Level 11
Teagan
Am nächsten Tag saß ich nach der Schicht im Coffeeshop auf der Fensterbank in meinem Zimmer und starrte in die Auffahrt. Der Router war noch immer weg, also gab es im ganzen Haus kein Internet. Keine Filme und Serien, die ich durchsuchten könnte. Nicht mal Musik, weil ich alles nur noch online hörte und mein alter CD-Player schon vor zwei Jahren den Geist aufgegeben hatte. Argh!
Was taten Menschen ohne Internet? Wie verbrachten sie ihre Zeit? Wie kommunizierten sie mit anderen? Sollte ich etwa da rausgehen und … was genau tun? Zur Mall fahren und dort herumhocken? Allein ins Kino gehen? Ugh. Nein, danke. Da blieb ich lieber zu Hause sitzen, starrte reglos aus dem Fenster und fragte mich, wie zum Teufel ich in einem kitschigen Vampirfilm gelandet war. Denn genau so musste sich Bella gefühlt haben, als Edward plötzlich weg war. Nur dass mein Edward der Internetanschluss war.
Seufzend sah ich auf mein Handy, obwohl ich genau wusste, dass es ohne Datenvolumen keine neuen Nachrichten geben würde. Klar könnte ich mir ein neues Datenpaket kaufen, aber das war schweineteuer, und jetzt, wo das Streaming auf unbestimmte Zeit als Einnahmequelle wegfiel, musste ich jeden Cent zweimal umdrehen. Was auch der Grund war, warum ich noch immer zögerte und Parkers Einladung nicht einfach angenommen hatte. Na gut, und weil Dad mir mit ziemlicher Sicherheit den Hals umdrehen und den Computer wegnehmen würde, wenn ich noch so eine Aktion wie zur RTX ­startete.
Aber ich wollte es. Ich wollte Parker und die anderen in Florida besuchen. Ich wollte mir das College anschauen, bei dem ich mich beworben hatte und auf dessen Antwort ich noch immer jeden Tag wartete. Und zu meiner eigenen Überraschung wollte ich den Kontakt zu anderen Menschen. Zu Leuten, die die gleichen Interessen hatten wie ich und mich nicht komisch anschauten, wenn ich etwas von Lara Croft oder Guild Wars erzählte.
Seufzend lehnte ich den Kopf gegen den Fensterrahmen. Könnte es nicht wenigstens regnen? Das würde viel besser zu meiner aktuellen Lebenssituation passen. Ein Tornado, Gewitter oder Schneesturm wären auch okay. Aber nein, stattdessen strahlte die Sonne von einem widerlich blauen Himmel herunter, und alle Welt genoss den Sommer. Sogar Dad war heute früher nach Hause gekommen, dabei arbeitete er sonst auch den ganzen Sonntag. Allerdings war er sicher nicht hier, um sich im Garten auf eine Liege zu setzen und sich zu sonnen – er hatte sich direkt in seinem Arbeitszimmer vergraben. Aber ich wusste genau, was er mit dieser Aktion bezweckte. Er wollte auf mich aufpassen und sichergehen, dass ich keine Dummheiten anstellte. Ich verdrehte die Augen. Als ob das ohne Internet so einfach möglich war. Ich konnte mir nicht mal online die Wettervorhersage anschauen. Davon, Flüge nach Florida zu buchen, ganz zu schweigen.
Eine Bewegung in der Einfahrt zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Post war da. Huh. Bis eben hatte ich nicht mal gewusst, zu welcher Uhrzeit sie sonst kam, weil ich immer mit etwas anderem beschäftigt gewesen war. Schule, Hausaufgaben, Arbeiten, Livestreams, Social Media … oder ich hatte mich einfach in ein paar Foren, auf Blogs und Online-Magazinen herumgetrieben.
Aber da ich jetzt sowieso nichts Besseres zu tun hatte und mich irgendwie beschäftigen musste, bevor ich ausrastete, stand ich auf, zog meine Boots an und trottete die Treppe hinunter. Vor dem Haus kniff ich die Augen vor den blendenden Sonnenstrahlen zusammen, fischte die Post aus dem Briefkasten und schlurfte anschließend genauso lustlos wieder zurück.
Die Briefe landeten auf einem Haufen auf der Kücheninsel, während ich mir etwas zu trinken aus dem Kühlschrank holte. Kein Kaffee und auch keine Energydrinks, weil es keinen Grund mehr für mich gab, wach und fit zu sein. Ich könnte genauso gut den ganzen Tag verschlafen … wenigstens würde dann die Zeit schneller vergehen.
Erst als ich das Glas Wasser ausgetrunken hatte, drehte ich mich zu dem Stapel Post um und beäugte ihn kritisch. Mein Herz begann vor Aufregung zu hämmern, auch wenn ich es ihm am liebsten verboten hätte. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Briefe für mich war, war verschwindend gering. Trotzdem kribbelten meine Finger, als ich sie danach ausstreckte und die einzelnen Umschläge durchging.
Rechnung. Werbung. Werbung. Rechnung. Irgendetwas für Dad. Noch mehr Werbung und … Ich hielt unwillkürlich die Luft an. Ein Brief der Georgetown University in Washington, D. C., einer katholischen Universität, wo man Politik, Medizin, Jura und all diesen Kram studieren konnte und die auf Platz 24 im nationalen Ranking stand. Ich konnte mich noch gut an den Vortrag erinnern, den mir mein Vater dazu gehalten hatte. Darüber, wie er dort im Basketballteam gespielt und sie auch dank ihm den Pokal geholt hatten. Wie er seinen Abschluss gemacht hatte. Wie er in einem Museum in Washington Mom kennengelernt hatte.
Ich schüttelte das seltsame Gefühl ab und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo ich mich aufs Sofa fallen ließ, den Brief noch immer in der Hand.
Machte es mich zu einem schlechten Menschen, dass ich mir eine Absage wünschte? Auch wenn ich genau wusste, wie enttäuscht Dad dann sein würde? Aber ich wollte nicht auf dieses College. Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht dorthin passte, würde ich mich dort verlieren. All meine Hobbys und Interessen würden nach und nach einschlafen, weil ich keine Zeit mehr dafür hätte, bis ich nur noch für mein Studium lebte und später eine Achtzig-Stunden-Woche in irgendeinem Büro verbringen würde.
Brr! Allein bei der Vorstellung wurde mir übel.
Trotzdem zitterten meine Finger, als ich den Umschlag langsam öffnete und den Brief herauszog. Und das Zittern nahm nur noch zu, als ich die Worte las.
Eine Zusage.
Die Georgetown University hatte mich akzeptiert. Ich sollte mich freuen. Wenigstens erleichtert sein, weil ich nun einen funktionierenden Plan B hatte, auf den ich zurückgreifen konnte, wenn das mit dem Game Design nicht funktionierte. Aber ich war nicht erleichtert, und ich freute mich auch nicht. Stattdessen zog sich mein Magen zusammen, und Übelkeit breitete sich in mir aus. Weil ich diesen Plan B nicht wollte. Ich wollte Plan A, verdammt noch mal!
Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken. Dad stand im Türrahmen und betrachtete mich mit gerunzelter Stirn.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und trank einen Schluck aus seiner Tasse.
Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht mal gehört hatte, wie er sich einen Kaffee gemacht hatte. Und auch jetzt konnte ich nicht antworten, also nickte ich nur.
»Was ist das?«, fragte er und trat näher. Als ich nicht reagierte, nahm er mir den Brief aus der Hand und las ihn selbst. Innerhalb von Sekunden hellte sich sein besorgtes Gesicht auf und Freude breitete sich darauf aus. So viel Freude, dass sich mein Magen nur noch mehr zusammenzog. »Sie haben dich angenommen! Das ist großartig, Teagan!«
Ja. Großartig. Und wie. Denn jetzt stand der Zukunft, die er für mich vorgesehen hatte, nichts mehr im Weg. Na ja, nichts außer meinem Starrsinn.
»Das müssen wir feiern! Was sagst du, Liebling? Teagan?«, rief Dad mir nach, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass ich schon längst aufgestanden und auf dem Weg nach oben war. Und wahrscheinlich entsprach das sogar der Wahrheit.
»Mir ist nicht nach Feiern«, gab ich zurück und ging weiter, ohne zurückzuschauen, damit ich sein enttäuschtes Gesicht nicht sehen musste.
In meinem Zimmer angekommen, drückte ich die Tür hinter mir zu und lehnte mich dagegen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und Tränen brannten in meinen Augen. Wie lächerlich war das eigentlich? Jeder andere in meinem Alter würde sich riesig über eine Collegezusage freuen. Für mich fühlte es sich stattdessen so an, als würde die Welt untergehen. Meine Welt.
Rastlos glitt mein Blick durch das Zimmer, über das ungemachte Bett, die Tomb-Raider-Poster an der einen Wand, das unordentliche Regal und den verlassenen Schreibtisch mit den Monitoren, dem Rechner und dem Gaming-Sessel. Dann sah ich auf das Handy, das noch immer auf der Fensterbank lag.
Dann komm her.
Parkers Stimme geisterte durch meinen Kopf. Wenn es so einfach wäre, hätte ich mich schon längst in einen Flieger gesetzt, aber das konnte ich nicht tun. Nicht schon wieder. Und ganz bestimmt nicht so kurz nach dem Desaster, das überhaupt erst dazu geführt hatte, dass Dad mir den Router weggenommen hatte. Oder …?
In meinem Kopf arbeitete es unablässig. Ich wollte nicht auf die Georgetown University, so viel war klar. Und wenn ich meinen Vater damit sowieso enttäuschen würde – noch mehr als ohnehin schon –, dann … ja, dann konnte ich auch nach Florida fliegen und mir den Campus des West Florida Media & Arts Colleges anschauen. Dann konnte ich auch Parker wiedersehen. Selbst wenn das bedeutete, mir diese blöden Tickets direkt am Schalter am Flughafen zu besorgen und Dads Zorn erneut auf mich zu ziehen.
Alles war besser, als auf eine Universität gehen und jahrelang etwas studieren zu müssen, das mich in keinster Weise interessierte.
Alles war besser, als meinen Traum einfach aufzugeben.
Am nächsten Morgen saß ich im Flieger. Beim Anflug auf Pensacola war es bereits Nachmittag, und ich drückte mir fast die Nase an der Scheibe platt. Da war so viel Blau, so viel Meer, endlose Strände, Häuser und Autos, die immer größer wurden, bis sie nicht mehr so aussahen, als wären sie kleine Ameisen. Zugegeben, Pensacola war nicht Miami Beach, aber das, was ich vom Flugzeug aus erkennen konnte, hatte mich schon überzeugt. Es musste ein Traum sein, so nahe am Meer zu leben. Und wenn ich hier auch noch Game Design studieren könnte …
Ich atmete tief durch und unterdrückte das aufgeregte Kribbeln in meinem Bauch. Noch hatte ich nichts vom WFMAC gehört, weder eine Zu- noch eine Absage. Allerdings hatten wir bereits den achtzehnten Juli. Allzu lange konnte es nicht mehr dauern, bis ich von allen Colleges eine Rückmeldung erhielt, schließlich begannen die ersten Herbstsemester schon in einem Monat. Wann genau es hier losging, musste ich noch mal nachschauen. Bisher war das Terrence College in Austin mein Favorit. Mal sehen, ob mich das West Florida Media & Arts College genauso von sich überzeugen konnte.
Und vielleicht, nur vielleicht hatte meine Aufregung ja auch etwas damit zu tun, dass Dad mich vermutlich umbringen würde, sobald ich wieder zu Hause war, weil ich ihm wieder nur einen Zettel hinterlassen und unserer Haushälterin Susanna Bescheid gesagt hatte, dass ich nach Florida flog.
Kaum tauchte dieser Gedanke auf, schob ich ihn weit von mir. Damit würde ich mich erst auseinandersetzen, wenn ich wieder zu Hause war. Außerdem würde Dad sowieso nicht so schnell merken, dass ich weg war, weil er einen neuen Kunden hatte und die nächsten Tage wieder mal rund um die Uhr arbeiten und vermutlich im Büro schlafen würde. Heute Morgen war er sogar noch vor mir losgefahren.
Meine Aufregung hatte also überhaupt nichts mit einem möglichen schlechten Gewissen zu tun, sondern vielmehr damit, dass ich gleich Parker wiedersehen würde. Mir einfach anzubieten, bei ihnen in der WG zu übernachten, war nicht selbstverständlich. Ich kannte die Leute bei mir daheim seit dem Kindergarten, und trotzdem würde mir keiner von ihnen je so etwas anbieten, da war ich sicher.
Meine Finger bohrten sich in die Armlehnen, als der Anflug auf den Pensacola International Airport begann. Es war nicht so, dass ich Flugangst hatte – ich hatte nur zu viele Artikel im Internet darüber gelesen, was alles schiefgehen konnte. Und natürlich war ausgerechnet die Tatsache, dass Anflüge und Landungen mit am gefährlichsten waren, in meinem Kopf hängen geblieben. Danke auch, Gehirn.
Ein Ruckeln ging durch den Flieger. Ich hielt die Luft an und kniff die Augen zusammen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis … Eine kleine Erschütterung und der Flieger hopste kurz auf und ab, dann waren wir auf der Rollbahn. Oh, Gott sei Dank!
Alles, was danach folgte, fühlte sich nicht nur wie eine Ewigkeit an, sondern dauerte tatsächlich so lange. Eigentlich hatten wir es geschafft, pünktlich zu landen, doch bis wir dann auch tatsächlich am Terminal ankamen und aussteigen durften, vergingen noch einige quälend lange Minuten. Ich presste meine Tasche an mich – genau dieselbe, die ich bis vor wenigen Wochen noch ständig in der Schule dabeigehabt hatte, und die mir jetzt als Reisetasche diente –, dann stand ich auf.
Ungeduldig folgte ich den anderen Passagieren aus dem Flugzeug und die langen Gänge entlang. Natürlich blieb jemand direkt vor mir einfach stehen, um sein Handy zu checken, und irgendwo brüllte ein Kind so laut, dass mir die Ohren klingelten, während mich ein Kerl im Businessanzug mit Aktenkoffer in der Hand und Headset im Ohr fast umrannte. Bah. Menschen. Dagegen halfen nicht mal mehr die niedlichen Delfine, die auf dem Boden zu sehen waren.
Zum Glück bogen die meisten Reisenden Richtung Gepäckausgabe ab, an der ich vorbeilaufen konnte und stattdessen direkt den Ausgang ansteuerte. Dass mein Herz dabei mit jedem Schritt schneller schlug, lag sicher nur daran, dass ich schon ewig keinen Sport mehr gemacht hatte und hier ein Mordstempo an den Tag legte. Das war der einzige Grund. Ganz bestimmt.
Ich trat durch die Türen in den Wartebereich, wo sich einige Leute versammelt hatten, um die eintreffenden Passagiere in Empfang zu nehmen. Mütter mit Babys auf der Hüfte und kleinen Kindern an der Hand, besorgte Eltern, die auf ihre Söhne und Töchter warteten, aufgeregte Männer und Frauen, die das Wiedersehen mit ihren Partnern gar nicht mehr erwarten konnten, ganze Gruppen von Studenten und …
Ich blieb abrupt stehen, als mein Blick den von jemand anderem traf. Strahlend blaue Augen, fast schwarze Haare und ein genauso dunkler Bartschatten, dazu ein langsames Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete. Parker hatte zwar angekündigt, dass er mich abholen würde, trotzdem traf es mich völlig unvorbereitet, ihn dort stehen zu sehen. Vielleicht, weil ich mir weder bei den Vorbereitungen noch beim Packen, auf dem Weg hierher und nicht mal während des Fluges erlaubt hatte, auch nur eine Sekunde daran zu denken, wie es sein würde, ihn wiederzusehen. Oder was das in mir auslösen würde.
Ich hatte keine Ahnung, wer von uns sich zuerst in Bewegung setzte, aber plötzlich standen wir voreinander, und ich versank in einer Umarmung, bei der mir die Luft weg- und das Herz förmlich stehen blieb. Und da war er wieder, dieser Duft, der mich noch Tage nach der RTX verfolgt hatte. Diese Mischung aus fruchtigem Apfel, Rosmarin und etwas Warmem, Würzigem machte mich noch wahnsinnig. Ich musste dringend herausfinden, welches Duschgel Parker benutzte.
Später. Denn im Moment war ich vollauf zufrieden damit, seine Nähe zu spüren und die Arme ganz fest um ihn zu schlingen.
»Mhhh«, machte er gedämpft in meinem Haar. »Du riechst gut.«
Ich gluckste, auch wenn mein Puls in die Höhe schoss. Trotzdem machte ich mich nicht von ihm los. »Nach Menschen, Stress und Flugzeug?«
»Nein.« Parkers Lachen war nicht zu hören, aber ich spürte deutlich, wie seine Schultern bebten. »Nach dir.« Sein warmer Atem streifte meinen Hals und hinterließ eine prickelnde Gänsehaut. Dann löste er sich ein Stück von mir und sah lächelnd auf mich hinunter. Für eine Sekunde verweilte sein Blick auf meinem Mund, dann schaute er mir wieder in die Augen. »Willkommen in Pensacola.«
»Danke.«
War das wirklich ich, die so atemlos klang? Gott, das war ja furchtbar. Aber ich konnte meine Reaktionen auf diesen Kerl einfach nicht abstellen. Erst recht nicht, als er mir wie selbstverständlich den Arm um die Schultern legte und mich an den ganzen Leuten vorbei Richtung Ausgang führte.
»Ist das dein ganzes Gepäck?«, fragte er und deutete auf meine Tasche.
»Jepp.« Schließlich war ich nur für ein paar Tage hier. Zahnbürste, Schminkzeug, Unterwäsche, ein paar Klamotten, Handy, Ladekabel, Geldbeutel. Wie viel mehr brauchte man?
Im Aufzug ließ er mich los, aber ich spürte immer wieder seine Blicke auf mir, bis ich mich schließlich im Parkhaus zu ihm umdrehte. Gegen meinen Willen musste ich lächeln. »Was?«
»Nichts.« Er schüttelte den Kopf, aber auch seine Mundwinkel zuckten. »Ich kann nur nicht ganz glauben, dass du wirklich da bist.«
Mir lag eine sarkastische Erwiderung auf den Lippen, aber ich schluckte sie hinunter. »Ich auch nicht«, erwiderte ich stattdessen ehrlich und hielt ebenfalls an, als Parker neben einem schwarzen Wagen stehen blieb. »Dad wird mich um­bringen.«
»So schlimm?« Parker nahm mir die Tasche ab und legte sie in den Kofferraum. Dann drückte er die Klappe wieder zu. Die Bewegung zog meine Aufmerksamkeit automatisch auf seinen Bizeps. Huh. Wer hätte gedacht, dass ein Gamer so trainiert sein konnte? Im selben Moment, in dem diese Feststellung in meinem Kopf auftauchte, verpasste ich mir in Gedanken einen Tritt. Ich hasste die Klischees, mit denen sich Gamer und vor allem Gamerinnen herumschlagen mussten, und jetzt war ich selbst in diese Falle getappt. Mist.
Ich räusperte mich und versuchte, mich daran zu erinnern, was Parker gerade gesagt hatte. Dann zuckte ich mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber er war nicht so happy darüber, dass ich zur RTX nach Texas geflogen bin. Obwohl ich mir dort auch einen Campus angeschaut habe. Allerdings hält er Gaming und Game Design sowieso für den größten Schwachsinn«, fügte ich murmelnd hinzu und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen.
Das Auto war mittelgroß, geräumig und sauber, obwohl ich hier und da ein bisschen Sand entdeckte. Entweder pflegte Parker den Wagen gut oder er benutzte ihn nicht allzu häufig.
»Tut mir leid, das zu hören.« Er glitt hinters Lenkrad und startete den Motor. »Mein Dad hat längst aufgegeben, zu verstehen, was ich eigentlich studiere und arbeite. Irgendwann hat er es einfach so hingenommen.«
»Immerhin.« Es lag mir auf der Zunge, nach seiner Mom zu fragen und wie sie zu dem Thema stand, aber das würde unweigerlich Fragen nach meiner eigenen Mutter nach sich ziehen und dazu war ich noch nicht bereit. »Also«, sagte ich stattdessen und sah aus dem Fenster, als wir losfuhren und das Parkhaus verließen. »Wie sieht der Plan aus? Wie lange fahren wir?«
»Nur zehn bis fünfzehn Minuten, je nachdem wie gut wir durchkommen. Ich bringe dich in die WG, dann kannst du erst mal ganz in Ruhe ankommen, und danach kann Cole dir den Campus zeigen. Oder ihr macht das morgen, ganz wie du willst.«
»Morgen«, erwiderte ich, ohne darüber nachdenken oder einen Blick auf die Uhr werfen zu müssen. Es war noch hell draußen, aber ich war einmal quer durchs ganze Land geflogen – im wahrsten Sinne des Wortes. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht mal mehr, in welcher Zeitzone ich mich befand.
»Wie lange warst du unterwegs?«, wollte Parker wissen, als hätte er meine Gedanken erraten.
Ich ging die Strecke im Geiste durch. »Alles in allem? Ungefähr elf Stunden. Ich bin um halb sechs Uhr morgens in Seattle losgeflogen und hatte einen Zwischenstopp in Denver, wo ich über vier Stunden auf den Anschlussflug warten musste, und dann noch drei Stunden Flug hierher.«
»Wow, murmelte er. »Ich würde gern sagen, dass ich mich geehrt fühle, aber ich weiß ja, dass du den ganzen weiten Weg nicht meinetwegen gemacht hast.« Er warf mir ein Grinsen zu und setzte die Sonnenbrille auf.
Ich zog meine eigene Sonnenbrille aus der Tasche, schob sie mir auf die Nase und lehnte mich zurück. Scheinbar entspannt, auch wenn ich das innerlich absolut nicht war. Ich war in diesem seltsamen Zustand, bei dem ich in Gedanken noch zu Hause, körperlich aber bereits an einem neuen Ort war. In dem ich eigentlich todmüde sein müsste, weil ich viel zu wenig geschlafen hatte, zu früh aufgestanden war und eine halbe Weltreise hingelegt hatte, in Wahrheit aber total überdreht war. Meine Muskeln waren angespannt, und meine Haut kribbelte vor Aufregung. Doch das lag definitiv nicht nur an der Erschöpfung oder der Tatsache, dass ich plötzlich in Florida war, sondern vor allem an dem Kerl neben mir, der den Wagen ruhig durch die vollen Straßen lenkte.
Parker trug ein rotes Fallout-Shirt mit dem Logo von Nuka-Cola, eine verblichene Jeans und ein paar Bänder um das linke Handgelenk. Den Ellbogen hatte er lässig am Tür­rahmen abgestützt, die Hand am Lenkrad, während die andere locker auf dem Schalthebel lag. Sein Blick war geradeaus auf die Straße gerichtet, und sein Bizeps spannte sich jedes Mal ein bisschen an, wenn wir abbogen und er das Lenkrad drehte. Wie am Abend auf der RTX hatte er einen dunklen Bartschatten. Und ich musste mich nicht fragen, wie sich das auf meiner Haut anfühlte, denn ich wusste es bereits. Ich wusste es sogar sehr genau.
Seine Mundwinkel wanderten in die Höhe, aber er sagte nichts. Musste er auch nicht, weil ich selbst merkte, dass ich ihn anstarrte. Verdammt!
Hastig riss ich den Blick von ihm los und sah durchs Fenster nach draußen.
Der Himmel war strahlend blau, die Sonne brannte auf uns herab, und nur ein paar schmale Wölkchen zogen vorbei. Wir hatten die Gegend rund um den Flughafen bereits verlassen und fuhren gerade über eine Brücke an einem See vorbei. Aus irgendeinem Grund war ich überrascht, wie grün es hier war. Überall waren Bäume, Sträucher, vom Sommer etwas ausgetrocknete Wiesen und Palmen zu sehen. Jawohl, Palmen. Obwohl ich wusste, dass wir in Florida waren, überraschte mich der Anblick dennoch.
In den etwas über zehn Minuten Fahrt passierten wir mehrere Tankstellen, eine einsame Bushaltestelle, eine Apotheke direkt neben einem Beauty- und einem Waschsalon, ebenerdige Bungalows mit weißen Briefkästen am Straßenrand, und etwas, das wie ein Bootsverleih oder -verkauf aussah. Wow. Das Meer musste wirklich ganz in der Nähe sein, aber so flach wie die Gegend um uns herum war, hatte ich noch keinen Blick darauf erhaschen können.
An einer ziemlich großen Kreuzung deutete uns ein Schild den Weg nach Pensacola Beach. Wir fuhren auf die Autobahn und nahmen wenig später schon die Ausfahrt Richtung Downtown. Hier veränderte sich das Bild zunehmend. Moderne Bauten wechselten sich mit traditionellen roten Backsteingebäuden ab, die mit massiven Säulen versehen waren, wie ich sie eher in den ländlichen Bereichen der Südstaaten erwartet hätte. Außerdem standen nun die ein- bis dreistöckigen Wohnhäuser näher beieinander und ihre Fassaden wiesen deutlich mehr Farbe auf. Da gab es mintfarbene und hellblaue Gebäude ebenso wie ein Eckhaus in einem so leuchtenden Goldgelb, als hätten sich die Erbauer die gelbe Backsteinstraße in Der Zauberer von Oz zum Vorbild genommen.
Parker bog ein paarmal ab, bis er den Wagen schließlich in einem hübschen Wohngebiet am Straßenrand anhielt und den Motor ausschaltete. »Da wären wir.«
Ich folgte seinem Blick zu einem der Häuser, in dem drei Generationen derselben Familie Platz finden würden. Ganz ähnlich wie mein eigenes Zuhause also, nur dass dort bloß Dad und ich lebten. Aber während unser Haus in Washington von außen kalt und steril wirkte, strahlte dieses Haus sofort eine gewisse Wärme aus. Und das lag nicht nur an der Sonne, die auf mich herabschien, sobald ich aus dem Auto ausstieg und die Tür hinter mir zudrückte.
Eine niedrige Steinmauer grenzte den Rasen ab, ein paar Stufen und ein Stück Weg führten zum eigentlichen Haus hinauf. Neben dem Erdgeschoss gab es noch zwei weitere Stockwerke, wenn man den Dachboden dazurechnete. Die Fassade war in einem warmen Rotton gestrichen, die Fensterläden dunkelgrün, die schmalen Säulen und das Geländer an Veranda und Balkon strahlten dagegen ganz in Weiß. Dazu kam eine dunkelbraune Eingangstür aus schwerem Holz mit einem darin eingesetzten bunten Glasmosaik – und ich musste sofort an eine meiner Lieblingsserien denken.
»Wow …«, stieß ich ohne Nachzudenken hervor. »Das erinnert mich total an das Haus aus Charmed
»Charmed?« Parker kam um den Wagen herum, meine Tasche über der Schulter. Ein neugieriger Unterton schwang in seiner Stimme mit.
Ich nickte abwesend. »Das Original aus den Neunzigern, nicht das Remake. Meine Mom und ich haben einen ganzen Sommer damit verbracht, alle acht Staffeln durchzusuchten.«
»Klingt nach einem guten Sommer.«
Ich seufzte tief. »Der beste.«
Und der letzte, bevor sie uns verlassen hatte. Mittlerweile wusste ich, dass Mom sich auf einer Reise durch Frankreich, die sie mit zwei Freundinnen gemacht hatte, in einen anderen Mann verliebt hatte. Kurz danach hatte sie ihre Sachen gepackt und war abgehauen. Erst Monate später hatte ich erfahren, dass sie mit ihrem neuen Lebensgefährten in Paris zusammengezogen war.
Ob sie heute noch dort lebte? War sie überhaupt noch mit Mister French zusammen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Es war ja nicht so, als hätte sie sich von mir verabschiedet oder würde mich regelmäßig updaten. Von einem Tag auf den anderen war unsere Mutter-Tochter-Beziehung nicht mehr existent gewesen, und aus welchen Gründen auch immer hielt es meine Mutter offenbar für das Beste, keinen Kontakt mehr zu mir zu haben. Oder vielleicht war es für sie so auch am einfachsten.
Ich hatte mich immer wieder gefragt, was bei uns daheim falsch gelaufen war und ob ich etwas daran hätte ändern können. Aber am Ende lief es immer auf dieselbe Sache hinaus: Mein Dad war nie zu Hause, sondern immer bei der Arbeit gewesen. Wahrscheinlich war es also kein Wunder, dass sie sich vernachlässigt gefühlt hatte. Und wenn er daheim gewesen war, hatten die beiden sich meist gestritten. Ich hatte die Diskussionen zwischen den beiden jahrelang aus nächster Nähe mitbekommen. Aber was hatte ich falsch gemacht? Warum hatte sie mich einfach zurückgelassen?
Eine sanfte Berührung an meinem Arm. »Teagan?«
Ich zuckte zusammen. Parker zog seine Hand sofort zurück.
»Sorry.« Ich räusperte mich und zwang meine Gedanken wieder in die Gegenwart. »Was hast du gerade gesagt?«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ich hab dich nur gewarnt. Falls du einen alten Kerl mit Pfeife siehst, der dich böse anstarrt, mach dir nichts draus. Das ist Mister Oakley von unten. Und wenn er nicht gerade vorm Fernseher die ganze Welt verflucht, sitzt er am Fenster oder auf der Veranda, sonnt sich und wirft anderen Menschen finstere Blicke zu.«
»Okay …?«, erwiderte ich etwas irritiert, aber nicht allzu überrascht. Auf der Party nach der RTX hatte ich ja schon ein paar Geschichten aus der WG gehört, genau wie von ihrem ominösen Nachbarn.
Parker leerte den Briefkasten, dann folgten wir dem Weg zum Haus hinauf und nahmen die letzten Stufen zur Veranda, auf der ein paar Stühle und ein kleiner dreibeiniger Tisch standen. Vom berühmt-berüchtigten Mister Oakley war weit und breit nichts zu sehen. Parker öffnete die Haustür und ließ mich vorausgehen. Irgendwie war ich fast ein bisschen enttäuscht, dass es drinnen nicht auch wie bei Charmed aussah, und ich weder antike Standuhren noch einen direkten Zugang in den Wohnbereich entdecken konnte. Eine einzelne Tür gegenüber vom Eingang führte in die Wohnung im Erdgeschoss, während rechts von uns eine gewundene Treppe nach oben ging. Parker deutete darauf, also nahm ich die Stufen nach oben.
Im Obergeschoss angekommen, hielt Parker vor der Wohnungstür inne und bedachte mich mit einem seltsamen Blick. War er etwa nervös? Angespannt? Aber warum sollte er das sein?
»Bereit?«, fragte er mit einem belustigten Gesichtsausdruck. Gleichzeitig wirkte er so, als würde er sich gerade für das Schlimmste wappnen.
Alarmiert runzelte ich die Stirn. »Wofür?«
Statt einer Antwort stieß Parker die Tür auf und deutete schwungvoll hinein. »Willkommen im Chaos!«
Ein Schritt hinein genügte, um zu wissen, was er damit meinte. Es roch verbrannt, aus zwei Richtungen schallte Musik, die unterschiedlicher nicht sein könnte, direkt vor uns im Flur lag ein blaues Handtuch auf dem Boden und irgendein Kerl brüllte etwas, das kaum zu verstehen war.
Okay. Wow. Ich hatte keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber definitiv nicht, dass es so laut und chaotisch hier sein würde. Wir folgten dem Flur zur Küche, aus der uns der Geruch nach Verbranntem entgegenkam. Beim Eintreten begrüßten uns Songs einer Boyband, die ziemlich nach den Neunzigern klang. Am Herd stand eine junge Frau, ein Stück kleiner als ich, ziemlich schmal, mit Brille und fast taillenlangen goldblonden Haaren. Ihren hektischen Bewegungen nach zu urteilen versuchte sie gerade zu retten, was auch immer sie da kochte. Und sie war nicht allein. Cole sprang um sie herum und schien Schadensbegrenzung betreiben zu wollen, während der Rauch schon an die Decke stieg und es wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit war, bis der Feuermelder losging. Wobei … den würde man bei der Lautstärke der Musik wahrscheinlich eh nicht hören.
Direkt nach uns betrat auch Lincoln die Küche. Er hatte reichlich Schaum im Haar und trug nur ein Handtuch um die Hüften. Und vielleicht starrte ich einen Moment zu lange auf das Sixpack, das er dabei zur Schau trug …
»Hey!«, rief er in die Runde. »Ich versuche zu duschen! Hört auf, am Wasserhahn rumzuspielen!«
Parker verzog das Gesicht und warf mir einen entschuldigenden Blick zu.
Ich sah von einem zum anderen – und prustete los. »Oh mein Gott, das ist so gut!«
Erst jetzt schienen uns die anderen überhaupt zu bemerken. Und während ich noch gegen mein Lachen ankämpfte und mir mit einer Hand Luft zufächelte, starrten Lincoln und die junge Frau uns aus riesigen Augen an.
Cole dagegen warf auch den zweiten Topf ins Spülbecken und schaltete hastig den Herd aus. »Oh, hey, Teagan. Wieso bist du schon da?«
Parker stellte meine Tasche auf einem Stuhl ab und durchquerte die Küche in großen Schritten, um die Fenster aufzureißen.
Ich konnte nur grinsend den Kopf schütteln und mir den Bauch halten, der schon wehtat vom vielen Lachen. »Was ist das hier? Ein Sims-Haushalt?«
Die Jungs starrten mich sekundenlang an, dann grölten sie los.
Die junge Frau hingegen strahlte und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. »Ich mag dich!« Sie drückte mich mit erstaunlich viel Kraft an sich. »Ich bin Sophie. Hi!«
»Hi«, erwiderte ich etwas überrumpelt und machte mich schnell wieder von ihr los, was zur Folge hatte, dass sie über eine unsichtbare Delle im Boden stolperte, sich jedoch in letzter Sekunde noch am Tisch festhalten konnte, bevor sie auf die Nase fiel.
Cole, der das Ganze aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, grinste nur. »Diese WG ist chaotischer als jeder Sims-Haushalt. Glaub mir. Schon getestet.«
Lincoln kratzte sich am Kopf, sah dann auf den Schaum auf seinen Fingern hinab und runzelte die Stirn, beinahe so, als hätte er in dem Trubel vergessen, dass er gerade aus der Dusche kam. »Du hast uns als Sims angelegt?«
»Klar.« Lässig zuckte Cole mit den Schultern und ließ Wasser in die angebrannten Töpfe laufen. »Mit irgendwem musste ich das Spiel ja mal ausprobieren.«
Lincoln schien noch etwas sagen zu wollen, winkte dann aber ab und verließ die Küche unverrichteter Dinge wieder. Vermutlich, um sich das ganze Shampoo aus den Haaren zu waschen.
Parker ging zum Kühlschrank und holte zwei Flaschen Wasser heraus. Eine überreichte er mir, die andere schraubte er selbst auf. »Und da ist dir niemand Besseres eingefallen, als deine Mitbewohner?«
»Beschwer dich nicht, du hast eine fantastische Karriere als außerirdisches Testobjekt hingelegt.«
Parker verschluckte sich und musste husten. »Dein verdammter Ernst?« Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund.
Cole winkte ab. »Klar.«
»Und der Rest?«, wollte Sophie wissen und warf einen traurigen Blick Richtung Spüle. Der Rauch hatte sich inzwischen verflüchtigt – genauso wie was auch immer sie da hatte kochen wollen.
»Lass mich kurz nachdenken.« Cole tippte sich gegen seinen Nasenring. »Linc ist Wahrsager geworden, du bist Akrobatin, und Lizzy ist arbeitslos.«
Diesmal war ich diejenige, die losprustete und sich beinahe beim Trinken verschluckte. »Alles klar«, sagte ich und nahm einen großen Schluck von meinem Wasser, um das Kitzeln in meiner Kehle runterzuspülen. »Und was ist mit dir?«
Cole warf mir ein selbstzufriedenes Lächeln zu. »Aus mir ist natürlich ein gefeierter Superstar geworden.«
»Natürlich«, antworteten Parker und ich gleichzeitig.
Ich sah im selben Moment zu ihm, wie er zu mir. Dann lächelte er, was … seltsame Dinge in meiner Magengegend auslöste. Dinge, über die ich nicht nachdenken wollte. Nicht jetzt und nicht hier. Am besten gar nicht. Das klang doch nach einem guten Plan.
»Da du mein Essen ruiniert hast …«, begann Sophie.
Cole unterbrach sie mit einem Schnauben. »Du meinst wohl eher, ich habe dich vor einer Lebensmittelvergiftung und uns alle vor dem Feuertod bewahrt.«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der trotz ihrer schmalen Statur erstaunlich viel Wirkung zeigte. Bildete ich mir das nur ein oder zuckte Cole tatsächlich zusammen?
»Wie auch immer«, fuhr Sophie fort und wedelte mit der Hand, als hätte es gar keinen Einwand gegeben. »Wir bestellen jetzt etwas. Und du lädst uns alle ein«, fügte sie mit einem honigsüßen Lächeln hinzu.
»Was?« Cole blinzelte verdutzt. »Wieso denn das?«
Parker klopfte ihm scheinbar mitfühlend auf die Schulter. »Versuch gar nicht erst, dich mit ihr anzulegen.« Dann drückte er ihm einen weißen Umschlag in die Hand. »Das war für dich in der Post.«
»Für mich?« Irritiert sah Cole zwischen Parker und dem Brief hin und her, dann drehte er ihn zwischen den Fingern. »Kein Absender. Huh …«
Sophie kehrte mit einem Laptop in der Hand in die Küche zurück, ließ sich auf einen der unterschiedlich großen und farbigen Stühle am Küchentisch fallen und klappte ihn auf. »Was wollen wir bestellen? Pizza? Sushi? Burger? Thai? ­Mexikani…«
»Heilige Scheiße!«
Alle Blicke richteten sich auf Cole. Lincoln kam – diesmal vollständig angezogen – zurück in die Küche. »Was ist jetzt schon wieder?«
Statt einer Antwort hielt Cole den Brief weit von sich und wir alle sahen den roten Glitzer, der sich über sein Shirt, seine Arme, seine Hose und sogar auf dem Boden um ihn herum verteilt hatte.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund, um mein Lachen zu unterdrücken, aber irgendwie musste es mir doch entschlüpft sein, denn plötzlich starrten mich alle an. »Ist das von Ship Your Enemies Glitter? Wen hast du so abgefuckt, dass er dir Glitzer schickt?«
Letztes Jahr hatte es einen riesigen Aufruhr in meinem Englischkurs gegeben, weil irgendein Typ einen solchen Brief erhalten hatte und den Glitzer in der ganzen Schule verteilt hatte. Sogar ich hatte am Abend etwas davon an meiner Tasche gefunden, obwohl ich nie direkt mit dem Typen zu tun gehabt hatte. Das Zeug war echt die Hölle. Und jetzt hatte Cole auch so einen Brief bekommen? Vielleicht war es gemein, aber ich konnte gar nicht anders, als zu lachen. Erst recht nicht, als er auch noch anfing, den Brief laut vorzulesen.
»Hallo, du schrecklicher Mensch …«
Diesmal war Sophie diejenige, der ein Glucksen entkam. »Oh mein Gott!«, stieß sie hervor. »Da kennt dich jemand so gut. Und du bist voll mit dem Zeug.«
»Was du nicht sagst«, konterte Cole trocken.
Sie musste so sehr lachen, dass ihr die Tränen kamen. »Das ist der beste Tag meines Lebens!«
»Schön, dass dich das so amüsiert«, murmelte er und bewegte sich so schnell, dass Sophie gar nicht reagieren konnte. In der einen Sekunde saß sie noch da und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht, in der nächsten schlang Cole die Arme von hinten um sie und teilte den ganzen Glitzer großzügig mit ihr.
»Hey! Echt jetzt?«, rief sie entrüstet und sprang auf. Sophie sah an sich herunter und verzog das Gesicht. Ihr Oberteil, ihre Jeans, ihre Arme und vor allem ihre blonden Haare – alles funkelte.
Cole grinste hämisch und wackelte mit den Brauen. »Will sonst noch jemand?«
Ich wich zurück. Parker stellte sich todesmutig vor mich und Lincoln schien diese Drohung völlig kalt zu lassen. Zumindest bis sich Cole auf ihn stürzte und ihn durch die halbe Wohnung jagte. Parker riss mich zur Seite, als die beiden an uns vorbeiwetzten, und murmelte eine Entschuldigung, aber ich schüttelte nur grinsend den Kopf.
Normalerweise mochte ich keine anderen Menschen. Und normalerweise würde ich mich auch nie so schnell mit Leuten anfreunden, die ich kaum kannte. Aber hier funktionierte es irgendwie sofort, was fast schon unheimlich war. Dennoch … In dieser verrückten WG, die mich so chaotisch und herzlich willkommen geheißen hatte, fühlte es sich beinahe so an, als wäre ich eine von ihnen.