Level 19
Teagan
Es war kurz nach zehn Uhr abends, als ich zu Hause ankam. Glücklicherweise hatte ich bei der Rückreise keine vier Stunden in Denver auf den Anschlussflug warten müssen, sondern nur zwei, trotzdem war ich total erledigt. Erledigt und aufgekratzt. Am liebsten würde ich sofort in mein Zimmer rennen, den PC starten und online gehen, um Parker zu schreiben oder irgendetwas mit ihm zu zocken. Ob privat oder vor aller Welt in seinem oder meinem Stream war mir sogar egal. Ich wollte nur … Zeit mit ihm verbringen. Argh. So etwas kannte ich überhaupt nicht von mir, aber es war einfach die Wahrheit.
Ich parkte meinen Wagen an der üblichen Stelle, schaltete den Motor aus und schnappte mir die Tasche vom Beifahrersitz, bevor ich ausstieg. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich das Licht im Haus erst bemerkte, als ich es schon betreten hatte.
Zögerlich stellte ich meine Reisetasche auf der untersten Treppenstufe ab und folgte dem Lichtschein, der mich jedoch nicht wie erwartet in die Küche führte, sondern ins Wohnzimmer. Der Raum, den Dad und ich in der Regel eher vermieden, weil Moms Handschrift hier noch immer am deutlichsten zu erkennen war. Sei es in den schönen Landschaftsgemälden an der Wand, den gemütlichen Sofas mit den vielen kleinen Kissen oder dem Couchtisch, den sie bei einem Künstler hier im Ort gekauft hatte – alles in diesem Zimmer erinnerte an sie. Aber auch an andere Dinge, die untrennbar mit diesem Raum verbunden waren, wie die vielen Streitereien zwischen Mom und Dad oder die zahllosen Serienabende, die Mom und ich zusammen auf diesem Sofa verbracht hatten. All das sorgte dafür, dass sowohl mein Dad als auch ich uns nie lange genug mit diesem Raum befassten, um etwas daran zu ändern. Es tat einfach zu weh.
Und trotzdem brannte genau hier das Licht, und als ich das Wohnzimmer betrat, fand ich Dad auf dem Sofa sitzend vor. Er hob den Kopf, als ich hereinkam und musterte mich einmal von oben bis unten, beinahe so, als wollte er sicherstellen, dass ich noch ganz war. Dann setzte er sich langsam auf.
»Wo warst du?«, fragte er mit trügerischer Ruhe.
Ich schluckte und versuchte, mir nichts von meiner Irritation anmerken zu lassen. Das hier konnte nichts Gutes bedeuten. Überhaupt nicht. Dad verbrachte den Samstagabend sicher nicht im verhassten Wohnzimmer auf der Couch und wartete auf mich, bloß weil er nichts Besseres zu tun hatte.
»In Pensacola. Mir das College anschauen. Das weißt du doch.«
»Nein, Teagan. Denn du bist wie beim letzten Mal einfach losgefahren, ohne mir Bescheid zu geben, was du vorhast. Oder um Erlaubnis zu fragen.«
»Wie bitte?«, stieß ich ungläubig hervor. Ich wollte mich nicht auf einen Streit einlassen, aber diese Anschuldigung war total lächerlich. Das konnte ich nicht einfach so stehen lassen. »Ich habe dir eine Nachricht dagelassen, dir eine E-Mail geschrieben und sogar Susanna informiert, damit sie dir Bescheid gibt, wenn du mal zu Hause bist. Und als dir dann endlich aufgefallen ist, dass ich weg bin, und du mich mit Nachrichten bombardiert hast, habe ich dir gleich getextet, dass ich noch am Leben bin und wo ich mich aufhalte. Was soll ich denn noch tun? Ich werde ganz sicher nicht bei dir in der Firma anrufen und mir von deiner Sekretärin einen Termin geben lassen, nur um mit meinem eigenen Vater zu reden. Das kannst du echt nicht von mir verlangen.«
Er stand ruckartig auf. »Das tue ich doch gar nicht!«
Doch. Genau das tat er, ob es ihm bewusst war oder nicht. Indem er nie zu Hause und nie zu erreichen war, blieb das die einzige Möglichkeit, um mit ihm zu sprechen, falls ich ihn mit ­etwas Glück nicht doch alle paar Tage zufällig zu Hause antraf.
»Ach, wirklich?«, schoss ich zurück. »Wie soll ich dir denn Bescheid geben, was ich tue oder wohin ich fahre, wenn du nie da bist?«
Er zuckte zusammen, erwiderte aber nichts darauf. Und für einen Moment glaubte, nein, befürchtete ich, ihn tatsächlich verletzt zu haben. Aber … wie? Ich hatte doch nur die Wahrheit gesagt. Er war wirklich kaum da – und es war ja nicht mal so, als wäre das eine neue Entwicklung. Ich kannte es kaum anders. Von früher, als ich noch klein gewesen war, hatte ich mehr Erinnerungen an Dad, aber in den letzten zehn Jahren? Fehlanzeige.
Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Erst jetzt registrierte ich, dass er unrasiert war. Die Krawatte hing ihm viel zu locker um den Hals, und er wirkte ein bisschen blass. Hatte er … hatte er sich etwa Sorgen um mich gemacht? Jetzt auf einmal? Dann hätte er zumindest noch einmal anrufen und nachfragen können, wo genau ich war und was ich machte. Oder mir die Hölle heißmachen, weil ich ihm nicht so Bescheid gesagt hatte, wie er es gerne wollte. Aber Dad hatte nach meiner Textnachricht nicht noch mal angerufen. Wahrscheinlich war er direkt danach wieder ins Büro gefahren und hatte für den Rest des Tages vergessen, dass seine einzige Tochter tausend Meilen weit weg war.
Ob es bei Mom damals genauso gewesen war? Hatte er ihre Abwesenheit auch erst Tage später bemerkt, als sie schon längst auf und davon und wahrscheinlich bereits in Paris bei ihrem neuen Lover war? Ich schluckte die Bitterkeit hinunter, aber etwas davon blieb in meinem Mund zurück.
»Ich weiß nicht mehr, wo du bist, mit wem du dich triffst oder was du vorhast«, gab er schließlich zu und ließ die Hände sinken. »Es ist, als würde ich dich gar nicht mehr kennen, Teagan.«
»Ich würde sagen, das hast du noch nie.«
Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, nickte zu meiner Überraschung jedoch. »Ich schätze, das hab ich verdient.«
Nein. Nein, nein, nein. Ich wollte nicht diejenige sein, die ihm wehtat. Dafür war ich nicht nach Hause zurückgekommen. Und auch wenn ich noch immer sauer auf ihn war, weil er den WLAN-Router mitgenommen und mich zu einer Existenz ohne Internet und ohne meine wenigen sozialen Kontakte verdammt hatte, wollte ich ihm nicht wehtun. Das hatte Mom schon zur Genüge getan.
»Dad …« Ich machte einen halben Schritt auf ihn zu.
»Nein, du hast recht.« Er löste die Krawatte und warf sie auf die Couch. »Ich war dir kein besonders guter Vater. Ich habe immer viel zu viel gearbeitet, aber früher hattest du deine Mom, für die du die ganze Welt warst.«
Nicht genug, um mich nicht genauso zurückzulassen wie dich , dachte ich zynisch, sprach die Worte jedoch nicht aus. Musste ich auch nicht. Ich war mir ziemlich sicher, dass Dad sie mir ansehen konnte.
»Und dann … dann habe ich immer noch zu viel gearbeitet«, gab er zu und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »In der einen Sekunde warst du noch das kleine Baby, in der nächsten bist du schon erwachsen und so verdammt selbstständig geworden, Teagan. Du nimmst keine Hilfe an und suchst nie meinen Rat. Nicht mal, wenn es um die Entscheidung für ein College geht.«
»Weil ich deinen Rat nicht brauche!«, platzte ich heraus. »Ich weiß genau, was ich studieren will. Du bist derjenige, der einfach nicht wahrhaben will, dass ich in wenigen Monaten nicht auf einer tollen Elite-Uni sein, sondern Game Design studieren werde. Das, was ich will. Nicht du
»Das ist nicht fair …«, begann er.
Mein schrilles Auflachen unterbrach ihn. »Nicht fair? Echt jetzt?« Ungläubig breitete ich die Arme aus. »Nicht fair ist, dass du nie zu Hause bist und mir einen Vorwurf daraus machst, wenn ich mal weg bin! Nicht fair ist, dass du mich dazu zwingst, mich bei den Unis zu bewerben, wo du mich haben willst, und dass es dich einen Dreck interessiert, was ich mit meinem Leben anfangen will.«
»Das reicht!« Dads Stimme donnerte durch das Wohn­zimmer.
Jeder Muskel in meinem Körper war in Alarmbereitschaft und mir schlug das Herz bis zum Hals, aber ich blieb, wo ich war. Ich würde nicht nachgeben. Ich weigerte mich, einfach aufzugeben. Nicht, wenn ich noch immer die Chance darauf hatte, einen Platz an einem der Colleges zu bekommen, die mein Wunschstudium anboten. Und zwar nicht nur als Nebenfach oder mit irgendwelchen Auflagen verbunden, sondern genau so, wie ich es mir erhoffte.
»Deine Bewerbungen an den Colleges, wo ich dich haben will, wie du es nennst, sind wichtig. Außerdem hast du bereits eine Zusage bekommen. Was willst du denn tun, wenn du nicht in Austin oder Pensacola oder sonst wo angenommen wirst? Für den Rest deines Lebens Kaffee machen und in deinem Kinderzimmer irgendwelche Spiele spielen?«
Ich zuckte zusammen, aber er war noch nicht fertig.
»Ich habe dir mehr als einmal gesagt, dass ich dir die Ausbildung bezahlen werde«, fuhr Dad sichtlich um Ruhe bemüht fort. Doch die Ader an seiner Stirn pochte heftig.
Ich schnaubte. »Ja, aber nur an der Georgetown University oder den anderen Colleges, die du ausgewählt hast. Was ich will, spielt keine Rolle, oder? Das hat es noch nie. Nicht für dich und nicht für Mom!«
Diesmal war Dad derjenige, der zusammenzuckte. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. »Dass deine Mutter uns verlassen hat, hatte nichts mit dir zu tun, Teagan.«
»Nein, sie hat es getan, weil du nie da warst. Und wenn du mal da bist, willst du allen deinen Willen aufzwingen!«, stieß ich hervor. »Wie oft soll ich es noch sagen? Ich will selbst entscheiden, wo und was ich studiere! Und ich brauche deine Unterstützung nicht. Ich kann mich sehr gut selbst finanzieren.«
»Mit deinen Spielen und dem Job als Barista? Mach dich nicht lächerlich, Teagan.«
»Wann wirst du endlich begreifen, dass es nicht nur irgendwelche Spiele sind? Dass mir das wichtig ist? Dass es das ist, was ich beruflich machen will? Warum kannst du nicht ein einziges Mal zuhören und mich nach meinen Wünschen fragen, statt alles für mich zu entscheiden?«
Meine Worte hingen zwischen uns in der Luft, und ich rechnete fest mit einer Retourkutsche, einem heftigen Streit oder sogar der Androhung von Hausarrest. Doch da kam nichts. Und während ich ihn verwirrt musterte, betrachtete mich mein eigener Vater, als würde er mich gerade zum ersten Mal ­sehen.
»Ich …« Er zögerte. Hielt inne. Versuchte es noch mal. »Denkst du wirklich, ich will dich kontrollieren? Ich versuche nur, das zu tun, was das Beste für dich ist.«
Verdammt, warum wurde meine Kehle auf einmal so eng?
Ich schluckte hart. »Das Beste für mich wäre, wenn du mir zuhören würdest. Wenn ich meine eigenen Entscheidungen treffen und meine eigenen Fehler machen könnte.«
Er seufze tief und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich will dich doch nur beschützen.«
»Ich brauche keinen Beschützer. Ich brauche meinen Dad.«
»Und ich versuche, dein Dad zu sein.« Er schüttelte langsam den Kopf und trat einen zögerlichen Schritt auf mich zu. »Aber anscheinend mache ich keinen besonders guten Job. Ich kann mich kaum daran erinnern, wann wir das letzte Mal ein richtiges Gespräch geführt haben, ohne uns zu streiten oder dass du nach drei Sätzen wütend in dein Zimmer gestürmt bist.«
Sah er das wirklich so? Stieß ich ihn genauso von mir wie er mich? War ich etwa genauso sehr schuld, dass unsere Vater-Tochter-Beziehung praktisch nicht existent war? Vielleicht war es die lange Reise, vielleicht die Erschöpfung oder die Tatsache, dass ich Parker vermisste und noch immer keine Ahnung hatte, wie mein Leben in wenigen Wochen aussehen würde, doch diese Vorstellung trieb mir die Tränen in die Augen.
»Oh nein«, stieß Dad hervor und verzog das Gesicht, als hätte ich ihm gerade in den Magen geboxt. »Bitte weine jetzt nicht, Kleines. Ich kann es nicht ertragen, wenn du weinst. Das konnte ich noch nie.«
»Tu ich doch gar nicht«, behauptete ich und wischte mir mit dem Unterarm über die Augen, dann zog ich die Nase hoch und atmete tief durch. »Ich … ich bin bloß so sauer auf dich, aber ich will dich auch umarmen und anschreien und … und ich vermisse meinen Dad«, flüsterte ich.
Ich hatte auch Mom vermisst, als sie plötzlich ohne jede Nachricht weg gewesen war und mich alleine und vollkommen verwirrt zurückgelassen hatte, aber diese Empfindung war Wut und schließlich bitterer Gleichgültigkeit gewichen. Ich hatte gelernt, mein Leben ohne sie zu leben und würde die Lektion, die sie mir erteilt hatte, niemals vergessen. Aber ich war darüber hinweggekommen. Ich hatte weitergemacht.
Was jedoch Dad anging … Wie konnte man jemanden vermissen, mit dem man unter ein und demselben Dach wohnte? Wie konnte man seinen eigenen Vater vermissen, wenn man kaum gemeinsame Erinnerungen hatte? Ich begriff es nicht, aber es war so. Und zu wissen, dass er zwar in der Nähe, aber immer unerreichbar für mich war, tat fast genauso weh wie das, was Mom getan hatte. Wenn nicht sogar mehr.
»Ich vermisse dich auch«, gab er nach einem Moment zu. »Ich weiß, dass ich viel zu viel arbeite und wir uns deswegen zu wenig sehen. Dass ich zu wenig für dich da war, vor allem nachdem uns deine Mutter verlassen hat.«
Bei der Erwähnung von Mom sah ich zur Seite und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. »Das ist schon lange her«, murmelte ich, auch wenn es sich an manchen Tagen, so wie jetzt, überhaupt nicht so anfühlte. Denn heute Abend war es wie eine aufgerissene Wunde, die wieder angefangen hatte zu bluten. Und wir standen beide daneben und sahen zu, statt etwas dagegen zu unternehmen.
Ich holte tief Luft und zwang mich dazu, wieder zu ihm zu sehen. Wir standen uns beide noch immer wie zwei Kontrahenten im Wohnzimmer gegenüber. Wie zwei Fremde, die sich gleich in einen Kampf stürzen würden. Und ich war es so leid, ständig gegen ihn ankämpfen zu müssen.
»Warum gehen wir nicht in die Küche?«, schlug ich vor und deutete hinter mich, weil ich diesen Raum und all die Erinnerungen, die er in sich trug, nicht länger ertragen konnte.
Dad nickte und folgte mir in die Küche, wo ich mich auf einen Hocker an der Kochinsel fallen ließ, während er den Wasserkocher einschaltete. Ohne nachzufragen, stellte er mir kurz darauf einen Tee hin.
»Danke«, sagte ich, legte die Hände um die warme Tasse und trank einen Schluck. Dann atmete ich tief durch und suchte seinen Blick. »Wollen wir … vielleicht … einfach nur ein bisschen reden? Ohne uns anzuschreien oder uns Vorwürfe zu machen?«, fragte ich schließlich.
Ein zögerliches Lächeln erhellte seine Züge und er setzte sich mit seiner eigenen Tasse neben mich. »Das … klingt gut. Erzähl mir vom College in Pensacola – und dem Flug dahin. Der war noch länger als der nach Austin, oder?«
Es war mitten in der Nacht, als ich die Tür zu meinem Zimmer schloss und mich für einen Moment dagegenlehnte. Wenn ich bei meiner Ankunft schon erschöpft gewesen war, dann war ich jetzt völlig erledigt. Und gleichzeitig hellwach, denn nach dem langen Gespräch mit Dad in der Küche hatte er mich damit überrascht, dass er den Router zurückgebracht und angeschlossen hatte. Was bedeutete, dass ich wieder Internet ­hatte.
Das musste ich sofort ausnutzen.
Ich stieß mich von der Tür ab, warf die Reisetasche neben das Bett auf den Boden und flitzte zu meinem Schreibtisch. Ungeduldig wartete ich, dass der Rechner hochfuhr und sich mit dem Internet verband, und tippte gleichzeitig Nachrichten an Parker und Alice. Ich war wieder da! Ich konnte wieder texten, streamen, zocken und bei allem mitreden, was in der Welt so passierte.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich wieder online war und alle Programme und Seiten öffnen konnte. Kurz bevor ich den Livestream startete, fiel mir ein, dass ich nach der stundenlangen Reise mal in den Spiegel schauen sollte, bevor ich meine Zuschauer erschreckte, also rannte ich ins Bad, duschte schnell, bürstete mir das Haar und frischte mein Make-up auf, dann saß ich schon wieder vor den Monitoren, setzte die Kopfhörer auf, überprüfte das Mikrofon und startete den Stream.
»Hallo zusammen!«, rief ich mit so viel Enthusiasmus, dass ich selbst kurz lachen musste. »Ich bin zurück. Endlich! Wir können wieder Tomb Raider und all die anderen tollen Games spielen!«
Immer mehr Leute kamen online, und im Chat rauschten die Nachrichten schneller durch, als ich es in Erinnerung hatte. Was daran liegen könnte, dass ich in dieser Samstagnacht deutlich mehr Zuschauer hatte als sonst bei meinen Streams. In diesem Moment fiel mir ein, was Parker bei unserem gemeinsamen Stream in seinem Zimmer gesagt hatte: Tut mir einen Gefallen und folgt ihr alle mal.
Gott, war das wirklich erst knapp vierundzwanzig Stunden her? Mir kam es so vor, als würden Wochen dazwischenliegen, gleichzeitig aber auch, als wäre es nur einen Herzschlag her, dass er mich vom Stuhl hochgezogen und geküsst hatte.
Ich hatte dank meiner anfänglichen Nervosität gar nicht damit gerechnet, dass mir der Livestream mit Parker so viel Spaß machen würde. Genau wie diese beiden Tage in Pensacola. Ich mochte nicht allzu viel von der Stadt gesehen haben, aber ich war auf dem Campus und am Strand gewesen. Und in der WG. Diese Leute – allen voran Parker, aber auch Cole, Sophie und Lincoln – hatten meinen Besuch dort zu etwas Besonderem gemacht. Zu etwas, das ich nicht so schnell vergessen würde.
»Wahh, ihr seid so viele geworden!« Ich grinste. »Gebt mir einen Moment, um hinterherzukommen. Was habe ich verpasst?«
Während weitere Begrüßungen und News gleichermaßen durch den Chat rauschten, versuchte ich, sowohl meinen Zuschauern die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen als auch meinem Handy. Alice, die Verrückte, war trotz zwei Stunden Zeitverschiebung noch wach und hatte mir geantwortet. Sie freute sich fast mehr als ich, dass mein Internet zurück war, und hatte zur Feier des Tages, wie sie es nannte, bereits auf allen Social-Media-Plattformen verkündet, dass es einen spontanen Stream geben würde.
Parker hatte allerdings noch nicht geantwortet, und als ich kurz auf dem zweiten Monitor nachsah, war er auch nicht online. Hm. Seltsam. Hatte er, während ich in Denver gewartet hatte, nicht gemeint, dass er heute Abend streamen würde? Oder war das schon vorbei? Ich sah zum zweiten Mal prüfend auf die Zeitanzeige am oberen rechten Bildschirmrand. Sieben Minuten nach zwölf. In Pensacola musste es kurz nach zwei sein. Aber so schnell beendete Parker seine Livestreams normalerweise nicht. Und selbst wenn, war er meistens noch eine Weile wach – so gut kannte ich ihn mittlerweile. Auch unser gemeinsamer Stream war länger gegangen – obwohl der ein sehr abruptes Ende gefunden hatte, weil wir es beide keine Sekunde länger ausgehalten hatten.
Und da kamen auch schon die ersten Fragen nach Parker im Chat. Woher wir uns kannten. Ob wir ein Paar waren. Wie es war, zusammen zu streamen und ob wir das in Zukunft öfter machen würden. Ob wir nur Freunde waren. Ob er eine Freundin hatte. Wo er heute Abend steckte.
Huch? Okay, dann schien er wirklich nicht online gewesen zu sein. Wahrscheinlich war er einfach eingeschlafen – kein Wunder, nach der letzten Nacht. Aber das hieß dann wohl auch, dass wir nicht zusammen zocken würden. Schade. Obwohl die Sache mit dem Router total überraschend und ungeplant passiert war, hatte ich mich insgeheim bereits darauf gefreut, mit Parker zu spielen. Dabei wäre es mir ganz egal gewesen, ob wir ein neues Battle im Guild Wars PvP ausfochten, ein paar Runden als Überlebende bei Dead by Daylight oder als Soldaten in Player Unknown’s Battlegrounds spielten oder etwas ganz anderes zockten. Hauptsache, wir hätten noch ein wenig mehr Zeit miteinander verbracht. Aber nun musste ich mich wohl damit abfinden, dass nichts davon eintreffen würde. Und ich hasste mich ein kleines bisschen dafür, mich mal wieder einer trügerischen Hoffnung hingegeben zu haben. Dabei wusste ich doch am besten, dass Hoffnung nur zu Enttäuschung führte. Und dass Menschen einen immer wieder enttäuschten, ob sie das nun wollten oder nicht.
Allerdings würde ich mir vor meinen Zuschauern sicher nichts davon anmerken lassen. Also ignorierte ich die ganzen Fragen zu Parker und ging nur auf belangloses Zeug ein. Auch meinen Besuch in Pensacola erwähnte ich mit keinem Wort und tat die letzte Woche nur mit einer schnellen Bemerkung zu »Internetproblemen« ab, was ja auch der Wahrheit entsprach. Bevor noch mehr Leute nachhaken konnten, startete ich den dritten Teil von Tomb Raider, und schon bald verloren wir uns alle in Laras Abenteuer.
Wir hatten gerade mal ein neues Level geschafft, als auf dem anderen Monitor eine Benachrichtigung aufleuchtete: Parker4G ist online.
Und mein dämliches Herz, dem das Thema Hoffnung, Enttäuschungen und der ganze Rest offenbar komplett egal war, klopfte schlagartig schneller.
Nur mit Mühe konnte ich ein Lächeln unterdrücken, als ich Parkers Nachricht las, in der er fragte, ob wir zusammen zocken wollten.
»Okay, Leute, kleine Planänderung«, verkündete ich und ging ins Menü, um das Spiel zu verlassen. »Wir spielen jetzt etwas mit Parker. Wer hat Lust, zuzusehen, wie wir ihn bei Guild Wars fertigmachen?«