Level 14
Teagan
Sophie war nicht mitgekommen. Auf Coles Frage hin hatte sie dankend abgelehnt und uns viel Spaß gewünscht, bevor sie wieder in ihrem Zimmer verschwunden war. Schade eigentlich, da ich ein bisschen Frauenpower bei dem ganzen Testosteron gut hätte gebrauchen können. Während der Fahrt drehte Cole das Radio auf, und sowohl er als auch Parker sangen lauthals bei High Hopes von Panic! At the Disco mit. Ihre Performance sorgte dafür, dass ich ziemlich schnell lachend auf dem Rücksitz lag.
Wir fuhren nur ein paar Minuten durch die Stadt, dann konnte ich bereits das Meer vor uns sehen. Spärlich bewachsene Dünen führten an den Strand heran, der aussah wie aus einem Film oder einem Game mit einer besonders guten ­Grafik. Der Sand war nahezu weiß, und das Meer wechselte von Tiefblau am Horizont zu Türkis bis hin zu beinahe ­Graublau, wenn es sich in heranrollenden Wellen an Land brach.
Nach dem Aussteigen folgten wir einem schmalen Weg direkt zur Uferpromenade, an der es kleine Cafés, Restaurants und Boutiquen gab. Hätte ich das nötige Kleingeld, hätte ich mir sicher alle davon näher angeschaut, doch so betrachtete ich sie lieber nur aus der Ferne. Anders als Cole, der sofort ein Café ansteuerte, um uns allen Eis zu holen.
Am Strand angekommen, zog ich meine Boots und Socken aus – und versank sofort im warmen Sand. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Warme Sonnenstrahlen streichelten meine Haut, während mir der kühle, salzig schmeckende Wind um die Nase wehte. Na gut, ein bisschen roch es auch nach Algen, Sand und Sonnencreme, außerdem zerstörten Kindergeschrei und das entfernte Bellen von Hunden die harmonische Stille, aber das war zweitrangig. Es war unglaublich schön hier.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand Parker neben mir und betrachtete mich mit einem nachdenklichen Ausdruck.
»Wieso habt ihr mir das nicht als Erstes gezeigt?«, fragte ich und deutete mit der freien Hand um mich.
»Warum?« Er warf mir ein gut gelauntes Lächeln zu. »Hättest du dann sofort deine Sachen gepackt und wärst hergezogen?«
»Vielleicht.«
Denn das hier, dieser Strand, und die Möglichkeit, jeden Tag ans Meer zu gehen und dem gleichmäßigen Kommen und Gehen der Wellen zuzusehen, war eindeutig ein gewaltiger Pluspunkt.
Und stieß damit das Terrence College in Austin von Platz eins meiner Liste.
Verdammt.
Ohne uns absprechen zu müssen, setzten wir uns in Bewegung und spazierten am Strand entlang. Vorbei an Sonnenanbetern auf ihren Handtüchern, an Familien mit Kindern, die sich um einen kleinen Grill versammelt hatten, und Leuten, die ihre Drachen steigen ließen.
Ich atmete tief die frische, salzige Luft ein und ließ den Blick von der Promenade aufs Meer hinauswandern. Obwohl ich mich ganz in diesem atemberaubenden Anblick verlieren könnte, vergaß ich nie, wer da neben mir herlief – und wessen Hand ich manchmal ganz zufällig streifte.
»Du lächelst«, stellte Parker fest, und als ich zu ihm hochschaute, bemerkte ich, dass sich auch seine Mundwinkel gehoben hatten.
»Es ist schön hier«, erwiderte ich und klang dabei sehnsüchtiger, als ich es sollte. »Es ist wirklich, wirklich schön.«
Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher, während rechts von uns die Wellen kamen und gingen und der Wind immer wieder mein Haar durcheinanderwirbelte. Dabei wanderten meine Gedanken unweigerlich zurück zu den Momenten vorhin in der Küche. Und auf dem Campus.
»Cole hat ein bisschen von Faye erzählt …«
Entgegen meiner Befürchtungen blieb Parker völlig entspannt. »Was hat er gesagt?«
»Nicht viel«, gab ich zu und vermied es, ihn anzusehen. »Dass du, seit du hier wohnst, noch nie jemanden über Nacht in die WG eingeladen hast. Und erst recht nicht nach ihr.«
»Hm«, machte er nur und verschränkte die Hände im Nacken. »Ich hatte nie wirklich lange Beziehungen. In der Highschool und in den ersten Semestern war ich ein ziemlicher Frauenheld.«
»Was? Du? Niemals!«
Er lachte auf. »Kaum zu glauben, was?«
Und da war er wieder, der warme, weiche Südstaatenakzent, der mich ganz wahnsinnig machte. Ich schüttelte nur den Kopf, kam aber nicht gegen das Lächeln an, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete.
»Faye war … anders«, nahm er den Faden nach einem Moment wieder auf. »Vor ein paar Jahren hab ich Callie zu ihrer Geburtstagsfeier in ihrer Heimatstadt besucht – das war kurz bevor sie ihr Studium geschmissen hat und mit ihrem Stiefbruder zusammengekommen ist. Nicht, dass das eine was mit dem anderen zu tun gehabt hätte. Jedenfalls ist Faye ihre beste Freundin und zockt auch gerne.«
Und schon war klar, was die beiden verbunden hatte. Abgesehen davon, dass diese Faye wahrscheinlich umwerfend gut aussah und – laut Parker – ein herzensguter Mensch war. Und, nein, ich war nicht eifersüchtig. Ich wollte verstehen, was er in ihr gesehen hatte und warum es mit den beiden nicht geklappt hatte. Gleichzeitig war ich mir sehr deutlich der Tatsache ­bewusst, dass er jetzt mit mir hier war. Dass er mir etwas erzählte, das wahrscheinlich nicht viele Leute über ihn wussten. Dass ich diejenige war, die er vergangene Nacht geküsst hatte.
»Anfangs war es noch ganz harmlos, auch wenn ich zugeben muss, dass ich fast die ganze Zeit mit ihr geflirtet habe.« Er räusperte sich. »Obwohl sie verlobt war.«
Ich blieb abrupt stehen und starrte ihn an. »Parker!«
»Ich weiß, ich weiß!« Abwehrend hob er die Hände. »Glaub mir, ich bin nicht stolz darauf. Überhaupt nicht. Aber damals konnte ich einfach nicht anders und war arrogant genug, zu glauben, dass ich sie damit um den Finger wickeln könnte.«
»Und …?«, hakte ich nach, obwohl ich mir nicht sicher war, die Antwort darauf wirklich hören zu wollen. »Hast du?«
Er schluckte hart. »Ja.«
»Was ist dann passiert?«
»Nichts. Zumindest nicht am Anfang. Wir haben geredet, geflirtet, später ein paarmal telefoniert, aber das war’s. Wir haben nie groß getextet und auch nicht zusammen gezockt«, fügte er mit einem nachdenklichen Blick in meine Richtung hinzu.
Ich versuchte ihn zu ignorieren und konzentrierte mich stattdessen auf einen Punkt am Horizont.
»In den nächsten Wochen und Monaten war ich öfter in Summerville«, erzählte Parker schließlich weiter. »Hauptsächlich, um Callie zu besuchen, aber auch, weil ich Faye sehen wollte. Einmal hatte sie einen riesigen Streit mit ihrem Typen. Sie hat die Verlobung beendet und sich von ihm getrennt. Kurz darauf haben wir uns getroffen … und sind miteinander im Bett gelandet.«
Okay. Vielleicht war ich etwas zu voreilig gewesen. Denn jetzt war da eindeutig eine Spur von Eifersucht, die meinen Brustkorb zusammenschnürte. Und es fühlte sich nicht gut an. Kein bisschen.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie er die Hände zu Fäusten ballte und wieder löste. Wahrscheinlich war ihm nicht mal bewusst, was er da tat, und ich musste den Impuls unterdrücken, nach seiner Hand zu greifen und ihn davon abzuhalten.
»Aber dann kam es, wie es kommen musste.« Er seufzte tief. »Ich hatte mich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie hat auch etwas für mich empfunden, da bin ich sicher, aber letzten Endes …« Ein Schulterzucken. »Letzten Endes hat sie sich für ihn entschieden und ihn geheiratet.«
»Autsch …«, murmelte ich, da mir nichts Besseres einfiel. Was sagte man in solchen Situationen? Herzliches Beileid? Tut mir leid? Gott sei Dank? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer.
»Jepp.« Er nickte knapp. »Über sie hinwegzukommen war … nicht einfach. Danach war ich mir ziemlich sicher, dass ich mich nie wieder auf jemanden einlassen würde, nur weil wir zufällig die gleichen Interessen haben. Also … zumindest bis vor Kurzem.«
Mir brannten so viele Fragen auf der Zunge, aber statt sie alle auszusprechen, presste ich fest die Lippen aufeinander. Und sagte schließlich etwas anderes, bevor dieses Gespräch auch nur ansatzweise in eine Richtung gehen könnte, die mit … mit uns zu tun haben könnte. Mit Parker und mir.
»Mein Ex hat mich betrogen«, gab ich stattdessen zu. »Wir waren ungefähr ein Jahr zusammen, und ich hab nie verstanden, was er in mir gesehen hat.« Bevor Parker protestieren konnte – und ich wusste, dass er es vorhatte, denn er holte bereits Luft –, hob ich die Hand und legte sie kurz auf seinen Arm. »Das hat nichts mit geringem Selbstwertgefühl zu tun. Aber er war der beliebte und heiß begehrte Sportler, ich eher eine Außenseiterin. Trotzdem ging es eine ganze Weile gut. Bis ich herausgefunden habe, dass er hinter meinem Rücken nicht nur einmal, sondern gleich mehrere Male fremdgeknutscht hat und auch seine Hände nicht immer bei sich behalten konnte.«
»Was für ein Arschloch.«
Diesmal war es an mir, mit den Schultern zu zucken. »Jetzt ist er mit Maddison Mae zusammen – einem der Mädchen, mit denen er fremdgeknutscht hat. Wahrscheinlich schwängert er sie noch im ersten Semester und ist bis in alle Ewigkeit in einer Vorstadtsiedlung mit ihr gefangen – und mit ihren superkonservativen Eltern. Ich würde sagen, er hat den schlechteren Deal gemacht.«
Parker stieß mich grinsend an. »Ich mag deine Einstellung.«
»Ist ja nicht so, als wäre ich es nicht schon gewohnt«, murmelte ich mehr zu mir selbst, aber er schien es dennoch gehört zu haben.
»Was meinst du damit?«
Ich seufzte tief und schloss kurz die Augen. Wenn ich ihm schon die ganze lausige Geschichte von Brandon mitgeteilt und er mir obendrein die Sache mit Faye anvertraut hatte, dann konnte Parker auch alles andere erfahren, oder nicht? Selbst wenn ich das nie einem Menschen zuvor erzählt hatte. Zumindest nicht so. Nicht alles auf einmal. Okay, wenn ich ehrlich war, nichts davon.
»Ich hatte ja mal erwähnt, dass meine Mom uns verlassen hat, oder?«
Parker nickte. »Ja, als wir über dein Tattoo gesprochen haben.«
»Sie und Dad hatten keine gute Ehe. Er arbeitet rund um die Uhr und schläft sogar im Büro, und sie war oft allein mit mir zu Hause. Aber wenn er dann doch mal abends oder nachts von der Arbeit kam, habe ich sie fast immer streiten gehört. Es war also nicht total überraschend, als sie vor drei Jahren einfach gegangen ist. Sie war nicht glücklich. Aber … ich hab zumindest immer gedacht, dass sie mit mir glücklich war. Wir haben alles zusammen gemacht. Ich habe ihr jeden Tag von der Schule erzählt, sie hat mir bei den Hausaufgaben geholfen oder mich damit angespornt, dass wir zur Belohnung eine neue ­Folge unserer aktuellen Lieblingsserie schauen würden. Wir haben zusammen gebacken – oder es zumindest versucht –, dieselben Bücher gelesen, jede Menge Ausflüge gemacht und all das Zeug. Sie hat mir mein erstes Game gekauft und dabei zugeschaut, wie ich es spiele. Sie war meine beste Freundin.«
Parker griff nach meiner Hand. Sekundenlang konnte ich nur auf unsere miteinander verschränkten Finger starren. Seine Hand war größer als meine. Rauer. Gebräunter. Und so warm. Es fühlte sich … gut an. Ungewohnt, aber gut.
»Was ist dann passiert?«, fragte Parker leise.
»Eines Tages bin ich von der Schule nach Hause gekommen, und sie war nicht mehr da. Auf einer Reise mit ein paar Freundinnen nach Frankreich hat sie jemanden kennengelernt. Kurz danach hat sie ihre Sachen gepackt und sich von meinem Vater getrennt. Und mich … mich hat sie zurückgelassen. Einfach so.«
»Shit. Teagan …«
Ich schüttelte den Kopf, bevor er weitersprechen konnte und setzte ein Lächeln auf, selbst wenn mir nicht danach zumute war.
»Schon okay. Wie gesagt: Inzwischen hab ich mich daran gewöhnt, dass mich die Leute fallen lassen, sobald sich etwas Besseres ergibt.«
»Hey …« Parker blieb stehen und da meine Hand noch immer in seiner lag, musste ich ebenfalls anhalten. Sein Gesichtsausdruck war mit einem Mal ungewohnt eindringlich. »Ich werde dich nie einfach fallen lassen.«
Dieses dumme Organ in meinem Brustkorb setzte einfach einen Schlag lang aus und hämmerte dann fast schon schmerzhaft schnell weiter.
»Ist das ein Versprechen? Oder eine Drohung?«
Seine Mundwinkel zuckten, aber er lächelte nicht wie erhofft. Und er ließ das Thema auch nicht einfach sein. »Das ist ein Versprechen. Ich weiß, dass du mir das nach allem, was du mir gerade erzählt hast, nicht glauben kannst, aber ich lasse dich nicht im Stich, okay?«
Ich zögerte, nickte dann jedoch, als mir klar wurde, wie ernst es ihm damit war. »Okay …«
Darauf, was diese Worte, was dieses Versprechen in mir auslösten, wollte ich gar nicht erst eingehen. Ich wollte das heftige Pochen meines Herzens genauso wenig registrieren wie das Kribbeln in meinem Bauch oder das sehnsüchtige Ziehen in meiner Brust. Aber ich kam nicht dagegen an, all das genauso wahrzunehmen wie Parkers intensiven Blick. Oder was sein Lächeln jetzt mit mir anstellte.
Für einen winzigen Moment glaubte, nein, hoffte ich fast schon, dass er mich küssen würde. Aber er zog mich weiter, und wir liefen schweigend am Strand entlang, bis das Meer unsere Füße umspülte und ich mich von Parker löste, um bis zu den Knien hineinzuwaten.
Wenig später entdeckten wir Lincoln, der in Badeshorts, mit Sonnenbrille auf der Nase und Trillerpfeife um den Hals mit einigen hübschen Frauen flirtete – genau so, wie Cole scherzhaft angedeutet hatte. Als er uns entdeckte, verabschiedete er sich jedoch und joggte herüber. Kurz darauf tauchte auch Cole wieder auf und verteilte das Eis, das er für uns alle gekauft ­hatte.
Als ich die Flüge gebucht hatte, war ich mir sicher gewesen, dass zwei Übernachtungen in Pensacola ausreichen würden, zumal ich Parker und seinen Freunden nicht zu lange auf den Geist gehen wollte. Doch jetzt, hier am Strand, während die Sonne immer tiefer sank und warme Sandkörner an meiner Haut klebten, ertappte ich mich dabei, wie ich mir mehr Zeit wünschte. An diesem wundervollen Ort. Und bei diesen Menschen.
Wir blieben noch ein, zwei Stunden länger am Meer, dann endete Lincolns Schicht, und wir machten uns alle zusammen auf den Weg nach Hause. Auf der Fahrt besorgten wir noch ein paar Kartons mit Pizza – an diesen Lebensstil könnte ich mich echt gewöhnen – und kehrten damit in die WG zurück. Erst als ich mich aufs Sofa im Wohnzimmer warf und die Beine ausstreckte, merkte ich, wie erledigt ich eigentlich war. Kein Wunder, schließlich hatte ich letzte Nacht nicht besonders viel geschlafen und einen ziemlich ereignisreichen Tag hinter mir.
»Was spielen wir?«, fragte Cole. Bevor er sich zu uns ins Wohnzimmer gesellt hatte, hatte er auch Sophie eine Pizza auf ihr Zimmer gebracht. Jetzt rollte er sein Pizzastück zusammen und schob es sich in den Mund. Wie das da fast komplett reinpasste, war mir ein Rätsel.
Wortlos, da er ebenfalls bereits an seiner Pizza kaute, hielt Parker eine Hülle in die Höhe.
Ich brauchte einen Moment, um das quietschbunte Cover zu erkennen.
»Just Dance?«, rief ich lachend und nahm mir nun selbst ein Stück aus meinem Karton. Der Käse zerlief vor meinen Augen, und ich musste ihn mit den Fingern einfangen. »Seid ihr irre?«
Lincoln zuckte nur mit den Schultern, warf sich in einen der Sessel und streckte die langen Beine aus. Dann platzierte er seinen eigenen Karton auf dem Schoß und klappte ihn auf. »Die Alternative wäre Mario Kart. Aber dann werden Tränen fließen, Freundschaften zerbrechen und irgendjemand muss ausziehen.«
Ich blinzelte und schaute von einem zum anderen. »Das meint er nicht ernst, oder?«, nuschelte ich mit vollem Mund.
»Oh doch«, erwiderte Parker ohne die geringste Regung und legte die Disk ein. »Einmal haben wir UNO gespielt. Das hätte fast Tote gegeben.«
»Oh ja, UNO«, meldete sich Cole zu Wort. »Was ist eigentlich aus ihm geworden? Unserem früheren Mitbewohner, der danach seine Sachen gepackt hat?«
»Keine Ahnung«, kam es von Lincoln. »Ich glaube, er sitzt immer noch irgendwo weinend in einer Ecke und zählt seine Karten.«
Ich prustete los. »Ihr seid verrückt. Alle drei.«
Parker zuckte mit den Schultern. »Solange wir kein Beat Saber haben, muss Just Dance herhalten. Außerdem muss ich mich bewegen.«
Cole grinste wissend. »Zu viel Energie?«
Parker sah kurz zu mir und dann zu seinem Mitbewohner. »So etwas in der Art.«
»Aww, wo kommt das nur her? Konntest du dich etwa in letzter Zeit nicht austoben?«
Statt einer Antwort warf Parker die Spielehülle nach ihm. Cole ging nicht rechtzeitig in Deckung, und das Teil traf ihn direkt am Kopf.
»Aua!«
»Selbst schuld, Mann.«
Ich beobachtete den Austausch, während ich das zweite Stück Pizza verschlang.
»Was ist denn eigentlich mit Sophie?«, fragte Lincoln plötzlich und unterbrach damit das Gezanke der beiden. »Sie liebt das Spiel.«
Cole zuckte mit den Schultern. »Kein Plan. Als ich vorhin geklopft habe, hat sie nicht aufgemacht. Ich hab ihr den Karton vor die Tür gelegt.«
Ich folgte seinem nachdenklichen Blick in Richtung von Sophies Zimmertür. Ich hatte keine Ahnung, ob und wenn ja, was da los war, aber ich war definitiv die falsche Person, um das herauszufinden. Ich mochte ja eine der Spielerinnen sein, die todesmutig irgendwelche Klippen hinuntersprang, nur um zu sehen, ob man dabei starb oder sich unten womöglich etwas Spannendes entdecken ließ. Bei Tomb Raider hatte ich Lara damit – zur großen Freude meiner Zuschauer – so einige grausame Tode beschert … Aber das hier war das echte Leben, und ich kannte Sophie kaum, also sah ich fragend zu den Jungs ­rüber.
Im nächsten Moment durchbrach ein vertrauter Klingelton die Stille. Ich zog mein Handy hervor und fluchte unterdrückt. Offenbar war Dad meine Abwesenheit nach anderthalb Tagen endlich aufgefallen.
»Sorry«, murmelte ich und stand auf. Doch bevor ich die Küche oder das Bad erreichen konnte, um in Ruhe telefonieren zu können, erstarb das Klingeln, und ich blieb mitten im Flur stehen.
Toll. Und jetzt?
Als gleich darauf in kurzen Abständen mehrere Textnachrichten eintrafen, biss ich die Zähne zusammen und schrieb eine knappe Antwort. Ich bin noch am Leben, in Florida und schaue mir hier ein College an. Auch wenn sich mein Magen bei der Vorstellung zusammenzog, mich bei meiner Rückkehr mit Dad auseinandersetzen zu müssen, beließ ich es dabei. Jetzt wollte ich nur meinen letzten Abend hier genießen. Mehr nicht.
Ich war so auf mein Handy konzentriert, dass ich gar nicht bemerkte, wie eine Tür im Flur aufging. »Was spielen die Jungs da?«
Ich zuckte zusammen und starrte Sophie stirnrunzelnd an. Ihre Augen waren gerötet, und sie klang ein bisschen heiser.
»Just Dance«, erwiderte ich langsam.
»Was?« Innerhalb von Sekunden war Sophie bei mir. Bevor sie einen weiteren Schritt machen konnte, stieß sie jedoch mit dem Knie gegen die Kommode im Flur und strauchelte.
Instinktiv packte ich sie an den Armen, um Schlimmeres zu verhindern. Bevor ich jedoch fragen konnte, ob alles okay war oder sie sich wehgetan hatte, hüpfte Sophie bereits in Richtung Wohnzimmer.
»Das muss ich sehen!«
»Oh … ähm …«
Sie hielt plötzlich inne, schaute kurz an sich herunter, auf die zerknitterten Klamotten und den Schokoladenfleck auf ihrem Shirt, und verzog dann das Gesicht. »Okay, gib mir zwei Minuten, dann komme ich nach.«
»Klar«, erwiderte ich und warf ihr einen letzten zweifelnden Blick zu, dann kehrte ich zu den Jungs zurück.
Oder zumindest war das der Plan, denn bei dem Anblick, der sich mir jetzt im Wohnzimmer bot, blieb ich abrupt im Türrahmen stehen.
Sie hatten den Couchtisch beiseitegeschoben, damit zwischen Fernseher und Sofa genügend Platz war. Und den brauchten sie auch. Parker, Cole und Lincoln tanzten zu OMG von Arash und Snoop Dogg – wenn man das überhaupt Tanzen nennen konnte. Sie sprangen nicht besonders synchron herum, wedelten mit den Armen, kickten ein Bein nach vorne, hüpften hin und her und sanken an einer Stelle sogar auf Hände und Knie.
Ich konnte nicht anders, ich prustete los. Dieser Anblick war göttlich. Kein Wunder, dass Sophie unbedingt dabei sein wollte.
»Alles klar?« Cole bemerkte mich als Erster, hörte aber nicht mit den seltsamen Bewegungen auf. Von den dreien war er derjenige, der sich am wenigsten an die Vorgaben und Schrittfolgen auf dem Fernseher hielt. Dafür blieb er aber erstaunlich gut im Takt.
Ich lehnte mich mit der Schulter gegen den Türrahmen, weil ich von hier aus die beste Aussicht auf das Spektakel hatte. »Alles gut. Sophie kommt gleich. Sie …« Einen Augenblick lang zögerte ich, denn im Grunde kannte ich Sophie und ihre Probleme nicht. Gingen sie mich überhaupt etwas an? Andererseits waren das hier ihre Mitbewohner, und womöglich war es für den Hausfrieden nicht ganz unwichtig, dass die Jungs vorgewarnt waren. »Ich glaube, es geht ihr nicht besonders.«
Vielleicht war es falsch, das zu erwähnen – aber ganz ehrlich? Dank der geröteten, verquollenen Augen konnte ihr das sowieso jeder ansehen.
»Ist sie krank?«, fragte Lincoln und hob die Arme, um wie eine Art Zombie rückwärts zu gehen.
»Oder hat sie ihre Tage?«, warf Parker ein, der dieselbe seltsame Bewegung vollführte.
»Nope«, kam es von Cole, der jetzt auf die Knie sank und so tat, als würde er das Haar zurückwerfen. »Erst in zwei Wochen wieder.«
Die anderen hielten inne und starrten ihn perplex an.
»Was denn?« Cole sprang wieder auf und zuckte mit den Schultern. »Ich schreibe mir den Scheiß auf. Wie soll ich sonst unser aller Überleben sichern und jedes Mal rechtzeitig drei Tafeln Schokolade herbeizaubern? Ihr solltet mir dankbar sein.«
Und mit diesen Worten und den letzten Bewegungen gewann er das Match, da sich Parker und Lincoln vor lauter Überraschung gar nicht mehr gerührt hatten.
»Ha!« Cole stieß die Faust in die Luft. »Ich bin der ungeschlagene Sieger! Ihr wisst, was jetzt ansteht.«
Verwirrt sah ich zwischen den dreien hin und her. »Was denn?«
Sophie tauchte neben mir auf, mit gekämmten Haaren und in einem sauberen hellblauen Top. »Die Verlierer tanzen Obsesión von Aventura. Ahh, ich bin genau richtig gekommen!« Ohne nachzufragen, packte sie mich am Arm und zog mich zum Sofa. »Das wird so gut!«
Parker verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen. »Bringen wir es hinter uns.«
Cole zwinkerte Sophie zu, stellte das richtige Lied ein und quetschte sich dann zwischen uns aufs Sofa. »Los geht’s! Und haltet euch nicht zurück, ja?«
Die ersten Töne erklangen, und als sich Parker hinstellte und so tat, als würde er telefonieren, musste ich bereits ein Glucksen zurückhalten. Wo um alles in der Welt war ich hier nur gelandet?
Plötzlich setzte die Musik ein, und die beiden legten los. Neben mir presste sich Sophie ein kleines Kissen vors Gesicht, während ihre Schultern bereits verräterisch bebten. Ich konnte mein Lachen bis zu dem Zeitpunkt zurückhalten, in dem sie die Hände sehnsüchtig nacheinander ausstreckten, sie ineinanderlegten und sich dabei ziemlich nahe kamen.
Ich prustete los. Oh. Mein. Gott. Die zwei tanzten die Choreografie voller Leidenschaft und mit ganzem Körpereinsatz, sowohl die nachfolgende Drehung als auch die restlichen Tanzschritte. Ich hätte ihnen ewig zuschauen können.
Zwischendurch stand Cole auf und flitzte in die Küche, gleich darauf drückte er mir etwas zu trinken in die Hand und warf ein paar Snacks auf den Tisch. Dann war die Performance leider auch schon vorbei.
Parker ließ sich auf den Sessel fallen und streckte alle viere von sich. »Dieser Song killt mich.«
»Ach komm«, neckte Lincoln. »Du kannst ruhig zugeben, dass ich dich kille, nicht das Lied.«
Statt einer Antwort zeigte Parker ihm nur grinsend den Mittelfinger. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit zu mir zurück. »Du bist dran. Los, los!«
»Ich?«
»Oh ja!« Ehe ich mich versah, sprang Cole auf und zog erst Sophie, dann mich auf die Beine. »Zeigen wir den beiden mal, was wir draufhaben.«
Und so schnell wurde ich von der passiven Zuschauerin zur aktiven Teilnehmerin. Ich versuchte, bei der Schrittfolge von Where Are You Now von Lady Leshurr und Wiley mitzuhalten, obwohl ich die ganze Zeit lachen musste. Zwischendurch fing ich Parkers Blick auf, der mir mit seiner Bierflasche zuprostete. Ich ignorierte das kleine Kribbeln, das sich in mir ausbreiten wollte, und konzentrierte mich wieder ganz auf die Tanzschritte, um neben Cole und Sophie, die das eindeutig schon öfter gespielt hatten, nicht völlig zu versagen.
Als wir fertig waren, klatschte unser Publikum, und wir deuteten eine Verbeugung an. Das Ganze hatte wahrscheinlich keine drei Minuten gedauert, trotzdem war ich außer Atem, verschwitzt und mir war ziemlich warm geworden. Vielleicht sollte ich es, nun da ich keine Schule mehr hatte, die mich dazu zwang, doch mal freiwillig mit Sport versuchen.
Plötzlich sah Parker von seinem Handy auf. »Oh Shit. Das hatte ich ja ganz vergessen!«
Sophie warf ihm einen alarmierten Blick zu. »Was denn?«
»Was ist los?«, fragte ich ebenfalls.
»Komm mit.« Er sprang auf, griff ohne jede Vorwarnung nach meiner Hand und zog mich auf die Beine. »Wir streamen jetzt zusammen.«