Level 12
Parker
Die Wärme des Tages hielt sich auch nachts in der Wohnung, obwohl wir alle Fenster weit geöffnet hatten. Den ganzen Tag über hatte ich schon ein leichtes Hämmern im Kopf verspürt, es aber die meiste Zeit über ausgeblendet und versucht, mir nichts davon anmerken zu lassen. Das war jetzt anders. Ich hatte keine Ahnung, wann ich überhaupt ins Bett gekommen war, weil wir den Abend zusammen mit Cole und Sophie im Wohnzimmer vor der Playstation und Xbox verbracht hatten. Aber ich wusste, dass ich mich seit einer gefühlten Ewigkeit in meinem Bett hin und her wälzte und einfach nicht schlafen konnte. Und das nicht nur, weil ich den höchsten Punkt der Müdigkeit bereits überschritten hatte und wieder hellwach war, sondern weil das Hämmern in meinem Kopf immer heftiger wurde.
Irgendwann setzte ich mich ächzend auf und rieb mir mit beiden Händen über Stirn und Schläfen. Shit. So würde ich keine Sekunde lang schlafen können. Seufzend stand ich auf, schlurfte zum Schreibtisch hinüber und schaltete die Beleuchtung ein, die mich natürlich sofort blendete.
»Dämliches Mistding …« Ich wühlte in den Schubladen, bis ich endlich die Schmerztabletten fand und spülte sie mit dem letzten Rest meiner Wasserflasche hinunter. Dann ging ich zum offenen Fenster hinüber und lehnte mich hinaus.
Die Luft war warm statt frisch, und der Anblick der Lichter Pensacolas hatte diesmal keine sonderlich beruhigende Wirkung auf mich. Auch die Mischung aus unterschiedlichsten Geräuschen – das Zirpen von Grillen, Autos, die in der Nähe oder direkt durch unsere Straße fuhren, das Rascheln der Bäume im Wind, das entfernte Bellen eines Hundes in der Nachbarschaft – wirkten in dieser Nacht nicht harmonisch und einlullend. Denn all das wurde von dem Dröhnen in meinem Kopf übertönt.
Ich sah mich in meinem Zimmer um, das aus nicht viel mehr bestand als der dicken Matratze auf den Holzpaletten, dem Schreibtisch mit den beiden Rechnern, drei Monitoren, der LED-Beleuchtung und dem ganzen Kabelsalat darunter, einem Drehstuhl und einer kleinen Kommode mit all meinen Klamotten. Ich seufzte und rieb mir über die Augen. An Weiterschlafen war nicht mehr zu denken, aber genauso ­wenig daran, einfach den PC anzuschmeißen und irgendetwas zu zocken. Wahrscheinlich würde mein Kopf dabei ­explodieren. Außerdem war ich noch immer verflucht durstig, also ­schnappte ich mir die leere Flasche und öffnete leise die Tür.
Ich wusste noch genau, wie ich in meiner Anfangszeit in der WG nachts ständig gegen irgendetwas gelaufen war, wenn ich ins Bad oder in die Küche wollte. Wenn man wie ich meist erst abends mit den Livestreams anfing, konnten die ziemlich lang gehen. Also war ich nachts praktisch genauso oft in der Wohnung unterwegs wie tagsüber – und mittlerweile brauchte ich kein Licht mehr, um mich im Dunkeln zurechtzufinden. In den meisten Fällen erreichte ich mein Ziel ohne weitere Zwischenfälle. Gelegentlich stolperte ich über irgendetwas, das einer meiner Mitbewohner auf dem Boden liegen gelassen hatte. Allerdings war Liz gerade nicht da, also sank die Wahrscheinlichkeit, mich in einem ihrer Kleidungsstücke zu verheddern und auf die Schnauze zu fliegen, beträchtlich.
Im Flur war es vollkommen still. Nur die Geräusche von draußen drangen durch die offenen Fenster in Küche und Wohnzimmer herein. Die Türen zu den anderen Räumen waren geschlossen und es gab auch keinen schmalen Lichtstreifen, der darauf hindeutete, dass außer mir noch jemand in dieser Wohnung wach war. Ich würde ja selbst auch viel lieber schlafen, statt mitten in der Nacht wie ein Zombie durch die Gegend zu schlurfen.
Kurz blieb mein Blick an einer ganz bestimmten Tür hängen. Normalerweise schlief Liz dahinter, aber jetzt … jetzt war da Teagan. Es war fast schon unheimlich, wie gut sie sich bereits nach wenigen Stunden hier eingelebt hatte. Sie scherzte mit Cole herum, als würden sie sich ewig kennen, schien sich auch sofort mit Sophie angefreundet zu haben und Linc … na ja, der war nach dem Essen direkt zur Arbeit gefahren, also gab es da wohl kein großartiges Kennenlernen. Aber ich glaubte mich zu erinnern, dass sich die beiden auf der RTX-Party ganz gut verstanden hatten.
Ehrlich, Mann?
Ich rieb mir über den Nacken. Warum war mir das so wichtig? Dass Teagan jetzt hier war, bedeutete nicht automatisch, dass sie im Herbst nach Pensacola ziehen und am WFMAC studieren würde. Außerdem war die Sache zwischen uns … Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht mal einen Namen dafür. Aber es fühlte sich gut an. Es machte Spaß, riss mich aus meinem Alltag, lenkte mich ab. Sie brachte mich zum Lachen und forderte mich heraus. Und dieser Kuss im Hotel in Texas …
Ganz falsche Richtung. Ganz, ganz falsch.
Ich zwang meine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt, denn wenn ich auch nur eine Sekunde länger an diesen Kuss dachte, würde ich eine kalte Dusche brauchen. Und das würde wiederum das ganze Haus aufwecken und unangenehme Fragen nach sich ziehen. Vor zwei Jahren hatte Cole diesen Fehler gemacht, und wir ärgerten ihn bis heute damit, dass ihn irgendeine Frau so aufgewühlt hatte, dass er sich dazu entschieden hatte, mitten in der Nacht kalt zu duschen. Im Dezember.
Mittlerweile hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, doch als ich weitergehen wollte, nahm ich plötzlich eine Bewegung links von mir wahr. Ich zuckte vor Schreck zusammen und drehte den Kopf in die Richtung, aber … da war nichts. Keiner meiner Mitbewohner, kein Einbrecher, kein Tier, das irgendwie einen Weg hier reingefunden hatte. Was zur Hölle …? Ich rieb mir mit den Fingern über die Augen. Shit. Nicht genug damit, dass mir der Kopf platzte und meine Gedanken ins Endlose kreisten – jetzt sah ich auch noch Dinge, die nicht da waren? Eine dunkle Vorahnung begann sich in mir auszubreiten, aber ich kämpfte mit aller Macht dagegen an. Genauso wie gegen das ungute Gefühl in meiner Magengegend. Das war sicher nur Zufall. Meine Schlaf- und Rastlosigkeit in letzter Zeit hatte nichts damit zu tun. Das war nur … Stress. Übermüdung. Oder die Tatsache, dass Teagan zu Besuch war und ich lügen würde, wenn ich behauptete, dass das nichts mit mir anstellte.
Irritiert setzte ich meinen Weg fort und betrat die Küche. Auch hier war es dunkel, abgesehen von einem Streifen Licht von der Gartenbeleuchtung, der durch das Fenster hereinschien. Ich stellte die leere Flasche weg und holte mir eine neue aus dem Kühlschrank. Als die Tür zufiel, sah ich erneut eine Bewegung aus dem Augenwinkel – und diesmal war ich mir sicher, sie mir nicht bloß einzubilden.
Stirnrunzelnd drehte ich mich zum Fenster und schaute in den Garten hinterm Haus hinunter. Genauer gesagt auf die Ansammlung von Stühlen und Liegen, die dort auf dem Rasen im Kreis standen. Eine einsame Gestalt hatte es sich auf einer der Liegen bequem gemacht und zog jetzt die Knie an. Abgesehen von der Gartenbeleuchtung, die solarbetrieben und daher immer an war, beleuchtete der Schein des Handys ihr Gesicht. Teagan lag mitten in der Nacht im Garten und spielte an ihrem Smartphone herum.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Gleichzeitig war ich nicht mal sonderlich überrascht. Wenn jemand das mit dem seltsamen Schlaf- und Wachrhythmus nachfühlen konnte, dann waren es andere Streamer. Obwohl Teagan nach der langen Reise eigentlich todmüde sein müsste.
Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, holte ich eine zweite Flasche aus dem Kühlschrank und machte mich auf den Weg nach unten. Gleich darauf trat ich in den Garten. Doch obwohl es mitten in der Nacht und dementsprechend leise war, bemerkte Teagan mich nicht. Was auch immer sie da las oder machte, es schien all ihre Aufmerksamkeit zu fordern.
Mit einem Grinsen blieb ich neben ihr stehen. »Wir haben ein Wohnzimmer, weißt du?«
Sie zuckte vor Schreck zusammen und setzte sich abrupt auf. »Heilige Scheiße! Willst du mich umbringen?«
Ich gluckste leise. »Sorry«, murmelte ich und setzte mich auf die Liege neben ihrer. »Was machst du hier draußen?«
»Ich wollte niemanden wecken«, erwiderte sie und legte das Handy beiseite.
»Kannst du nicht schlafen?«
Ein Schulterzucken war die Antwort. »Dad müsste längst bemerkt haben, dass ich nicht da bin, aber er hat sich noch nicht bei mir gemeldet. Weder mit wütenden Texten noch mit Anrufen. Aber das ist nicht der eigentliche Grund«, behauptete sie sofort. »Ich hatte Durst und bin in die Küche gegangen, um mir was zu holen. Und vielleicht bin ich es auch nicht gewohnt, an fremden Orten zu schlafen. Nachts ist es hier echt laut. Autos. Busse. Grillen. Hunde. Menschen. Das Meer.«
»Du kannst das Meer bis hierher hören? Dann kann alles andere ja nicht so laut sein«, neckte ich sie und lehnte mich entspannt zurück. Es war zu dunkel, um ihre Reaktion deutlich zu erkennen, aber ich konnte sie mir bereits denken. »Aww, Tea-Tea, verdrehst du etwa gerade die Augen?«
»Das wirst du jetzt nie erfahren.« Sie nahm die Wasserflasche, die ich ihr hinhielt. »Danke.« Nachdem sie ein paar Schlucke getrunken hatte, deutete sie auf ihr Handy und fügte noch etwas hinzu: »Außerdem muss ich euer WLAN nutzen, solange ich es habe. Ich will doch wissen, was ich verpasst habe und was in der Welt so los ist.«
»Verständlich.« Ich stellte meine eigene Flasche zwischen uns auf den Boden, dann lehnte ich mich wieder zurück und ließ meinen Blick über Teagan gleiten.
Gut möglich, dass es nicht nur die Geräusche von draußen waren, wegen denen Teagan nicht schlafen konnte. Im Vergleich zu Seattle war es hier in Florida auch nachts wesentlich wärmer, und ich konnte mir gut vorstellen, dass man sich erst daran gewöhnen musste. Allerdings konnte ihr in dem dünnen Top mit den schmalen Trägern und der super kurzen Stoffhose nicht allzu heiß sein. Dafür wurde mir bei diesem Anblick umso wärmer. Und plötzlich war ich geradezu froh darüber, dass es hier draußen so dunkel war und die Gartenbeleuchtung nicht jeden Winkel erreichte.
»Was ist mit dir?«, fragte sie auf einmal und wandte sich mir zu. »Warum kannst du nicht schlafen?«
»Kopfschmerzen«, gab ich zu und ließ alles andere, was mich wach gehalten hatte, lieber unter den Tisch fallen. Dass ich die ganze Zeit daran denken musste, dass sie nur zwei Räume weiter im Bett lag, zum Beispiel. Wie gut es sich angefühlt hatte, sie heute am Flughafen in die Arme zu schließen. Wie sehr ich es genoss, sie einfach nur dabei zu beobachten, wie sie mit meinen Mitbewohnern redete, lachte und rumalberte. All das und noch so viel mehr, was besser nichts in meinen Gedanken zu suchen hatte und was ich auf keinen Fall laut aussprechen konnte.
»Das tut mir leid«, wisperte sie, als könnte sie irgendetwas für das Hämmern hinter meiner Stirn. »Hast du schon etwas dagegen genommen?«
»Jepp. Vor ein paar Minuten. Bisher hilft es allerdings null.«
Teagan machte eine auffordernde Handbewegung. »Rutsch mal.«
»Aye aye, Ma’am.« Ich blinzelte bei dem plötzlichen Befehlston, setzte mich jedoch auf und rutschte etwas nach vorne, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was sie vorhatte. »Und jetzt?«
Als sie sich hinter mich setzte, spürte ich, wie mich die Wärme einhüllte, die ihr Körper ausstrahlte.
»Lass mich etwas versuchen«, bat sie leise und legte die Hände auf meine Schultern.
Selbst wenn ich alle Willenskraft der Welt gehabt hätte, wäre ich nicht dagegen angekommen, dass sich meine Muskeln bei der Berührung etwas anspannten. Vielleicht war es einfach schon zu lange her, dass mich jemand so angefasst hatte. Vielleicht lag es aber auch ganz allein an ihr . An Teagan. An Tea-Tea.
»Die meisten Kopfschmerzen stammen von Verspannungen im Nackenbereich«, erklärte sie jetzt, und ihre Hände begannen in langsamen Bewegungen über meine Schultern zu streichen. »Zumindest wenn es keine richtige Migräne ist oder andere Ursachen hat wie Erkältungen und so.«
»Keine Migräne«, murmelte ich und es klang so rau, dass ich mich räusperte. »Und auch keine Erkältung.«
»Gut«, erwiderte sie leise. »Das ist gut.«
Scheiße, ihre Stimme war jetzt so nahe, und ihr warmer Atem strich über meine Haut. Alle Nerven in meinem Körper reagierten darauf, und ich konnte nur mit Mühe einen wohligen Schauer unterdrücken. »Woher weißt du das überhaupt?«
Sie zögerte einen Herzschlag lang. »Meine Mom war … ist Physiotherapeutin und kannte ein paar gute Tricks gegen Kopfschmerzen.«
»War? Oder ist?«
»Keine Ahnung, ob sie es immer noch ist. Heutzutage hört man nicht viel von ihr.«
Bevor ich nachfragen konnte, tasteten sich ihre Hände langsam meinen Nacken hinauf. Man konnte es kaum eine Berührung nennen, da sie so sanft vorging, dass mir das Kinn automatisch auf die Brust fiel und ich die Augen schloss, sobald ich ihre Finger auch in meinen Haaren spüren konnte. Verdammt, das zauberte zwar das dumpfe Pochen in meinem Kopf nicht weg, aber es war so angenehm, dass ich mir wünschte, sie würde niemals damit aufhören. Sanft strich sie über die Stellen in meinem Nacken, die sie zuvor erkundet hatte, und ich entspannte mich mit jeder Sekunde ein bisschen mehr. Dann benutzte sie ihre Knöchel. Und was als federleichte Massage begonnen hatte, tat plötzlich höllisch weh.
»Autsch!«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und drückte die Hände in das Polster vor mir. »Soll es sich so anfühlen, als würdest du durch meine Muskeln auf die Knochen bohren?«
»Ja«, erwiderte sie nur und machte gnadenlos weiter.
Gleich darauf war da wieder dieser brennende Schmerz in meinem Nacken, und ich verzog das Gesicht.
»Du bist total verspannt. Kein Wunder, dass du Kopfschmerzen hast.«
Ich holte schon Luft, um mich zu beschweren, dass ihre beiden Daumen, die sich wie Brandeisen in meinen Körper bohrten, es nicht gerade besser machten, als der Druck ohne Vorwarnung nachließ. Jetzt strich Teagan wieder über meinen Nacken, und ich atmete erleichtert auf. Der Schmerz war fort, und meine Muskeln fühlten sich seltsam weich und locker an.
Mit sicheren Bewegungen fuhr sie über die Seiten meines Halses und schob die Finger dann wieder in mein Haar. Ganz sachte massierte sie meine Kopfhaut, und mein Kinn sank erneut auf die Brust. Wie von selbst fielen mir die Augen zu, und ich musste hart an mich halten, um nicht laut aufzustöhnen. Scheiße, wer hätte gedacht, dass sich eine Kopfmassage so gut anfühlen würde?
Aber Teagan war noch nicht fertig. Sie kam noch etwas näher und zog meinen Kopf ein wenig zurück, bis ich gegen sie gelehnt dasaß. Dann strich sie in sanften Bewegungen über meine Schläfen und meine Stirn, während ich nur daran denken konnte, wie verflucht nahe wir uns waren und wie gut sich das hier anfühlte. Die festen Berührungen ihrer Finger. Ihr warmer, weicher Körper hinter mir. Ihr Duft. Irgendetwas Frisches, Süßes, das sich schon auf der RTX in mein Gedächtnis eingebrannt hatte.
Ein letztes Mal strich Teagan mir über Stirn und Schläfen, durch mein Haar und den Nacken hinunter bis zu den Schultern, dann hörte sie auf. Aber keiner von uns rührte sich.
»Besser?« Ihr Mund war direkt an meinem Ohr, sodass sie nur flüstern musste, damit ich sie verstand.
Ich horchte in mich hinein und war überrascht, wie gut das Ganze getan hatte. Das Hämmern in meinem Kopf war nicht vollständig verschwunden, hatte sich jedoch in ein dumpfes Pochen verwandelt, das nur noch ein Nachhall der bisherigen Schmerzen war.
»Ja«, erwiderte ich überrascht. »Danke.«
»Kein Problem.«
Ich rechnete fest damit, dass Teagan mich auf der Stelle loslassen und sich wieder auf die andere Liege setzen würde – aber das passierte nicht. Stattdessen spürte ich sie noch immer hinter mir.
Ihre Hand lag noch immer auf meinen Schultern, also griff ich danach und brachte ihre Finger an meine Lippen, um einen Kuss daraufzusetzen. Ihr Atem stockte für ein paar Sekunden, aber sie sagte kein Wort.
»Weißt du, was seltsam ist?«, fragte ich, ohne ihre Hand loszulassen. Stattdessen strich ich mit dem Daumen ganz leicht über ihren Handrücken.
»Was?«, wisperte sie.
»Dass wir uns online und über Chats so gut kennen, aber offline und im richtigen Leben irgendwie nicht so richtig«, erwiderte ich genauso leise. Und dass wir online ohne Probleme miteinander flirten, reden oder uns beim Zocken sogar gegenseitig verfluchen konnten, während jetzt wieder dieses Zögern, diese leichte Befangenheit zwischen uns war. Wie schon am Anfang auf der RTX-After-Show-Party. Wie heute Nachmittag am Flughafen.
Trotzdem hatte ich unseren Kuss fest in meinem Gedächtnis abgespeichert und spielte ihn wieder und wieder in Gedanken durch. Wir mussten nicht darüber reden oder klären, ob und was das für unsere Freundschaft bedeutete, damit ich jedes Mal, wenn ihr Name auf meinem Handy oder am PC auftauchte, an diesen Moment erinnert wurde. Daran, wie warm und weich ihre Lippen gewesen waren. Wie sie meinen Kuss erwidert hatte. Wie sich ihr Körper an meinen geschmiegt hatte. Und dass ich mehr gewollt hatte. Nicht nur in jener Nacht, sondern auch jetzt, zwei Wochen später, und wahrscheinlich auch noch in zwei Monaten oder in zwei Jahren. Das machte mir dieser Moment mit Teagan mitten in der Nacht im Garten nur noch deutlicher.
Sie schwieg, löste sich aber auch nicht von mir. Ich zögerte ein, zwei Sekunden lang, drehte mich dann aber doch zu ihr um. Sie wich nicht zurück, kniete noch immer direkt hinter mir auf der Liege und sah mich geradewegs an. Ich müsste mich nur ein kleines bisschen nach vorne lehnen, um sie noch mal zu küssen. Allein bei der Vorstellung schoss Hitze durch meinen Körper. Ich schluckte hart und riss meinen Blick von Teagans Lippen los, um ihr wieder in die Augen zu sehen. Augen, deren exakte Farbe ich noch immer nicht herausgefunden hatte, die aber wunderschön waren. Genau wie die Frau, zu der sie gehörten.
Ich merkte nicht mal, wie ich die Hand hob, bis ich die weiche Haut ihrer Wange unter meinen Fingerkuppen spürte. Ihre Lippen teilten sich, aber sie sagte noch immer kein Wort, schien genauso gebannt zu sein wie ich. Ich strich bis zu ihrem Kinn hinab, wo ich eine kleine Kuhle wahrnahm, wie von einem Sturz oder einer alten Narbe. Etwas, das man nicht auf den ersten, nicht mal auf den zweiten Blick erkannte, sondern nur, wenn man Teagan so nahe kam wie ich gerade. Und damit etwas, worüber ich mich absurderweise viel zu sehr freute.
»Ich würde dich jetzt wahnsinnig gerne küssen«, raunte ich.
»Warum tust du es dann nicht?«
Mit welcher Antwort ich auch immer gerechnet hatte, diese war eindeutig nicht dabei gewesen. Ich konnte gar nicht anders, als zu lächeln – und Teagans frecher Forderung nachzukommen. Langsam lehnte ich mich zu ihr und presste meinen Mund auf ihren.
Was nur ein Streichen, eine kleine Kostprobe, eine Erinnerung an jenen Kuss in Texas sein sollte, wurde schnell zu mehr. Sehr viel mehr. Es war beinahe, als würde sich alles in mir einzig und allein auf Teagan konzentrieren – auf ihren Geschmack, ihren Geruch, das leise Seufzen, das ihr jetzt entkam, und auf das Gefühl ihrer Lippen auf meinen.
Mein Denken setzte aus.
In der einen Sekunde hatte ich noch die feste Absicht, sie sanft und behutsam zu küssen, in der nächsten saß sie auf meinem Schoß, und ich hatte keine Ahnung, ob ich sie an mich gezogen hatte oder sie von selbst näher gerückt war. Nicht, dass es irgendeine Rolle gespielt hätte, denn ihr jetzt so nahe zu sein, ihre Wärme so viel deutlicher und an genau den richtigen Stellen spüren zu können, ließ mich alles um uns herum vergessen.
Ich knabberte nicht zärtlich an ihrer Unterlippe, sondern biss hinein und nutzte ihr Keuchen schamlos aus, um mit der Zunge in ihren Mund zu gleiten. Meine Hände verselbstständigten sich, fuhren über die nackte Haut ihrer Oberschenkel bis zum Saum und Bund ihrer viel zu kurzen Stoffhose und dann direkt unter ihr Top. Teagan stöhnte auf, und es erfüllte mich mit verdammt viel Genugtuung, nicht nur ihr Erschauern zu bemerken, sondern auch die Gänsehaut unter meinen Fingern spüren zu können.
Als Reaktion darauf krallte sie die Finger in mein Haar, was wiederum mir ein Keuchen entlockte. Scheiße, fühlte sich das gut an. Noch besser wurde es nur, wenn sie sich dabei auch noch an mich presste, so wie jetzt. Meine linke Hand blieb unter ihrem Shirt, mit der rechten glitt ich tiefer bis zu ihrem unteren Rücken und drückte sie fester an mich.
Warum hatten wir in Texas nach diesem viel zu kurzen Kuss aufgehört? Ich hatte keine verdammte Ahnung. Denn das hier, die Kombination aus uns beiden, fühlte sich viel zu gut an, um jemals wieder damit aufzuhören.
Ich löste mich zögernd von Teagans Lippen, und das auch nur, um den Mund auf ihren Hals zu pressen, weil ich mehr von ihr erkunden, mehr über sie in Erfahrung bringen wollte. Ich wollte wissen, was und wie es ihr am besten gefiel, aber vor allem wollte ich derjenige sein, der alle möglichen Empfindungen in ihr auslöste. Derjenige, bei dessen Küssen sie leise aufstöhnte. Derjenige, an den sie sich klammerte, während sie sich ihm entgegendrängte. Derjenige, bei dem sie sich voll und ganz fallen ließ.
Kuss für Kuss wanderte ich von ihrem Hals über ihre Schulter, bis ich den Träger ihres Tops erreicht hatte und ihn beiseiteschob, um die darunter liegende Haut ebenfalls zu liebkosen. Teagan erschauerte in meinen Armen. Ihre Finger bohrten sich in meine Schultern, strichen über meine Arme, meinen Rücken, als wüsste sie nicht, wohin mit sich. Oder als würde alles in ihr genauso darauf drängen, mehr zu erkunden.
Von ihrer Schulter aus küsste ich mich abwärts, jetzt etwas langsamer als zuvor. Die Haut an ihrem Dekolleté war ganz weich und wurde immer zarter, je näher ich ihren Brüsten kam.
»Parker …«, stieß sie hervor, und ich wusste nicht, ob es eine Warnung oder eine Einladung sein sollte, ihr noch näher zu kommen.
Schwer atmend hob ich den Kopf. Selbst in der Dunkelheit konnte ich das Verlangen in ihren Augen lesen und bemerkte, dass ihre Lippen vom Küssen leicht geschwollen waren. Aber statt dem Impuls in mir nachzugeben und meinen Mund sofort wieder auf ihren zu drücken, suchte ich ihren Blick.
Teagans Atmung ging genauso schnell wie meine. Sie rückte nicht von mir ab, schob mich nicht von sich, trotzdem war da auf einmal ein Zögern, das zuvor nicht da gewesen war.
»Ich will nicht, dass es kompliziert zwischen uns wird …« Ihre Stimme war kaum hörbar und dennoch ein bisschen heiser.
»Warum muss es kompliziert sein?«, fragte ich genauso leise, hielt mich jedoch davon ab, Teagan erneut zu berühren. Ich würde sie nicht verführen, nur damit sie einen weiteren Kuss oder mehr zuließ, ganz egal, wie sehr ich genau das wollte. Sie sollte es genauso wollen. Aber vor allem musste ich begreifen, warum sie uns gestoppt hatte. Warum sie dachte, dass es alles verkomplizieren würde.
»Weil …«, begann sie, doch statt weiterzusprechen nahm sie mein Gesicht in die Hände und lehnte die Stirn für einen viel zu kurzen Moment gegen meine. Dann richtete sie sich seufzend wieder auf. »Weil ich keine Ahnung habe, wo ich in ein paar Wochen sein werde. Ich warte immer noch auf eine Zusage von meinen Wunschunis, und wenn keine kommt, werde ich auf irgendein x-beliebiges College gehen und irgendeinen Bullshit studieren, damit ich wenigstens irgendetwas tue, und danach hoffentlich einen Abschluss in der Tasche habe. Ich könnte auf der anderen Seite des Kontinents landen. Oder in Seattle bleiben, was genauso weit entfernt wäre. Und davon abgesehen, das hier …« Sie deutete zwischen uns hin und her. »Das ist … Du bist mir zu wichtig geworden, um dich zu verlieren.«
Ich suchte ihren Blick und hielt ihn fest. »Das wirst du nicht. Ganz egal, was passiert und wo du in ein paar Wochen anfängst zu studieren. Es gibt immer noch Handys, Internet, WLAN. Na gut, zumindest sobald dein Dad den Router wieder anschließt oder du ausgezogen bist«, fügte ich hinzu, als sie das Gesicht verzog, und griff nach ihren Händen.
Sie widersprach nicht, wirkte aber auch nicht besonders glücklich – oder überzeugt.
»Hey … Das ist mein Ernst.« Ich zupfte an ihren Fingern und zog sie schließlich ganz an mich, damit ich die Arme um sie legen und ihr einen Kuss auf die Haare geben konnte. Himmel, sie roch so gut … Aber hier ging es um etwas anderes. Konzentrier dich, Parker. »So leicht wirst du mich nicht los. Schon gar nicht wegen etwas so Lächerlichem wie einem Kuss. Okay?«
Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann spürte ich sie nicken. »Okay. Auch wenn dieser Kuss alles andere als lächerlich war. Genauso wenig wie der davor.«
Ich grinste und ignorierte die Hitze, die sich bei der Erinnerung daran in mir ausbreitete. Stattdessen schob ich den Träger ihres Oberteils langsam wieder hoch. »Stimmt. Beide waren episch. Die Leute sollten Romane darüber schreiben und Filme dazu drehen. Zumindest ein Gedicht oder einen eigenen Song hätten wir verdient.«
Teagan lachte auf, und in dem Moment wusste ich, dass für sie alles zwischen uns wieder in Ordnung war. Und nur darauf kam es an, oder? Ganz egal, wie sehr ich mich zu ihr hingezogen fühlte, ich wollte genauso wenig, dass sich irgendetwas zwischen uns änderte oder schwierig und dadurch unangenehm wurde. Dafür war sie mir in der kurzen Zeit, die wir uns jetzt kannten, viel zu wichtig geworden. Auch wenn ich nichts gegen einen – oder tausend – weitere Küsse einzuwenden gehabt hätte. Absolut nicht. Aber ich respektierte ihre Entscheidung. Selbst wenn es mir alles andere als leichtfiel.
Wir blieben noch eine Weile in einvernehmlichem Schweigen draußen sitzen, bis uns beiden die Augen zufielen, dann gingen wir wieder rein. Im Flur verabschiedeten wir uns voneinander, und ich sah ihr vielleicht eine Spur zu lange nach. Womöglich war ich in Gedanken aber auch noch immer bei diesem unglaublichen Kuss im Garten – und musste dann ­feststellen, dass ich um die kalte Dusche wohl nicht herumkam. Shit.