Level 26
Parker
Es war seltsam, nach so langer Zeit wieder die Rechner hochzufahren, die Monitore einzuschalten, Kopfhörer und Mikrofon zu testen und alles für den Livestream vorzubereiten. Seltsam, aber auch angenehm vertraut. Beruhigend. Selbst wenn ich mit einem ganzen Schwall an Fragen rechnete, auf die ich noch immer nicht vorbereitet war.
Ich war der lustige Typ, der Kerl ohne große Sorgen, der gerne Witze riss und auf möglichst unterhaltsame Weise die unterschiedlichsten Spiele zockte. Ernste Themen lagen mir nicht. Mich anderen gegenüber zu öffnen erst recht nicht. Ich schuldete den Leuten da draußen keine Einblicke in mein Privatleben, auch wenn ich mich nach wie vor dagegen sträubte, sie mit irgendeiner erfundenen Geschichte abzuspeisen. Aber Teagan … Teagan hatte die Wahrheit verdient, und daher jedes Recht, wütend auf mich zu sein und mir nicht mehr zu vertrauen. Scheiße, ich an ihrer Stelle würde das genauso wenig. Aber ich würde es wiedergutmachen. Ich würde ihr Vertrauen zurückgewinnen. Ich musste einfach. Selbst wenn ich noch keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte. Aber ich weigerte mich, sie einfach aufzugeben. Diesen Fehler hatte ich bereits einmal begangen und nicht vor, ihn zu wiederholen.
Wenige Minuten zuvor hatte ich auf allen Social-Media-Kanälen angekündigt, dass es gleich einen neuen Livestream geben würde. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Leute überhaupt dabei sein würden, schließlich war ich eine ganze Weile ohne jede Erklärung weg gewesen, und es gab genug andere Gamer, die verlässlicher streamten und guten Content lieferten. Verdammt. Wem machte ich hier etwas vor? Ich konnte froh sein, wenn heute nur ein Bruchteil meiner bisherigen Zuschauer auftauchte.
Bevor ich den Stream startete, warf ich einen kurzen Blick auf den Chat. Ich hatte meine Moderatoren, zu denen neuerdings auch Cole und Lincoln sowie zwei Kommilitonen von Cole zählten, gebeten, nichts zu filtern. Zumindest nicht, bis ich mir nicht einen ersten Überblick verschafft hatte. Schon jetzt ging es dort drunter und drüber – und es wurden immer mehr Leute.
Ich räusperte mich, atmete ein letztes Mal tief durch, dann ging ich live und winkte nach dem kurzen Intro in die Kamera. »Hey Leute. Lange nicht gesehen.«
Und schon explodierte der Chat:
Willkommen zurück!!
JAAAA!!! Parker ist wieder da!!
welcome home
Wo warst du so lange??
stimmt es, dass du und tr euch verkracht habt??
jetzt lasst ihn doch erst mal richtig ankommen!
»Sorry, dass ich mich so lange nicht hab blicken lassen«, sagte ich als Nächstes und sah wieder zur Kamera. »Privat war viel los, und ich musste mich um ein paar Dinge kümmern. Aber jetzt sind wir alle in alter Frische zurück und können wieder durchstarten. Ich bin sicher, ihr habt ganz viele Fragen … jepp, offensichtlich habt ihr die«, fügte ich mit einem kurzen Blick auf den Chat hinzu, »aber ich kann nicht wirklich viel sagen. Außer, dass so weit alles geregelt ist, was geregelt werden musste.«
geht’s dir gut??
hast du dich von TR getrennt?
Was ist passiert, Mann?
also ich mochte die schlampe ja noch nie …
TRGame streamt auch nicht mehr die haben sich ganz sicher verkracht
die tussi hat Parker gar nicht verdient
Okay. Das war der Punkt, an dem ich das ganze Thema rund um Teagan und mich nicht länger ignorieren konnte. Vielleicht hätten wir die Kommentare dazu von Anfang an filtern sollen, damit sie gar nicht erst im Chat auftauchten, doch dafür war es nun zu spät. Ganz egal, wie Teagan und ich gerade zueinander standen – ich würde nicht zulassen, dass meine Zuschauer sie durch den Dreck zogen und irgendwelche Lügen über sie verbreiteten. Die ganzen Gerüchte im Netz waren schon schlimm genug.
»Leute.« Ich sah geradewegs in die Kamera. Kein Lächeln. Keine Witzeleien. Nicht jetzt und nicht bei diesem Thema. »Hört bitte auf, gegen TRGame zu hetzen. Sie hat nichts Falsches getan. Ich bin derjenige, der Mist gebaut hat.«
oh nein …
Was ist passiert?
ich ahne böses …
Parker, alles klar?
OMG
was ist los??
Shit. Eigentlich hatte ich die Leute damit beruhigen wollen, aber wie es aussah, hatte ich es nur noch schlimmer gemacht. Fantastisch. Ich seufzte tief. Wie es aussah, kam ich aus der Nummer nicht mehr raus.
Aber zum ersten Mal … wollte ich das auch gar nicht. Bisher war mein Privatleben immer genau das gewesen: privat. Doch jetzt hatte ich es vermasselt und würde dazu stehen. Nicht nur vor meinen Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen oder vor Teagan, sollten wir jemals wieder miteinander sprechen, sondern auch vor meinen Zuschauern. Ich schnaubte leise. Waren ja nur um die sechzigtausend heute Abend. Aber sie hatten die Wahrheit genauso verdient wie alle anderen.
»Als ich TRGame das erste Mal getroffen habe, war sie nur irgendeine Gamerin, die mein Team im Guild Wars PvP zerfetzt hat. Vor allem mich«, fügte ich hinzu und musste bei der Erinnerung daran lächeln. Und das, obwohl ich damals so angepisst gewesen war und dieses verfluchte Todesstoß-Lama bis heute abgrundtief hasste. »Danach haben wir DbD zusammen gespielt, nicht nur im Stream, sondern auch außerhalb. Mit der Zeit hab ich TR besser kennengelernt und … ich hab mich in sie verliebt. Es war nicht geplant, ich hab nicht damit gerechnet, aber es ist einfach passiert. Und dann hab ich es versaut.«
OMG
was? wie??
Parker …
was ist passiert??
Also ich bin ja immer noch skeptisch …
Wie hast du es versaut?
omg Parker das tut mir so leid
Alles in mir wehrte sich dagegen, so offen über das zu sprechen, was passiert war. So offen über das, was in mir vorging, aber ich zwang mich dazu, es dennoch zu tun, weil es hier nicht mehr nur um mich ging, sondern um Teagan. Vor allem um sie. Und darum, den Gerüchten Einhalt zu gebieten und Teagan vor all diesen falschen Anschuldigungen und Unterstellungen zu schützen.
Ich räusperte mich. »Wahrscheinlich ist es dem einen oder anderen schon aufgefallen, aber ich rede nicht gern über Privates. Schon gar nicht über Probleme. Solche Dinge hab ich schon immer lieber mit mir selbst ausgemacht. Kleiner Tipp am Rande: Tut das nicht. Lernt aus meinen Fehlern und redet mit den Menschen in eurem Leben, die euch wichtig sind, okay? Vor allem, wenn es um ernste Themen geht.« Diesmal vermied ich den Blick auf den Chat und sprach einfach weiter. Ohne Pause. Ohne nachzudenken. »Ich hatte ein paar gesundheitliche Probleme und dachte, ich könnte mit niemandem darüber reden. Ich habe so gut wie alle Menschen, die mir wichtig sind, ausgeschlossen und ihnen nichts gesagt. Und glaubt mir, das ist keine gute Sache. Vor einer Weile habe ich einem Mädchen versprochen, sie niemals im Stich zu lassen, mich niemals einfach so von ihr abzuwenden. Aber genau das habe ich in den letzten Wochen getan. Ich bin der Böse in dieser Geschichte. Ich bin der Arsch. Und es tut mir aufrichtig leid.«
Der Chat explodierte geradezu vor Nachrichten und raste so schnell durch, dass ich kaum ein Wort davon erkennen konnte. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wie Cole, Linc und die anderen Mods das schafften. Zumal jetzt auch noch der private Chat mit den Moderatoren aufblinkte. Irgendjemand fragte, ob wir nun ein paar Schlagworte filtern sollten, damit die Leute nicht mehr so eskalierten und etwas Ruhe einkehrte. Ich tippte ein schnelles »Okay«, dann wandte ich mich wieder direkt an die Zuschauer.
»Mir tut es auch leid, dass ich euch nichts gesagt habe und einfach verschwunden bin. Das war nicht cool. Wenn ihr keinen Bock mehr auf mich habt, kann ich das gut verstehen. Aber wenn doch, dann verspreche ich euch, so etwas nie wieder zu tun. Ich kann nicht alles erzählen, was in meinem Leben so passiert, weil es auch andere Menschen betrifft, aber ich werde ab jetzt immer ehrlich zu euch sein. Versprochen.«
Und wieder rasten die Antworten nur so durch den Chat, diesmal vor allem in Form von unzähligen Emojis. Manche weinend, manche lachend, und ganz viele Herzen. Bei dem Anblick musste ich unweigerlich lächeln.
»So, und jetzt, wo wir das geklärt haben, machen wir eine kurze Pause und erholen uns davon. Bin gleich zurück«, sagte ich, nahm die Kopfhörer ab und stand auf.
Ganz automatisch hatte ich nach dem Handy gegriffen, das auf dem Schreibtisch neben der Tastatur lag. Bis eben hatte ich nicht mal gemerkt, dass ich unbewusst auf eine Reaktion gehofft hatte, aber als ich auf das Display sah, spürte ich die Enttäuschung umso deutlicher. Teagan hatte sich nicht bei mir gemeldet. Höchstwahrscheinlich schaute sie gerade nicht mal zu. Dafür trudelte jetzt eine neue Nachricht von einer ganz anderen Person ein und ließ mich mitten im Flur innehalten.
Callie
Hab das eben im Livestream gesehen. Ich bin stolz auf dich, Donovan Parker!
Ich grinste, weil das so typisch für meine beste Freundin war. Das Antworten würde ich allerdings auf später verschieben müssen, denn jetzt warteten ziemlich viele Leute auf mich.
Mit den Worten »Sorry für die Unterbrechung« kehrte ich wenige Minuten später vor die Kamera zurück und setzte die Kopfhörer auf. »Ich schwöre, ich hab mich nicht im Bad eingeschlossen, um zu heulen«, witzelte ich und hielt zum Beweis meine Einhorntasse in die Höhe. »Damit können wir jetzt weitermachen. Uuund ich schlage vor, wir beginnen heute mit einer Runde Dead by Daylight. Mal sehen, ob irgendjemand online ist, mit dem wir zocken können«, fügte ich hinzu und trank einen Schluck von meinem Kaffee.
Dann startete ich auch schon das Spiel. Nicht nur, um die Zuschauer von meinem kleinen Geständnis eben abzulenken, sondern auch, um mich selbst davon abzulenken. Und von dem Gedanken, dass jetzt so viele Menschen etwas so Intimes über mich wussten. Über Teagan und mich.
Vielleicht hätte ich besser die Klappe halten sollen, aber … ganz ehrlich? Das hatte ich mein Leben lang gemacht. Und wo hatte es mich hingeführt? Nirgends. Die Wahrheit zu sagen, war die richtige Entscheidung gewesen, selbst wenn ich meinen Zuschauern nicht alles erzählen konnte und wollte. Das mit meiner Mom zum Beispiel. Das war nicht bloß privat, sondern etwas, von dem ich wusste, dass Mom und Dad nicht wollten, dass überhaupt jemand außer ihnen davon erfuhr. Dafür waren sie viel zu stolz. Aber auch wenn ich nicht alles hatte erzählen können, fühlte ich mich jetzt definitiv … besser. Leichter irgendwie. Selbst wenn ich noch immer keine Ahnung hatte, wie ich Teagan dazu kriegen sollte, mir zuzuhören.
Mittlerweile war ich in der Lobby bei Dead by Daylight und klickte auf den Spielmodus, bei dem man zusammen mit Freunden überleben musste.
»Schauen wir mal, wen wir zu einer Runde einladen können«, murmelte ich – und hielt im selben Moment mit dem Mauszeiger inne.
TRGame war online.
Mein Puls begann zu hämmern, und meine Hände wurden feucht. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken oder es irgendwie zu kommentieren, schickte ich ihr ebenfalls eine Einladung zu dieser Runde, und vermied jeden Blick in den Chat auf dem anderen Monitor. Nach ihren letzten Nachrichten machte ich mir ohnehin nicht besonders große Hoffnungen, dass sie dabei sein würde. Aber wenn doch …
Die ersten Überlebenden tauchten in der Lobby auf. Da war MarshallBrownie, ein YouTuber, den ich vor ein paar Jahren auf einer Convention kennengelernt hatte. Seither zockten wir immer mal wieder zusammen. Bisher hatte ich ihn allerdings noch nie bei DbD erlebt, und seinem Rang nach zu urteilen, spielte er das auch nicht allzu oft. Das dürfte interessant werden.
Als Nächster jointe Cole, der es irgendwie hinbekam, gleichzeitig zu spielen und den Chat zu moderieren. Zum Glück gab es für Letzteres mittlerweile genügend andere Leute, sodass ich mir keine Gedanken darum machen musste.
Der vierte Mitspieler – genauer gesagt, die vierte eingeladene Mitspielerin – ließ sich Zeit. Cole und MarshallBrownie waren schon bereit, aber ich zögerte noch damit, ebenfalls auf Bereit zu klicken. Weil ich noch immer wartete. Weil ich noch immer hoffte, auch wenn es total dämlich war. Welchen Grund hätte Teagan schon, jetzt zusammen mit uns, zusammen mit mir zu spielen? Wahrscheinlich war sie bereits mitten in einem anderen Game oder streamte gerade selbst oder … keine Ahnung.
Ich zögerte das Ganze noch zwei, drei Minuten hinaus, in denen ich mit den Leuten im Chat über alles Mögliche quatschte, dann klickte ich auf Bereit , damit die anderen genau wie die Zuschauer nicht noch länger warten mussten. Es war einen Versuch wert gewesen, oder?
»Was meint ihr? Schaffen wir es, dem Killer direkt in der ersten Runde zu entkommen?«, fragte ich und warf erst einen fragenden Blick Richtung Kamera, dann schaute ich zum zweiten Monitor, wo der Chat noch immer schnell durchlief, aber mittlerweile wenigstens wieder lesbar war.
Kommt drauf an, wer der Killer ist
nahh, du bist total aus der übung!
wahrscheinlich hängst du als erster
»Danke für euer Vertrauen.« Ich schnaubte. »Echt jetzt.«
Ich sah zurück zum anderen Monitor. Die Runde war noch nicht gestartet, weil uns noch immer ein weiterer Mitspieler und ein Killer fehlten. Manchmal ging es total schnell, an anderen Tagen wartete man eine Ewigkeit, bis man endlich loslegen konnte. Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee und wandte mich wieder dem Chat zu.
Popcorn steht bereit! Kannst dich töten lassen, Parker
also ich wette, parker überlebt
!!!!!!!!
Sie ist da
TRGAME IST DA
OMG OMG OMG
Ich verschluckte mich an meinem Kaffee und musste husten. Was zur Hölle …? Plötzlich raste mein Herz, und ich musste mich geradezu dazu zwingen, den Kopf zu drehen, um auf den anderen Bildschirm zu schauen.
Insgeheim rechnete ich damit, dass mich die Zuschauer gerade nur verarschten. Dass irgendjemand damit angefangen hatte und die anderen ganz schnell aufgesprungen waren. Doch dann hörte ich die typische Musik und das Herzklopfen, das zum Spiel gehörte und andeutete, dass es gleich losging. Gerade so erhaschte ich noch einen Blick auf unseren vierten und letzten Mitspieler, bevor der Bildschirm schwarz wurde und der Ladebalken erschien.
Es war Teagan.