Level 21
Teagan
Acht Stunden und zehntausend Kaffeevariationen später verabschiedete ich mich von Charlie und der neuen Aushilfe Sabrina, und ließ mich auf den Fahrersitz meines Wagens fallen. Mein Kopf schwirrte von den vielen Gesprächen und Extrawünschen und ich war mir ziemlich sicher, dass meine Geruchsnerven allesamt von Kaffeebohnen und Milchschaum verätzt waren. Trotzdem nippte ich jetzt an meinem Iced Latte und genoss jeden einzelnen Schluck davon. Seltsam? Vielleicht. Aber das war mir so was von egal.
Ich brauchte noch einen Moment, um runterzukommen und die Motivation aufzubringen, den Motor zu starten, also blieb ich einfach sitzen und schlürfte meinen Kaffee. Auf dem Parkplatz hinter dem Coffee Shop war abends unter der Woche sowieso nicht viel los. Alles, was ich durch die Fenster sehen konnte, waren zwei andere Autos und drei einsame Motten, die um die Straßenlampe herumschwirrten, die vor wenigen Sekunden flackernd angesprungen war.
Eine Weile beobachtete ich das sinnlose Treiben und trank weiter, bis nur noch das Knirschen von Eis in meinem Becher zu hören war. Seufzend stellte ich ihn in den Getränkehalter und griff nach meinem Handy auf dem Beifahrersitz. Beim Einsteigen hatte ich es zusammen mit meiner Tasche einfach hingeworfen. Jetzt entsperrte ich das Display in der Hoffnung, irgendetwas Spannendes darauf vorzufinden. News aus der Gaming-Szene beispielsweise. E-Mails, die zur Abwechslung kein Spam waren. Ein Lebenszeichen von Parker. Doch der Bildschirm blieb erschreckend leer. Weder Neuigkeiten noch Mails und erst recht keine Textnachrichten von Parker.
Grübelnd nagte ich an meiner Unterlippe. Wie lange war unser letztes richtiges Gespräch nun her? Ein paar Tage? Oder war es schon eine ganze Woche? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir uns jemals so lange nichts zu sagen gehabt hatten. Allerdings konnte ich mich auch kaum daran erinnern, wie mein Leben gewesen war, bevor ich ihn und sein Team bei Guild Wars fertiggemacht hatte und wir uns kennengelernt hatten. Wie traurig war das bitte?
Frustriert warf ich das Handy zurück, schnallte mich an und startete den Motor. Ich hatte keine Lust, Trübsal zu blasen oder mich aufzuregen. Und ganz bestimmt würde ich nicht enttäuscht sein, nur weil sich irgendein Typ nicht mehr bei mir meldete. Selbst wenn dieser Typ Parker war. Stattdessen würde ich nach Hause fahren, ausgiebig duschen, mir etwas Gemütliches anziehen, etwas essen und dann den Livestream starten. Ich war fast mit Tomb Raider III durch und konnte es gar nicht erwarten, endlich mit dem vierten Teil der Reihe anzufangen. Durch meine kurze internetlose Phase hatte sich das Durchspielen etwas gezogen, aber jetzt war ich hochmotiviert. Vor allem, wenn das bedeutete, diesen nervigen Arbeitstag zu vergessen. Oder die Tatsache, dass ich langsam anfing, mir Sorgen zu machen, weil diese Funkstille so untypisch für Parker war.
Ich parkte den Wagen vor dem Haus. Wozu mir die Mühe machen, ihn in die Garage zu stellen, wenn ich morgen Vormittag sowieso wieder in den Coffeeshop fahren würde? Mittlerweile war es Nacht geworden. Nur am Horizont im Westen, wo die Sonne gerade untergegangen war, leuchtete der Himmel noch eine Spur heller. Auf dem Weg zur Haustür hörte ich die Grillen zirpen und ein leises Bellen in der Nachbarschaft. Irgendwo quakten ein paar Frösche, doch abgesehen davon war es völlig still. Fast schon gruselig. Vor allem, wenn ich bedachte, wie anders es nachts in der WG in Pensacola gewesen war. Sicher, auch dort war es nicht allzu laut gewesen, aber auf jeden Fall lauter als hier. Und obwohl ich mich in der ersten Nacht noch daran gestört hatte, kam es mir seit meiner Rückkehr zu Hause fast schon zu ruhig vor. Wie seltsam war das, bitte?
Ich schloss die Tür auf und drehte mich zur Alarmanlage um, um sie auszuschalten. Aber sie war bereits aus. Huh? Das war ungewöhnlich.
»Susanna?«, rief ich und legte meine Handtasche auf den Treppenstufen ab.
Sie musste noch da sein, sonst wäre die Alarmanlage an gewesen. Vielleicht war sie noch nicht mit dem Abendessen fertig oder Dad hatte ihr wieder mal einen riesigen Stapel Hemden zum Bügeln gegeben. An einen Einbrecher oder etwas in der Art wollte ich gar nicht erst denken. Das hier war eine der sichersten Gegenden der Stadt. Einbrüche hatte es zuletzt vor zwei Jahren in den Sommerferien gegeben, als die ganzen Familien mit Kindern im Urlaub waren und irgendwelche Idioten ihre Balkontüren offen gelassen hatten.
Als ich den Lichtschein in der Küche entdeckte, atmete ich erleichtert auf. »Hey, was …« Abrupt blieb ich in der Tür stehen. »Dad?«
»Hey, Liebling.« Er sah von seinem Laptop auf und nahm die Brille ab. »Wie war die Arbeit?«
Ich blinzelte verdutzt. Was um alles in der Welt machte mein Vater schon hier? Es war gerade mal kurz nach neun, höchstens halb zehn, und Dad war nie so früh zu Hause. Wenn überhaupt. Obwohl sich das seit unserer Aussprache geändert hatte. Er arbeitete noch immer viel, versuchte aber, öfter und vor allem regelmäßiger zu Hause zu sein. Zweimal hatten wir sogar zusammen zu Abend gegessen, was irgendwie … schön gewesen war. Allerdings hatte er heute Morgen mit keinem Wort erwähnt, dass er früher heimkommen würde.
»Was ist los?«, fragte ich und ging zum Kühlschrank, um mir ein Glas Wasser einzugießen.
»Ich hab mir ein bisschen Arbeit mit nach Hause genommen, weil ich nicht genau wusste, wann du vom Coffeeshop zurückkommst.« Er klappte den Laptop zu und stand auf. »Übrigens hast du Post.«
»Hm?«, machte ich und trank ein paar Schlucke, ehe ich das Glas absetzte und den Umschlag, den er mir hinhielt, aus zusammengekniffenen Augen musterte. »Was ist das?«
Er lächelte. »Sag du es mir.«
Als ich den Absender erkannte, überschlug sich mein Magen, und mein Herz begann zu rasen. Der Brief war vom West Florida Media & Arts College. Und es war kein dünner Umschlag wie bei den bisherigen Absagen. Bedeutete das etwa …?
»Und da ist noch einer.« Dad hielt den zweiten Brief hoch, noch bevor ich den ersten geöffnet hatte, und drehte ihn in der Hand. Auch das war kein dünner Umschlag. »Von einem gewissen Terrence College in Austin, Texas.«
Heilige Scheiße. Ich musste mich setzen.
Blindlings ging ich um die Kochinsel herum und tastete nach den Stühlen am Frühstückstisch, zog einen hervor und ließ mich daraufplumpsen.
»Teagan!« Dad war sofort bei mir und ging neben mir in die Hocke. »Alles in Ordnung, Liebling?«
Ich nickte, da ich kein einziges Wort über die Lippen brachte. Auch ohne die Briefe geöffnet zu haben, wusste ich, dass ihr Inhalt über mein ganzes weiteres Leben entscheiden würde. Völlig egal, ob es sich dabei um Zu- oder Absagen handelte. Was auch immer darin stand, würde meine Zukunft bestimmen. Und obwohl ich in den letzten Wochen und Monaten nur darauf gewartet und einen Moment wie diesen herbeigesehnt hatte, war ich mir plötzlich überhaupt nicht mehr sicher, ob ich dafür bereit war.
Alles würde sich ändern. Mein Zimmer wäre nicht mehr mein Zimmer. Ich würde nicht mehr in meinem Bett schlafen, sondern ganz woanders. In einer anderen Stadt, einem anderen Haus. Bei fremden Menschen, die sich dieselbe Wohnung und dasselbe Wohnheim mit mir teilten. Ich würde nicht länger im Coffeeshop arbeiten und mit Charlies stoischer Ruhe konfrontiert werden, wann immer ich mich tödlich über irgendwelche Idioten aufregte. Es würde keine monatlichen Abendessen mit der ganzen Familie mehr bei meinen Großeltern geben, weil ich viel zu weit weg wohnen würde. Und ich würde Dad noch seltener sehen als ohnehin schon. Wie seltsam, dass ich ausgerechnet jetzt daran denken musste, wo mir genau diese Tatsache bisher doch nichts ausgemacht hatte. Im Gegenteil. Ich war froh gewesen, die Freiheit zu haben, kommen und gehen zu können, wie ich wollte, und tun zu können, was immer mir in den Sinn kam. Vor allem um die vielen abendlichen Stunden im Livestream, während derer ich zocken und fluchen und mit meinen Zuschauern reden konnte, ohne mir Ge­danken darüber machen zu müssen, dass Dad mich hören könnte.
Ich schluckte. Nach diesem Sommer würde auch das nicht länger zu meinem Leben gehören, weil ich dann vermutlich nicht mehr den Platz, das Equipment und die Zeit haben würde, um noch weiter zu streamen. Dann wäre es vorbei damit, Lara stundenlang durch die ganze Welt zu jagen, neue Games anzutesten und online mit Parker zu spielen.
Von irgendwoher tauchte ein Glas mit einer dunklen, perlenden Flüssigkeit darin auf. Mechanisch griff ich danach und trank es bis zur Hälfte aus. Erst danach, als sich der süße Geschmack in meinem Mund ausbreitete, realisierte ich, dass es Cola gewesen war.
Dad nahm mir das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch. »Besser?« Auf seiner Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet und er musterte mich besorgt.
Ich nickte und musste mich räuspern, um meiner Stimme wieder etwas Kraft zu verleihen. »Danke. Ich war … bin … ich bin nur überrascht.«
Er lächelte nachsichtig und rieb mir ein wenig ungelenk über den Rücken. »Das ist ziemlich aufregend, hm?«
Wieder ein Nicken. »Versuchs mit beunruhigend. Furchterregend. Grausam.«
Er zog eine Grimasse. »Na komm. So schlimm kann es nicht sein, oder?«
»Doch. Das ist dasselbe Gefühl, wie wenn man in einem Spiel plötzlich eine Arena betritt – und komplett unvorbereitet ist. Die Musik ändert sich und wird super dramatisch. Überall liegen Munition und Heilmittel herum. Und du wartest nur darauf, dass der Bossgegner auftaucht und dich niedermetzelt.«
Irgendwie rechnete ich damit, dass Dad mich ganz konfus anstarren oder das Ganze mit einem Lachen abtun würde. Er wusste ja nicht, wie das war, in einem spannenden Game gegen einen übermächtigen Gegner antreten zu müssen, während man ganz allein zu Hause und total tief im Spiel versunken war. Aber zu meiner Überraschung lachte mein Vater nicht.
Er wirkte zwar etwas irritiert, sagte aber nichts zu meinem Vergleich, sondern rieb mir nur weiter über den Rücken. »Willst du nicht reinschauen und herausfinden, was sie ­sagen?«
Doch. Nein. Gott, ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur eines: Nichts konnte schlimmer sein als diese Ungewissheit. Dieser Schwebezustand und dieses Nichtwissen waren das Letzte. Dann lieber die Wahrheit erfahren, auch wenn sie wehtat. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, wenn mich das WFMAC und das Terrence College am Ende beide ablehnten, aber es zu wissen, war immer noch besser, als sich ständig zu fragen: was wäre, wenn?
Also nickte ich auf Dads Frage hin und setzte mich auf.
»Hier.« Er hielt mir beide Umschläge hin.
Ich zögerte. Zuerst der Brief aus Texas? Oder der aus Pensacola, einer Stadt, mit der mich jetzt schon mehr verband als mit jedem anderen Ort der Welt – von meiner Heimat mal abgesehen. Ich atmete tief durch, schnappte mir den Umschlag vom Terrence College und riss ihn auf.
Sehr geehrte Miss Teagan Ramona Scott,
vielen Dank für Ihre Bewerbung für den Studiengang Game Design. Ihre Bewerbungsmappe und Ihr Anschreiben haben uns sehr beeindruckt, sodass wir uns freuen, Ihnen heute mit Beginn des kommenden Semesters einen Studienplatz am Terrence College in Austin, Texas, anbieten zu können.
Oh. Mein. Gott. Oh mein Gott! Ich starrte auf die Buchstaben. Dann zu Dad. Dann wieder auf den Brief, aber die Nachricht blieb dieselbe.
»Und? Und??«, fragte er und klang dabei so ungeduldig, als würde es sich um seine eigene Collegebewerbung handeln.
»Ich … sie … Sie wollen mich«, stieß ich hervor. »Sie bieten mir einen Studienplatz an.«
»Das ist großartig, Teagan! Ich bin so stolz auf dich.«
Bis eben war ich mir absolut sicher gewesen, dass mich nichts noch mehr schockieren konnte als die Zusage aus Texas. Doch jetzt belehrten mich Dads Worte eines Besseren. Worte, von denen ich nie gedacht hätte, sie eines Tages aus seinem Mund zu hören.
Ich runzelte ungläubig die Stirn. »Wirklich …?«
»Aber natürlich!« Er starrte mich einen Moment lang verwirrt an, dann seufzte er leise. »Ich weiß, ich bin nicht besonders … besonders gut darin, es zu zeigen, und ich war lange gegen dieses Hobby, ähm, gegen diese Art von Studium, aber … Teagan, du hast es geschafft. Du hast alles darangesetzt, deine Noten zu verbessern, eine offenbar fantastische und vor allem überzeugende Bewerbungsmappe zusammengestellt und nebenbei auch noch gearbeitet. Und jetzt hast du die Zusage. Ich könnte gar nicht stolzer auf dich sein.«
Ich wusste nicht, ob ich ihm um den Hals fiel oder Dad mich in eine feste Umarmung zog – und letzten Endes spielte es keine Rolle. Zum ersten Mal seit … immer hatte ich das Gefühl, meinen Vater wiederzuhaben. Und zum ersten Mal fühlte es sich nicht so an, als ob Mom fehlte. Weil es genug war. Wir beide waren genug.
Er ließ mich los und strich mir in einer ungewohnten Geste über den Kopf. »Das ist das College, auf das du unbedingt gehen wolltest, oder?«
Ich nickte hastig, zögerte dann jedoch, als mein Blick auf den zweiten, noch ungeöffneten Umschlag fiel. Was, wenn mir das West Florida Media & Arts College eine Absage geschickt hatte? Wäre ich dann enttäuscht? Und was, wenn es eine Zusage war – auch wenn ich mich kaum traute, diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung zu ziehen. Was würde ich dann tun?
Dad hielt mir den Brief hin. »Willst du ihn nicht aufmachen?«
Ich atmete tief durch, dann griff ich mit zittrigen Händen danach und öffnete auch diesen Umschlag. Aus irgendeinem dämlichen Grund hämmerte mein Herz diesmal so viel schneller als bei dem Schreiben aus Texas. Dabei sollte das hier nicht wichtiger sein als die Zusage vom Terrence College. Absolut nicht. Trotzdem wurde mir gleichzeitig heiß und kalt, als das Logo des Colleges in Florida auf dem Briefkopf zum Vorschein kam.
Hastig überflog ich die Zeilen, las bis zu einer ganz bestimmten Stelle, dann zuckte mein Blick zurück an den Anfang.
»Und?«, hakte mein Vater nach und breitete ungeduldig die Hände aus. »Was sagen sie?«
Parker
»In nächster Zeit muss ich leider ein paar Streams ausfallen lassen«, verkündete ich so unbekümmert wie möglich und vermied dabei jeden Blick in Richtung Chat. »Aber keine Sorge, Leute, danach geht es in alter Frische weiter. Wir sehen uns in ein paar Tagen, spätestens aber in ein, zwei Wochen! Passt auf euch auf!«
Ich winkte in die Kamera, dann schaltete ich den Livestream aus. Ohne jede Erklärung. Ohne auch nur einen einzigen Grund zu nennen, warum die nächsten Livestreams nicht stattfinden und sehr wahrscheinlich weniger Videos als sonst auf YouTube erscheinen würden. Die Wahrheit war: Ich konnte und wollte meine Zuschauer nicht anlügen – und das würde ich automatisch tun, wenn ich mir irgendeine Geschichte ausdachte oder irgendeinen Bullshit von wegen Urlaub erzählte. Aber ich konnte ihnen auch nicht die Wahrheit sagen, weil ich die selbst noch nicht kannte. Weil ich mir noch immer nicht sicher war, ob ich sie überhaupt wissen wollte. Oder ob ich damit klarkommen würde.
Ächzend ließ ich mich in den Stuhl zurückfallen und rieb mir mit beiden Händen über das Gesicht. Hinter meiner Stirn pochte es wieder, aber ich versuchte es zu ignorieren. Genauso wie die ständige Müdigkeit und dass ich mich nur noch mit Kaffee und Energydrinks über Wasser hielt. Und mit Lincolns Energieriegeln. Mein Körper schrie vor Erschöpfung, und jeder einzelne Muskel tat mir weh. Gleichzeitig begannen meine Gedanken nun, da der Stream zu Ende war, wieder zu rasen und in jede mögliche und unmögliche Richtung zu wandern.
Wahrscheinlich sollte ich mich trotzdem hinlegen und wenigstens versuchen, ein paar Stunden Schlaf abzubekommen. Gleichzeitig fragte ich mich, wozu überhaupt. Es war ja nicht so, als würde ich tatsächlich schlafen können. Von erholsam ganz zu schweigen. Außerdem musste es mittlerweile nach zwei Uhr sein, da konnte ich die Nacht auch durchmachen.
Ich ließ die Hände sinken und drehte mich mit dem Stuhl, damit ich nicht mehr auf den inzwischen dunklen Monitor starren musste. Mein Blick fiel auf die gepackte Reisetasche auf dem Bett. Normalerweise schmiss ich nur ein, zwei T-Shirts, Zahnbürste und saubere Unterwäsche rein. Alles andere hatte ich zu Hause bei meinen Eltern. Diesmal war die Tasche deutlich voller. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange ich dort sein würde, also wollte ich lieber auf alles vorbereitet sein. Selbst darauf, nicht so bald wieder in die WG zurückzukehren.
Ich riss mich von dem Anblick los und versuchte das letzte bisschen Konzentration dafür aufzubringen, alles für meine Abwesenheit vorzubereiten. Auf den ganzen Social-Media-Kanälen Bescheid geben. Noch mal eine Info-Mail an meine beiden Moderatoren schicken. Sichergehen, dass alle geplanten Videos geschnitten und hochgeladen waren und zur eingestellten Zeit online gehen würden. Ein letztes Mal checkte ich meine Mails, aber dort hatte sich in den letzten Minuten nichts verändert Dann schaltete ich alles aus. Beide Rechner. Die Monitore. Die LED-Leiste.
Seufzend stand ich auf und nahm mein Handy vom Tisch. Während des Streams hatte es ein paarmal kurz aufgeleuchtet, aber ich war mitten in einem Egoshooter-Game gewesen und konnte mir keine Sekunde Ablenkung erlauben. Jetzt sah ich, dass ich drei ungelesene Nachrichten hatte.
Teagan
Hey, bist du da? Hast du kurz Zeit??
Teagan
Oh, ich sehe gerade, du streamst noch. Danach vielleicht?
Teagan
Ich muss unbedingt mit dir reden! Ruf mich an oder schreib mir, wenn du kannst, okay?
Mein Daumen schwebte bereits über dem Antworten-Button, doch dann zögerte ich – und verfluchte mich gleichzeitig in Gedanken für mein Zögern. Weil es keinen Grund dafür gab. Nur weil ich eine Weile nicht online sein würde, bedeutete das nicht, dass ich den Kontakt zu allen anderen Menschen einstellen musste. Schon gar nicht den zu Teagan. Aber … was sollte ich ihr sagen? Wie sollte ich ihr meine plötzliche Abwesenheit erklären, wenn ich es weder meinen langjährigen Zuschauern noch meinen Mitbewohnern erklären konnte? Dabei wollte ich es Teagan erklären, ich wollte mit ihr reden und ihr alles erzählen. Aber dann fiel mir wieder ein, was mir in den nächsten Tagen bevorstand. Was das für mich, meine Zukunft und die Menschen in meinem Leben bedeuten könnte. Und ich zögerte.
Mit einem stummen Fluch auf den Lippen schaltete ich das Handy aus, ohne die Nachrichten zu beantworten oder Teagan anzurufen. Ich würde mich später bei ihr melden. Später, wenn das alles vorbei war und ich hoffentlich wieder klar denken konnte. Aber nicht jetzt.
Nach einem letzten Rundumblick durch mein Zimmer schnappte ich mir die Reisetasche und die Autoschlüssel, schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer. In der Küche schrieb ich eine Nachricht an Cole, Sophie und Linc und heftete den Zettel für alle gut sichtbar an den Kühlschrank. Dann ging ich.
Die fast vierstündige Fahrt von Florida nach Alabama verbrachte ich wie in Trance. Die Straßen waren leer, sogar auf der Interstate war es mitten in der Nacht – oder eher sehr früh am Morgen – erstaunlich ruhig, und ich konnte ohne Pause durchfahren. Erst als ich in die Straße einbog, in der mein Elternhaus stand, realisierte ich, dass ich bereits angekommen war. Ich stellte den Wagen am Straßenrand ab, um Dad nicht zuzuparken, falls er schnell losmusste, um irgendwelche Besorgungen zu erledigen, schaltete den Motor aus und lehnte mich zurück.
Meine Augen brannten, meine Muskeln waren ganz steif vom vielen Sitzen, und in meinem Kopf war ein einziges Chaos und gleichzeitig komplette Leere. Vielleicht hätte ich mich doch vorher aufs Ohr hauen sollen, bevor ich ins Auto stieg, aber jetzt war es dafür zu spät. Ich war angekommen – und musste mich praktisch dazu zwingen, jetzt auch auszusteigen. Denn nun gab es kein Zurück mehr.
Die Sonne war schon vor einer Weile aufgegangen und blendete mich. Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Die Luft war feucht und frisch, obwohl sie schon jetzt die Wärme des kommenden Tages in sich trug. Vögel zwitscherten, und der Wind rauschte in den Bäumen. Als ich die Augen wieder öffnete, erkannte ich vereinzelte Sterne und einen halben Mond am Himmel. Wann war ich das letzte Mal um diese Uhrzeit draußen gewesen? Ich konnte mich kaum daran erinnern. Und obwohl diese ganze Szenerie etwas Beruhigendes hatte, wurde ich das mulmige Gefühl im Bauch nicht los. Nicht, als ich meine Tasche aus dem Wagen holte und ihn abschloss. Nicht, als ich auf mein Elternhaus zuging, die Tür öffnete und es betrat. Und auch nicht, als ich in der Tür zur Küche stehen blieb und meinen Vater in seinem dunkelblauen Morgenmantel am Tisch sitzend vorfand. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben und gab keinen Ton von sich, aber seine Schultern bebten.
Alles in mir erstarrte.
»Dad …?«
Er hob den Kopf und starrte mich an. Seine Augen waren gerötet, und er hatte tiefe Ringe darunter. Auf seinen Wangen schimmerten Tränen.
»Donovan?«, krächzte er.
Ich machte einen Schritt in die Küche hinein. Die Reisetasche fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden. Ich hatte nicht mal gemerkt, dass ich sie losgelassen hatte. »Was ist passiert?«, stieß ich hervor, auch wenn ich die Antwort darauf überhaupt nicht hören wollte. Ich wollte ja nicht mal darüber nachdenken. »Ist Mom …?«
Mein Vater schüttelte den Kopf und wischte sich mit zittrigen Fingern über die Wangen. »Es geht ihr … gut. Zumindest so gut es ihr gehen kann«, fügte er rau hinzu und zog die Nase hoch. »Letzte Nacht ist sie aufgewacht und durchs Haus geirrt. Ich habe sie nicht gehört, bis sie … Sie ist die Treppe runtergefallen.« Mit beiden Händen rieb er sich über das Gesicht, als könnte er immer noch nicht fassen, was passiert war. »Ich … ich hab nicht aufgepasst. Wahrscheinlich hatte sie vergessen, dass dort die Treppe ist, oder sie hat Panik bekommen und ist auf den Stufen ausgerutscht.«
»Wo ist sie jetzt?«, fragte ich mit panisch hämmerndem Herzen.
»Oben. Sie schläft. Der Arzt war schon da und hat ihr etwas zur Beruhigung gegeben.« Dad starrte mich aus blutunterlaufenen Augen an. »Sie hat nur ein paar Prellungen, aber es hätte so viel schlimmer ausgehen können. Und das nur, weil ich einen Moment nicht aufgepasst habe.« Die letzten Worte waren nur noch ein heiseres Flüstern.
Wahrscheinlich sollte ich ihm jetzt sagen, dass es nicht seine Schuld war. Dass das jedem hätte passieren können und wir Glück hatten, dass noch mal alles gut gegangen war. Doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Und wo Erleichterung darüber hätte sein sollen, dass meiner Mutter nichts passiert war, waren jetzt nur blanke Panik und ein einziger Gedanke.
Ich kann das nicht.
Ich hatte meinen Vater nie zuvor weinen gesehen. Weder damals, als die Diagnose kam, noch im Jahr darauf, als wir Grandpa beerdigten. Und auch nicht, nachdem er seinen Job als Feuerwehrmann aufgegeben hatte, um rund um die Uhr für seine Frau da sein zu können – einen Job, den er immer mit ganzem Einsatz und vollkommener Überzeugung gemacht hatte. Aber jetzt hatte er geweint. Er war völlig am Ende. Wie zum Teufel sollte ich da noch eins draufsetzen und mit ihm über die Symptome reden, die ich seit einigen Wochen hatte? Wie um alles in der Welt sollte ich ihm das antun – und damit alles nur noch schlimmer machen?
Nein. Das war nicht fair, und ich weigerte mich, ihm das anzutun. Ich weigerte mich, es einem anderen Menschen anzutun, so mit mir zugrunde zu gehen. Aber vor allem weigerte ich mich, es Teagan anzutun. Die Erkenntnis traf mich vollkommen unvorbereitet, und für einen Moment war das panische Hämmern meines Herzens alles, was ich noch wahrnehmen konnte.
Das Ticken der Küchenuhr war das Erste, was wieder in mein Bewusstsein drang. Gefolgt von der gepressten Atmung meines Vaters, der noch immer zusammengesunken am Tisch saß. Fertig. Hilflos.
Also sagte ich nichts. Schweigend ging ich in mein altes Zimmer, packte meine Reisetasche aus, sah nach Mom, kümmerte mich um den Haushalt und besorgte eine Sicherung für die Treppe, damit so etwas wie letzte Nacht nie wieder passieren konnte.
Und ich ignorierte jede einzelne Nachricht, die in den folgenden Stunden auf meinem Handy einging.