Level 23
Parker
Können wir bitte reden? Komm schon, gib mir wenigstens ein Lebenszeichen!
Ich starrte auf die letzte Nachricht von Teagan. Inzwischen hatte ich sie so oft gelesen – genau wie all die anderen, die sie davor geschickt hatte –, dass sich jedes einzelne Wort in mein Hirn eingebrannt hatte. Jedes Mal, wenn mein Handy mit einer neuen Nachricht von ihr aufleuchtete, schwebte mein Daumen sofort über dem Textfeld, um ihr zu antworten. Um ihr alles zu erzählen – oder wenigstens … irgendetwas. Und jedes Mal gab ich klein bei und verschob es auf später. Auch jetzt steckte ich das Handy weg. Ohne zu reagieren. Wieder mal. Auch wenn mir das zunehmend schwerer fiel.
Aber was zum Teufel sollte ich ihr sagen? Dass ich gerade in einer verdammten Praxis in meiner Heimatstadt in Alabama auf einem unbequemen Stuhl saß und darauf wartete, gleich mit dem Arzt zu sprechen, der meiner Mom vor sieben Jahren die Diagnose und damit auch ihr Todesurteil verkündet hatte? Wie damals nicht nur für sie, sondern auch für meinen Vater eine Welt zusammengebrochen war und wie sehr er sich seither verändert hatte? Sollte ich ihr davon erzählen, dass ich mich innerlich bereits auf die Sprach- und Gedächtnistests einstellte, genauso wie darauf, in eine Röhre gesteckt zu werden, weil niemand so genau wusste, was mit mir los war, es aufgrund meiner Familiengeschichte aber eine starke Vermutung gab? Oder lieber davon, wie rapide abwärts es mit meiner Mutter in den letzten Monaten gegangen war?
In den ersten zwei Jahren nach der Diagnose war ihr Zustand noch einigermaßen stabil gewesen. Doch dann hatte sie sich verändert, war mal aggressiv und wütend, dann wieder erschreckend teilnahmslos geworden. Mittlerweile fiel es ihr schwer, klare Sätze zu formulieren oder sich an bestimmte Wörter zu erinnern. Und an den meisten Tagen fehlte ihr sogar das Wissen darum, dass sie verheiratet war und einen Sohn hatte. Sie konnte kaum allein gehen, weil ihre Beine sie nicht mehr trugen und ihre Muskeln zitterten, und seit sie auf der Treppe ausgerutscht war, war es nur noch schlimmer geworden, weswegen sich mein Vater pausenlos Vorwürfe machte.
Sollte ich Teagan etwa davon berichten?
Oder lieber davon, dass ich vor den ernsten, besorgten Gesichtern des Arztes, der Pfleger und Krankenschwestern fast noch mehr Angst hatte als vor der Diagnose selbst? Denn ich kannte diese mitleidigen Blicke. Scheiße, ich hatte sie alle schon gesehen, als Mom krank geworden war und ihre Diagnose bekommen hatte. Und als man uns nach Hause geschickt hatte, weil Frontotemporale Demenz nicht heilbar war. Wir taten zwar alles, um die Symptome zu lindern, aber die Krankheit selbst war nicht aufzuhalten. Wir konnten nur dabei zusehen, wie Mom sich von Tag zu Tag mehr verlor, bis ich kaum noch etwas von der Frau in ihr erkannte, die mich großgezogen hatte. Die mich geliebt und mir Gutenachtgeschichten vorgelesen hatte. Die mich dazu ermutigt hatte, alles werden zu können, was ich wollte. Die mir weisgemacht hatte, dass es keine Grenzen gab, dass nichts unmöglich war. Und jetzt war sie selbst an einer dieser Grenzen zerbrochen. Genau wie Dad. Genau wie ich.
Aber das musste nicht auch für Teagan gelten. Ich konnte sie aus dieser ganzen Sache raushalten. Sie musste das nicht mitmachen. Das hatte sie nicht verdient.
Seufzend rieb ich mir über die pochende Stirn. Der Kopfschmerz war mein ständiger Begleiter geworden. Mittlerweile hatte ich es aufgegeben, Schmerzmittel einzuwerfen, weil die sowieso nicht oder nur wenig halfen. Und genau das machte alles nur noch schlimmer. Nicht der Schmerz, sondern die Frage danach, was als Nächstes kam, wenn Medikamente jetzt schon kaum eine Wirkung zeigten. Ja, es waren bislang nur frei verkäufliche Schmerzmittel, aber trotzdem. Allein die Vorstellung, so viel Zeug einnehmen zu müssen wie meine Mutter, nur um noch eine kleine Weile ich selbst bleiben zu können, machte mich fertig. Und für wie lange? Ein paar Jahre? Nur um dann als jemand zu sterben, der nicht länger er selbst war. Der sich nicht länger an den Menschen erinnerte, der er gewesen war. Oder an die Menschen, die ihm wichtig waren.
Callie stieß mich mit der Schulter an und deutete auf die Tasche, in der mein Smartphone steckte. »Antworte ihr.«
Ich sah nicht mal zu ihr hinüber, sondern starrte weiter die weiße Wand vor mir an. »Nein.«
»Warum nicht?«
»Was soll ich ihr erzählen, hm?« Ich deutete um mich. »Sorry, ich kann gerade nicht, weil ich in einem Wartezimmer hocke und darauf warte, dass mir die Ärzte sagen, dass ich dieselbe Krankheit habe wie meine Mutter? Die übrigens unheilbar ist und nicht nur mein Leben, sondern auch das aller Menschen kaputt macht, die mir nahestehen?« Ich schnaubte. »Ja, klar.«
»Sie im Unklaren zu lassen, ist noch viel schlimmer«, beharrte Callie. »Lass dir das von jemandem sagen, der jahrelang nicht wusste, was los war. Keith hat mir nie die Wahrheit über den Unfall erzählt oder warum er damals gegangen ist. Nur deshalb war ich so lange wütend auf ihn, auf mich und auf die ganze Welt. Tu das Teagan nicht an. Ich weiß, dass sie dir wichtig ist.«
»Das ist sie …«
»Dann schreib etwas. Irgendetwas! Du kannst sie nicht einfach – «
»Donovan Parker?«, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme von der Tür her.
Wir sahen beide auf und zu der Arzthelferin mit dem grauen Dutt und der kleinen Brille, die schon seit Jahren hier arbeitete. Ich brauchte einen Moment, um mich an ihren Namen zu erinnern. Debra. Richtig. Als ich, gefolgt von Callie, aufstand und zu ihr ging, flackerte auch in ihren braunen Augen Erkennen auf.
»Parker.« Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie uns durch den Flur zu einem Behandlungszimmer führte. »Wie geht es Ihnen? Und Ihrer Mutter?«
Ich biss die Zähne zusammen. »Ganz okay«, antwortete ich unverbindlich und betrat den Raum.
Debra nickte lächelnd. »Der Doktor kommt gleich.«
»Danke«, erwiderte ich wie so viele Male zuvor und setzte mich auf einen der beiden Stühle vor dem massiven Schreibtisch.
Es kam mir weder seltsam noch unangenehm vor, dass Callie wie selbstverständlich neben mir Platz nahm. Schließlich war sie meine beste Freundin. Abgesehen davon hatten wir beide schon zu Beginn des Medizinstudiums mehr nackte Menschen, Krankheiten und Leichen gesehen, als uns lieb gewesen war. Das hier konnte sie nicht schocken. Und ich … Scheiße. Ich brauchte jemanden, der bei mir war. Jemand, der nicht direkt betroffen war, so wie Dad.
Als hätte Callie den gleichen Gedanken gehabt, drehte sie sich jetzt zu mir. Ihre Stirn war gerunzelt und ihre ganze Miene wirkte besorgt. »Bist du sicher, dass du deinem Vater nichts hiervon erzählen willst?«
Von dem Termin bei Moms behandelndem Arzt, weil ich die gleichen Symptome entwickelt hatte wie sie? Definitiv nicht. Es wäre auch so schon schwierig gewesen – aber nachdem ich ihn vor ein paar Tagen weinend in der Küche gefunden hatte? Auf keinen Fall. Das konnte und wollte ich ihm nicht auch noch antun. Also schüttelte ich nur den Kopf.
Callie seufzte leise, drängte mich aber nicht weiter. Sie kannte mich lange genug, um zu wissen, wann der Punkt erreicht war, an dem sie gegen eine Wand lief.
Schweigen breitete sich zwischen uns aus, was glücklicherweise nicht allzu lange anhielt, da gleich darauf die Tür aufging und ein großer, etwas korpulenter Mann mit Halbglatze und in einem weißen Kittel hereinkam und die Tür hinter sich zudrückte.
»Mr Parker«, begrüßte mich Dr. Russell und klang ein wenig überrascht, mich hier zu sehen, schüttelte aber erst mir und dann auch Callie die Hand. Wahrscheinlich hatte er nur den Nachnamen gelesen und sofort mit meinen Eltern gerechnet. Wie auch nicht? Mom war seit Jahren seine Patientin. Jetzt setzte er sich uns gegenüber und faltete die Hände auf dem Tisch. »Was kann ich für Sie tun?«
Ich zögerte. Bisher hatte ich alles irgendwie wie in Trance erlebt. Wie durch einen Schleier, der die Wirklichkeit von mir fernhielt, während ich mich dem Gedankenkarussell und dem ganzen Was-wäre-wenn hingab. Doch jetzt hier zu sein, in demselben Behandlungszimmer, in dem auch meine Mom schon so oft gewesen war, und mit demselben Arzt zu sprechen, war, als würde jemand diesen Schleier abrupt zerreißen. Und plötzlich war es nicht mehr nur eine Möglichkeit von vielen, hier zu sein – denn auf einmal war ich tatsächlich hier und öffnete den Mund, um Dr. Russell alles zu erzählen.
Callie schwieg die ganze Zeit über und sah zwischen mir und dem Arzt hin und her, mischte sich aber nicht ein.
Als ich fertig war, nickte Dr. Russell bedächtig und tippte etwas in den Computer ein. Vermutlich alles, was ich ihm gerade erzählt hatte. Vielleicht verglich er aber auch schon die Symptome meiner Mutter mit meinen eigenen. Ich schnaubte innerlich. Als ob ich das in Gedanken nicht schon tausendmal getan hätte.
»Es ist gut, dass Sie sofort hergekommen sind«, sagte er und tippte noch einige Worte, bevor er den Kopf hob. Wieder faltete er die Hände auf dem Tisch. »Ich nehme an, Sie wissen bereits, dass eine Frontotemporale Demenz nur in etwa zehn Prozent der Fälle weitervererbt wird. Da ich die Krankheitsgeschichte Ihrer Mutter jedoch kenne, werden wir diese Möglichkeit natürlich nicht ausschließen. Ich muss Sie aber auch darauf hinweisen, dass ähnliche Symptome nicht automatisch dieselbe Diagnose bedeuten müssen. Kopfschmerz ist zum Beispiel keines der üblichen Anzeichen für diese Krankheit«, erinnerte er mich nachsichtig.
»Ich weiß.« Ich zögerte, da sich alles in mir dagegen sträubte, zwang mich aber, die nachfolgenden Worte auszusprechen. »Aber bei meiner Mom hat es auch so angefangen: Unruhe, immer häufiger Kopfschmerzen, dann hat sie Sachen und Wörter vergessen, wurde aggressiv, wenn man sie darauf angesprochen hat …«
Dr. Russell nickte. Obwohl er sich freundlich und professionell gab, bemerkte ich den mitleidigen Ausdruck in seinen Augen. Und das war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. Mitleid brachte einen nur dazu, sich schwach und hilflos zu fühlen, weil man nichts tun konnte. Weil man gegen etwas ankämpfte, das nicht zu besiegen war, ganz egal, wie sehr man es versuchte.
Ich hasste dieses Gefühl.
Meine Beine zuckten nervös, und ich konnte mich selbst mit aller Willenskraft nicht dazu bringen, still zu sitzen. Trotzdem zwang ich mich dazu, dem Arzt zuzuhören.
»Wir werden ein paar Untersuchungen durchführen.« Dr. Russell suchte meinen Blick und wartete mein Nicken ab. »Angesichts Ihrer familiären Vorgeschichte und des Verdachts auf Frontotemporale Demenz empfehle ich eine umgehende Kernspintomografie. Außerdem können wir direkt mit Gedächtnis- und Sprachtests beginnen, um festzustellen, ob hier bereits Defizite vorliegen.«
Callie griff nach meiner Hand und drückte sie ermutigend.
Ich nickte, auch wenn sich mir allein bei der Aussicht auf all diese Untersuchungen der Magen umdrehte. Damals war ich bei einigen von Moms Terminen dabei gewesen, dadurch wusste ich zumindest teilweise, was auf mich zukam. Aber ich hatte den ersten Schritt gewagt und würde das Ganze jetzt auch durchziehen. Ganz egal, was am Ende dabei herauskam.