Level 25
Parker
Ich starrte auf das Smartphone in meiner Hand und die letzten Nachrichten, die schon einen Monat her waren und auf die ich noch immer nicht geantwortet hatte. Zuerst hatte ich es nur vor mir hergeschoben, dann hatte ich Teagan nicht in diese Sache reinziehen wollen und war zu fertig mit den Nerven gewesen, als der Arztbesuch und die ersten Untersuchungen anstanden. Aber ich hatte mir noch immer ihre Livestreams angeschaut, hatte mitgefiebert, während sie Tomb Raider 3 durchspielte, mit dem vierten Teil namens The Last Revelation begann, hatte ihr dabei zugesehen, wie sie sich durch die Guild Wars PvPs metzelte, bei The Witcher immer mehr Quests erledigte, ihre Überlebenden bei Dead by Daylight hochlevelte und zig neue Spiele antestete, aber immer wieder zu ihren Lieblingsgames zurückkehrte. Ihre Stimme hatte mich so oft beim Einschlafen begleitet und mir dabei geholfen, die kreisenden Gedanken auszuschalten, wenn nichts anderes zu helfen schien.
Aber Teagan wusste von alldem nichts. Weil ich mich nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Weil ich ein verdammter Feigling war.
Seufzend legte ich das Handy weg und stand auf. Mein Zimmer in der WG kam mir auf einmal so groß vor. Was daran liegen könnte, dass ich die letzten Wochen hauptsächlich in meinem alten Kinderzimmer verbracht hatte, aus dem ich schon mit vierzehn rausgewachsen war. Das Bett war zu klein, und ich stieß mir ständig den Kopf an den Dachschrägen. Allerdings war nichts anderes infrage gekommen. Bei den Symptomen, die ich zeigte, war Moms langjähriger Arzt die einzige Möglichkeit gewesen. Dr. Russell hatte alles getan und alle möglichen Untersuchungen angewiesen, aber nicht mal er konnte Himmel und Erde derart in Bewegung setzen, dass die Ergebnisse des MRTs und der anderen Tests schneller kamen. Am Ende hatte es rund vier Wochen gedauert, bis er mir eine Diagnose hatte geben können. Und die war gleichzeitig erleichternd, aber auch unglaublich frustrierend gewesen.
Ich schüttelte den Kopf bei der Erinnerung daran, wie ich zum wiederholten Mal mit Callie im Sprechzimmer gesessen hatte. Meine beste Freundin hatte darauf bestanden, mich zu jedem einzelnen Termin zu begleiten, sei es in die Praxis oder ins örtliche Krankenhaus. Ein paarmal war ich auch mit nach Summerville gefahren und hatte in der Wohnung gepennt, die sie sich mit Keith teilte. Obwohl ich den Typen nicht wirklich gut kannte, schien er in Ordnung zu sein, und alles dafür zu tun, um Callie glücklich zu machen. Und das war meiner Meinung nach das Einzige, was zählte.
Wie von selbst landete mein Blick wieder auf dem Handy, das auf der Matratze lag. Shit. Ich sollte Teagan schreiben. Das sollte ich wirklich. Aber … hatte es überhaupt noch einen Sinn? Ich hatte mich wie das letzte Arschloch verhalten, indem ich all ihre Nachrichten ignoriert hatte. Aber wenn ich es ihr erklärte … Fuck. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie reagieren würde. Oder ob sie überhaupt irgendeine Erklärung von mir hören wollte. Gut möglich, dass sie mich längst abgeschrieben und vergessen hatte. Das neue Semester hatte vor ein paar Tagen begonnen, und Teagan könnte jetzt sonst wo auf der Welt sein. Ich hoffte nur, dass sie an einem ihrer Wunschcolleges studierte und nicht an irgendeiner Uni irgendein beliebiges Hauptfach belegt hatte, nur um ihren Vater zufriedenzustellen.
Gedämpfte Stimmen waren zu hören und lenkten meine Aufmerksamkeit Richtung Zimmertür. Ich war erst vor wenigen Minuten aus Alabama zurückgekehrt und da wie durch ein Wunder alle zu Hause waren, hatte ich meine Mitbewohner um ein kurzes Gespräch im Wohnzimmer gebeten. Wenn ich mich schon erklären musste – und das musste ich nach der Nummer, die ich abgezogen hatte –, dann fing ich am besten direkt bei ihnen an.
Ich atmete tief durch, fuhr mir mit etwas zittrigen Fingern durchs Haar, dann setzte ich mich in Bewegung.
Die gesamte WG hatte sich im Wohnzimmer versammelt. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal alle so zusammengesessen hatten. Eliza war mittlerweile aus Australien zurückgekehrt und lehnte jetzt an der Fensterbank, während Lincoln es sich im Sessel bequem gemacht hatte und Cole und Sophie sich die Couch teilten. Als ich hereinkam, blickten sie alle fast gleichzeitig auf. Erwartungsvoll. Fragend. Vielleicht auch etwas besorgt. Aber obwohl ich wochenlang verschwunden gewesen war und ihnen nur einen Zettel mit einer kurzen Nachricht hinterlassen hatte, sah ich keine Vorwürfe in den Augen meiner Mitbewohner. Und das gab mir den Mut, einen der Hocker heranzuziehen und mich so daraufzusetzen, dass ich sie alle ansehen konnte.
»Es tut mir leid.« Das war das Erste, was mir über die Lippen kam. Auf der ganzen Fahrt von Alabama zurück hierher hatte ich darüber nachgedacht, was ich sagen, wie ich es ihnen erklären könnte, aber mir war nichts eingefallen. Womöglich war es gar nicht so schlecht, erst mal mit einer Entschuldigung zu beginnen. »Es war beschissen von mir, einfach ohne Erklärung abzuhauen.«
»Was war überhaupt los?«, wollte Liz wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Hautton war um einiges dunkler als bei ihrer Abreise – offenbar hatte sie trotz Winterzeit in Australien ein bisschen Sonne abbekommen.
Cole sah von ihr zu mir und kniff die Augen zusammen. »Parker hat uns einen hübschen Zettel in der Küche angepinnt und war dann einfach weg. Keine Erklärung. Kein Anruf. Keine weiteren Nachrichten. Nichts.«
Ich verzog das Gesicht. Scheiße. Irgendwie hatte ich gehofft, dass mir das erspart bleiben würde – aber es war ja nicht so, als könnte ich Coles Wut nicht nachvollziehen.
»Ich wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht«, murmelte ich und merkte selbst, wie beschissen das klang.
»Tja, dumm gelaufen, Kumpel«, konterte Cole. »Du hast ja vielleicht nicht damit gerechnet, aber wir haben uns Sorgen gemacht, als du plötzlich wie vom Erdboden verschwunden warst und nicht auf unsere Nachrichten reagiert hast. Nicht mal auf die von Sophie!«, warf er ein und starrte mich an, als würde er mir jeden Moment den Hals umdrehen wollen.
Sophie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Cole …« Ihre Stimme war leise und warnend. Trotzdem schien er sich etwas zu beruhigen. Seine Schultern sanken ein Stück herab, und er riss den mörderischen Blick von mir los und richtete ihn demonstrativ auf die Wand.
»Ich weiß, dass es scheiße von mir war«, erwiderte ich. »Und ich kann verstehen, dass ihr sauer seid. Ich … ich musste ein paar Dinge klären.«
Lincoln lehnte sich im Sessel vor. »Und das konntest du uns nicht einfach sagen? Wir sind doch nicht bloß Mitbewohner, Mann. Wir sind deine Freunde.«
Shit. Shit . Das wusste ich. In dem Moment war es … einfacher für mich gewesen, die Sache allein durchzuziehen. Wahrscheinlich hätte ich sogar Callie rausgehalten, wenn sie nicht bereits gewusst hätte, was bei mir zu Hause los war. Dass sie mich zu allen Terminen begleitet hatte, war ihre Entscheidung gewesen, nicht meine. Und niemand konnte Calliope Robertson aufhalten, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Ich stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ die Hände baumeln. Einen Moment starrte ich nur darauf, wartete und rechnete geradezu damit, dass die Unruhe zurückkehren würde, meine Beine auf und ab wippen würden oder ich gleich aufsprang, um diese Rastlosigkeit loszuwerden. Doch die Wahrheit war, dass ich einfach nur erledigt war.
»Meine Mom ist krank«, sagte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob sie es überhaupt gehört hatten. »Und eine Weile dachte ich, ich hätte dasselbe wie sie. Deshalb bin ich gegangen. Ich war zu Hause und hab mich untersuchen lassen.«
Stille. Geschocktes Schweigen.
Schließlich war es Sophie, die bis an den Rand des Sofas rutschte und die Hände auf meine legte. »Was ist dabei herausgekommen?«
Einen Moment lang starrte ich nur auf unsere Hände und musste absurderweise daran denken, dass Teagans Hände ganz anders aussahen und sich auch völlig anders angefühlt hatten, dann riss ich mich zusammen und hob den Kopf. »Ich bin krank«, stieß ich heiser hervor. »Aber es ist nicht das, was meine Mom hat. Es ist keine Form von Demenz, sondern Burnout.«
Zum ersten Mal hatte ich die Worte nicht nur gedacht, sondern laut ausgesprochen. Und es fühlte sich auf seltsame Weise erleichternd an, auch wenn es mich noch immer ankotzte. Wie konnte ich gleichzeitig erleichtert und wütend über diese Diagnose sein? Ich kapierte es einfach nicht.
Ich sah in die Runde, blickte nacheinander in die Gesichter meiner Mitbewohner und Mitbewohnerinnen und las Erstaunen, Überraschung, aber auch Besorgnis darin.
Cole ergriff als Erster das Wort. »Was können wir tun?«
Ich starrte ihn an. Zugegeben, ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie dieses Gespräch laufen würde, aber mit so einer Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Schon gar nicht von Cole, der bis eben noch so angepisst gewesen war, dass er mich nicht mal mehr hatte ansehen wollen. Und jetzt war ausgerechnet er derjenige, der mir Hilfe anbot? Womit zum Teufel hatte ich das verdient?
»Ich könnte mich um die ganzen Mails kümmern, die du ständig bekommst«, bot Sophie an. »Du weißt schon, sie ­sortieren, die weniger wichtigen für dich beantworten, Termine arrangieren und so weiter. Dann hast du damit weniger Stress.«
Cole nickte ihr zu, dann wandte er sich wieder an mich. »Du hast viel zu wenige Moderatoren in deinen Streams. Das ist mir schon früher aufgefallen, aber du hast nie etwas gesagt, also …« Er zuckte etwas hilflos die Schultern. »Ich kann das übernehmen, wenn du willst. Und ich kenne ein paar Leute aus meinem Studiengang, die das sicher auch gerne machen würden. Dann musst du dich nicht mehr mit irgendwelchen blöden Trollen herumschlagen und kannst auch anderen Orgakram mal abgeben.«
»Gute Idee«, kam es von Liz, die jetzt die Arme herunternahm und sich mit den Händen auf der Fensterbank hinter ihr abstützte. »Ich glaube zwar nicht, dass du viel zu programmieren hast, was ich übernehmen könnte, aber deine Thumbnails auf YouTube sind echt nicht die schönsten, Kumpel.« Scheinbar bedauernd schüttelte sie den Kopf und deutete mit dem Daumen auf sich. »Also überlass das lieber dem Profi. Das ist so ein Zeitfresser, und am Ende kommt bei mir eh das bessere Ergebnis raus.«
Ungläubig sah ich von einem zum anderen. »Das meint ihr nicht ernst, oder?«
»Und wie wir das ernst meinen.« Lincoln stand auf und klopfte mir auf die Schulter. »Du konzentrierst dich jetzt darauf, dass es dir besser geht, und wir kümmern uns um den Rest. Dein Zeitmanagement und die Buchhaltung zum Beispiel. Lass mich da mal ran. Ich bringe Ordnung in dein Chaos.«
Shit. Ich hatte keine Ahnung, was ich dazu sagen oder wie ich darauf reagieren sollte. Ich war ohne jede Erwartung in dieses Gespräch gegangen und hatte lediglich gehofft, dass sie nicht bis in alle Ewigkeit sauer auf mich sein würden. Aber das? Das war weit mehr, als ich jemals erwarten, geschweige denn verlangen könnte.
Langsam stand ich auf. »Ihr müsst das nicht tun, Leute. Wirklich nicht. Ich krieg das schon hin.«
Zumindest mit etwas Hilfe von Dr. Russell und der Therapeutin, die er mir hier in Pensacola organisiert hatte und zu der ich nun regelmäßig gehen würde.
Kopfschütteln auf allen Seiten.
»Erzähl keinen Scheiß, Mann.« Auch Cole sprang jetzt auf. »Dafür sind Freunde schließlich da.«
»Warum diskutieren wir überhaupt noch darüber?«, rief Liz von der Tür aus und war gleich darauf verschwunden.
Sophie folgte ihr schulterzuckend, machte dann aber noch eine Kehrtwende und kam zu mir zurück. Obwohl sie kleiner und so viel schmaler war als ich, packte sie mich bei den Schultern und schüttelte mich. »Tu so etwas nie wieder! Verstanden?«
Meine Mundwinkel zuckten. »Verstanden, Chief.«
Sie musterte mich aus zusammengekniffenen Augen, und was auch immer sie in meinem Gesicht fand, ließ sie zufrieden nicken. Dann ging sie, gefolgt von Cole, bis nur noch Linc und ich zurückblieben.
»Eins noch«, sagte er und hielt mich auf.
»Ja?« Ich drehte mich zu ihm um und hob fragend die Brauen.
Lincoln zögerte, und ich konnte ihm ansehen, dass ihm das, was auch immer er gleich sagen würde, nicht leichtfiel. »Sie ist hier.«
Ich erstarrte. Alles in mir erstarrte, sogar mein verdammtes Herz. »Was soll das heißen?«
»Teagan ist hier.«, wiederholte er und betonte dabei jede einzelne Silbe. »Sie hat am WFMAC angefangen. Ich hab sie letzte Woche zufällig auf dem Campus getroffen, als …«
Seine letzten Worte gingen in dem Rauschen in meinen Ohren unter. Teagan ist hier. Wieder und wieder spulte mein Kopf diesen Satz ab, bis seine Bedeutung langsam zu mir durchsickerte. Teagan war hier. In Pensacola. Am College. Sie studierte hier. Sie war hier. Und diesmal nicht nur für einen kurzen Besuch.
Fassungslos starrte ich Lincoln an. Das war nicht sein Ernst, oder? Er verarschte mich gerade nur. Denn wenn er das ­wirklich so meinte, wie es klang und Teagan tatsächlich in der Stadt war, hier lebte und studierte, dann … dann … Heilige Scheiße.