete sich wieder auf. An dem Gerät hingen allerlei Kabel, aber keines der erforderlichen Lämpchen leuchtete noch. »Ich habe diesen Schwachsinn mit deinen Spielen viel zu lange geduldet. Dein Verhalten heute Abend hat mir das deutlich gezeigt. Ab jetzt gibt es kein Internet mehr für dich. Wenn du dich über Colleges oder Zimmer in Wohnheimen informieren willst, tust du das ab sofort bei mir im Büro. Für etwas anderes brauchst du das Internet nicht. Und wenn du dich bis zum nächsten Abendessen nicht im Griff hast und dich nicht bei deiner Tante entschuldigst, gibt es bald auch keinen Computer mehr in deinem Zimmer.«
Mir wurde übel. Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich so sehr an, dass ich zitterte. Das konnte er unmöglich ernst meinen. Er konnte mich nicht dazu zwingen, das Internet und die Livestreams aufzugeben und mir damit drohen, mir im Zweifelsfall sogar den Computer wegzunehmen.
In ein paar Wochen würde ich aufs College gehen. Aber bis es so weit war, war ich auf meinen Vater angewiesen. Auf mein Zuhause. Mein Zimmer. Meinen Rechner. Mein Internet. Die Livestreams waren nicht bloß ein Hobby – sie waren ein Teil meiner Existenz geworden. Und das nicht nur, weil ich damit deutlich mehr verdiente als im Coffeeshop. Was sollte ich den Rest des Sommers über tun, wenn ich keinen Kontakt zur digitalen Außenwelt haben konnte? Rausgehen? Mich mit den Leuten aus meiner alten Highschool treffen? Mit Maddison Mae darüber quatschen, wie gut oder schlecht Brandon küssen konnte? Sicher nicht.
»Dad!«, rief ich verzweifelt und blinzelte gegen die blöden Tränen in meinen Augen an. »Tu das nicht. Bitte.«
»Tut mir leid, Liebling, aber du lässt mir keine andere Wahl. Zwing mich nicht dazu, dir auch noch das Handy wegzunehmen.«
Ich konnte ihn nur anstarren. Alles fühlte sich so an, als wären wir in einer parallelen Dimension gelandet. Dort passierten solche Dinge vielleicht, aber doch nicht hier. Nicht im echten Leben. Nicht in diesem Haus. Nicht mir.
»Und das nur, weil ich mit Tante Karlie beim Essen gestritten habe?«
Er warf mir einen harten Blick zu. »Wenn du wirklich glaubst, dass das der einzige Grund ist, dann hast du jetzt eine Menge Zeit, um dein Verhalten und deine Entscheidungen noch mal gründlich zu überdenken.« Er seufzte tief und auf einmal trat etwas fast Bedauerndes in seine Augen. »Eines Tages wirst du zur Vernunft kommen und mir dafür dankbar sein.«
Den Teufel würde ich! Aber ich brachte kein Wort hervor, keinen Protest, keine Argumente, gar nichts. Ich war völlig erstarrt und konnte meinem Vater nur nachschauen, wie er mit dem WLAN-Router unterm Arm ins Schlafzimmer ging und die Tür hinter sich zudrückte. Mit ziemlicher Sicherheit würde er das Gerät morgen sogar mit ins Büro nehmen, nur um dafür zu sorgen, dass ich nicht mehr rankam.
Das bedeutete … keine Online-Games mehr. Keine Streams und keine Multiplayer-Sessions. Und da mein Datenvolumen für diesen Monat schon so gut wie aufgebraucht war, weil ich in jeder freien Minute im Coffeeshop am Handy hing, auch keine Mails mehr. Kein Discord. Keine Foren, in denen ich alles über meine Wunsch-Unis las, was ich finden konnte, oder mich mit anderen Gamern über Spiele und Neuerscheinungen austauschte. Überhaupt keine Neuerscheinungen und News aus der Szene mehr. Nichts. Aber vor allem keine Chats mehr mit Parker.
Ich weigerte mich, das zu akzeptieren. Ich weigerte mich einfach. Das musste ein schlechter Scherz sein. Nur dass ich nicht diejenige war, die dabei lachte. Ich war diejenige, die es irgendwie ausbaden musste. Und ich war völlig allein.