Level 18
Parker
Ich will nicht, dass sie geht. Das war der Gedanke, der mir auf dem Weg zum Flughafen immer wieder durch den Kopf ging. Irgendwie seltsam, oder? Ich sollte an die letzten zwei Tage denken, an unsere gemeinsame Nacht oder daran, wie es war, am Morgen mit Teagan in meinen Armen aufzuwachen – total übermüdet, weil wir kaum geschlafen hatten, aber trotzdem mehr als zufrieden. Ich sollte daran denken, was es in mir auslöste, sie reden, lachen, seufzen und stöhnen zu hören. Stattdessen konnte ich nur daran denken, dass ich sie nicht in dieses Flugzeug steigen und gehen lassen wollte. Erst recht nicht, wenn ich keine Ahnung hatte, wann wir uns wiedersehen würden. Über das ob dachte ich schon gar nicht mehr nach. Wir wussten beide, dass es ein Wiedersehen geben würde. Geben musste . Selbst wenn wir bisher nicht direkt darüber gesprochen hatten.
»Da wären wir«, sagte ich überflüssigerweise und schaltete den Motor aus.
Wir stiegen gleichzeitig aus, und ich holte ihre Reisetasche von der Rückbank, bevor sie danach greifen konnte. Dann ging ich um den Wagen herum und legte ihr den Arm um die Schultern. Seite an Seite verließen wir die Tiefgarage und betraten das Terminal. Wir waren nicht allzu früh dran, da sie kein Gepäck aufgeben musste, doch das bedeutete auch, dass uns nicht mehr viel Zeit zusammen blieb.
»Bisher mochte ich Flughäfen ganz gerne.« Teagan sah zu mir hoch. Sie hatte sich die Augen dunkel geschminkt, trotzdem konnte man ihr den Schlafmangel deutlich ansehen. Wahrscheinlich auch, wie wir die letzte Nacht verbracht hatten, denn in ihren Augen lag trotz des bevorstehenden Abschieds ein verräterisches Leuchten. Und ihre Lippen waren noch immer so verführerisch, dass ich am liebsten stehen geblieben wäre, sie an Ort und Stelle geküsst und nie mehr ­damit aufgehört hätte. Aber ich beherrschte mich und begnügte mich damit, ihr nur einen fragenden Blick zuzuwerfen.
»Die Spannung, Aufregung und Vorfreude, die in der Luft liegen. Die ganzen herzzerreißenden Wiedersehen …« Sie schüttelte den Kopf. »Was ich nie mochte, waren die Ab­schiede.«
Ich drückte ihre Schulter. »Niemand mag Abschiede.«
Sie lächelte schief. »Auch wieder wahr.«
Ich begleitete sie bis zum Security-Check, an dem wir uns trennen mussten. Da Samstagvormittag war, drängelten sich die Leute hier bereits, tranken ihre Wasserflaschen aus, sortierten ihre Taschen neu, nahmen Schmuck und Uhren ab oder standen gelangweilt in der Schlange.
Wir suchten uns eine ruhige Stelle etwas abseits, und ich stellte die Tasche neben uns auf den Boden. Dann zog ich Teagan wortlos in meine Arme. Kurz verspannte sie sich, als hätte sie nicht damit gerechnet, doch dann lehnte sie sich mit einem tiefen Seufzen an mich und schlang die Arme ebenfalls um mich.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir so dastanden und nur auf die Atemzüge und Herzschläge des anderen lauschten, völlig bewegungslos, während sich die Welt um uns herum weiterdrehte. Vielleicht waren es nur ein paar Sekunden, vielleicht auch Minuten. Es spielte keine Rolle.
Teagan und ich waren immer noch Freunde. Mehr als das … viel mehr. Allerdings hatte ich nach wie vor keine Ahnung, ob sie dieses Mehr überhaupt wollte. Und wie wir das hinkriegen sollten, wenn alles so verdammt unsicher war. Wenn nicht mal klar war, wann wir das nächste Mal richtig miteinander chatten oder zocken konnten, weil sie noch immer kein Internet hatte – weder zu Hause noch auf dem Handy. Davon, wann und unter welchen Umständen wir uns wiedersehen würden, ganz zu schweigen. Zur RTX und nach Pensacola war sie hauptsächlich gekommen, um sich die Colleges anzusehen. Wie würde das in Zukunft sein, wenn sie mit dem Studium begann? Wie würde es sein, wenn sie sonst wo lebte und studierte, nur nicht hier?
Shit. Ich wollte nicht darüber nachdenken, schon gar nicht jetzt, wenn ich sie noch ein paar Sekunden länger im Arm halten konnte. Ich strich ganz leicht mit der flachen Hand über ihren Rücken, und sie revanchierte sich damit, dass sie mich noch etwas fester hielt, ganz so, als wollte sie genauso wenig in dieses Flugzeug steigen und nach Hause fliegen, wie ich sie loslassen wollte.
Ich drückte ihr einen Kuss auf den Kopf und vergrub das Gesicht für einen Moment in ihrem duftenden Haar. Teagan atmete erstickt aus, sagte aber kein Wort. Das musste sie auch nicht. Ich konnte ihr den Tumult nicht bloß ansehen – ich fühlte ihn ja auch. Und es war ein beschissenes Gefühl.
Als eine Durchsage kam, die ihren Flug nach Denver betraf, hob Teagan den Kopf und seufzte tief. Ich folgte ihrem Blick zur Sicherheitskontrolle. Immerhin war die Schlange dort schon wesentlich kürzer geworden. Jetzt würde sie nicht mehr allzu lange anstehen müssen, bis sie an die Reihe kam.
»Ich will nicht gehen«, murmelte sie schließlich, ohne mich anzusehen.
Ich legte ihr die Hand ans Kinn und hob es an, damit sie mir in die Augen sah. Doch das bewirkte nur, dass mein aufmunterndes Lächeln erstarb. »Ich weiß«, erwiderte ich genauso leise und lehnte mich vor, um ihre Lippen ein letztes Mal mit meinen zu berühren. Um ihren Geschmack und ihren Duft ein letztes Mal einzufangen. »Bleib hier. Niemand wird es bemerken. Für die anderen gehörst du eh schon zur WG.«
Das entlockte ihr zumindest ein Schmunzeln, auch wenn es eher bittersüß ausfiel. »Ich kann nicht …«
»Na gut.« Ich stupste sie leicht an. »Dann sorg dafür, dass du bald wieder Internet hast, okay? Wer soll mich sonst bei Guild Wars besiegen und mir dieses dämliche tanzende Lama vorbeischicken?«
Sie grinste. »Ich werde mein Bestes geben.«
Doch dann verblasste ihr Grinsen, genauso wie meine amüsierte Miene. Denn jetzt stand uns der Abschied unmittelbar bevor. Nichts, was ich sagen oder tun würde, konnte etwas daran ändern.
Ein letztes Mal zog ich sie an mich und umarmte sie ganz fest. »Pass auf dich auf«, murmelte ich an ihrem Ohr. »Und …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Gib mir Bescheid, wenn du sicher gelandet bist. Okay?«
»Werde ich«, wisperte sie. »Danke, dass ich herkommen durfte.«
Ich lachte erstickt auf. »Machst du Witze? Das war das Beste, was mir in diesem Jahr passiert ist. Abgesehen davon, wie wir uns kennengelernt haben.«
Sie gab ein Geräusch von sich, aber ich konnte nicht genau erkennen, ob es ein Lachen oder ein Schniefen war. Gott, bitte ein Lachen. Wenn sie jetzt anfangen würde zu weinen, könnte ich sie niemals gehen lassen.
Shit. Wer hätte gedacht, dass dieses spontane Treffen so enden würde? Als ich ihr angeboten hatte, herzukommen, hatte ich mich vor allem darauf gefreut, etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Und war froh gewesen, ihr eine Auszeit von zu Hause und zusätzlich die Möglichkeit zu bieten, sich eines ihrer Wunschcolleges anzuschauen. Ich hätte nie erwartet, dass wir eng umschlungen am Flughafen stehen würden und dass es uns beiden so dermaßen schwerfallen würde, uns voneinander zu verabschieden.
Wieder eine Durchsage. Diesmal informierte die monotone Stimme die Wartenden darüber, dass das Boarding für den Flug nach Denver begonnen hatte und sich alle Passagiere bitte umgehend am Gate einfinden sollten.
»Ich muss los.« Widerwillig machte sich Teagan von mir los.
Und obwohl jeder Instinkt in mir dagegen protestierte, ließ ich die Arme sinken und zwang mich dazu, tief durchzuatmen. Ich hatte keine Ahnung, was ich noch sagen sollte. Einerseits hatten wir schon alles gesagt und uns mehr als nur einmal voneinander verabschiedet. Andererseits lagen mir gefühlt tausend ungesagte Worte auf der Zunge, aber ich sprach kein einziges davon aus. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich konnte mich nicht daran erinnern, wann es mir das letzte Mal so verflucht schwergefallen war, mich von jemandem zu verabschieden.
Aber Worte waren sowieso überflüssig. Stattdessen machte ich einen halben Schritt auf Teagan zu und überbrückte so die Distanz, die sie zwischen uns gebracht hatte, legte die Hände an ihr Gesicht und küsste sie.
Ihre Finger schlossen sich um meine Handgelenke. Sie kam mir entgegen, erwiderte den Kuss so leidenschaftlich wie letzte Nacht und gleichzeitig so verzweifelt, als wäre es das allerletzte Mal. Dann riss sie sich abrupt von mir los. Sekundenlang starrten wir uns nur an, dann schloss sie für einen Moment die Augen und atmete tief durch, als müsse sie sich innerlich wappnen. Nach einem letzten schiefen Lächeln hob sie ihre Tasche auf und ging an mir vorbei Richtung Security-Check. Ich drehte mich um und folgte ihr mit meinen Blicken, aber Teagan sah nicht zurück. Nicht, als sie sich ans Ende der mittlerweile super kurzen Schlange stellte. Nicht, als sie an der Reihe war. Und auch nicht, als sie durch die Kontrolle auf die andere Seite ging, wohin ich ihr nicht folgen konnte.
Erst der brennende Schmerz in meinen Handflächen machte mir klar, dass ich die Hände unbemerkt zu Fäusten geballt hatte. Und dass ich noch immer hier stand, als würde gleich ein Wunder geschehen und Teagan zurückkehren. Was natürlich nicht passierte. Denn Wunder gab es nicht. Hatte ich das nicht schon vor sieben Jahren gelernt?
Mit einem tiefen Seufzen fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar. Ein letzter Blick auf die Anzeigetafel mit den Flügen, und ich verzog das Gesicht. Teagan musste sich wirklich beeilen, um ihren Flieger noch zu erreichen. Wir hatten den Abschied bis zur letzten Minute ausgereizt und jetzt … jetzt war sie weg.
Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, machte ich auf dem Absatz kehrt und wandte der Sicherheitskontrolle den Rücken zu. Ich ging denselben Weg zurück, den Teagan und ich zuvor genommen hatten, nur diesmal allein. Um meine Gedanken zu beschäftigen – und sie davon abzuhalten, zu der Frau zurückzuwandern, mit der ich die letzten Tage und Nächte verbracht hatte –, zog ich mein Handy aus der Hosentasche. Mitten im Terminal blieb ich stehen und starrte auf das Display.
Ein verpasster Anruf von meinem Vater. Vor einer halben Stunde. Ich fluchte innerlich. Shit. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Ich hatte schon auf seinen Namen geklickt, um ihn zurückzurufen, als eine Nachricht von meiner besten Freundin aufploppte. Callie wollte wissen, ob ich mal wieder Zeit und Lust zum Telefonieren hätte. Und wann ich gedachte, ihr von der Frau zu erzählen, mit der ich gestern zusammen gestreamt und die ganze Zeit geflirtet hatte.
Ich schnaubte. Dann setzte ich mich langsam wieder in Bewegung, während ich eine Antwort tippte.
Parker
Sorry, gerade ist es schlecht. Muss wahrscheinlich nach Hause fahren …
Callie
Alles in Ordnung?
Parker
Nope
Callie
Was ist los?
Parker
Das Übliche
Callie
Ach Shit …
Jepp. Das konnte ich genau so unterzeichnen, auch ohne genau zu wissen, warum Dad versucht hatte, mich anzurufen. Sicher nicht, weil die Milch alle war und er wollte, dass ich die drei Stunden zu ihnen hoch nach Alabama fuhr, um für ihn einzukaufen.
Ich biss die Zähne zusammen, als mir alle anderen, wesentlich realistischeren Möglichkeiten einfielen. Mom könnte einen ihrer Anfälle gehabt haben, und da ich nicht da gewesen war, um sie fest- und davon abzuhalten, sich selbst wehzutun, könnte sie sich verletzt haben. Vielleicht musste sie ins Krankenhaus. Oder aber es war sogar noch schlimmer …
Allein diese Möglichkeit drehte mir den Magen um und ich musste gegen die Übelkeit ankämpfen.
Bevor das Display erlöschen konnte, leuchtete es mit einer neuen Nachricht auf.
Callie
Du hast mir mal gesagt: Wenn du je darüber reden willst – und das muss nicht mit mir sein –, dann tu es bitte. Okay?
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Wahrscheinlich hatte sie recht. Dumm nur, dass die einzige Person, bei der ich mir vorstellen konnte, darüber zu reden, gerade durch die Sicherheitskontrolle gegangen und in ein Flugzeug gestiegen war.