Es fällt mir unendlich schwer, nicht zu lachen. Ich sitze meinen Eltern gegenüber auf der Wohnzimmercouch und versuche, meine innere Grinsekatze zu bändigen. Schweigend mustern sie mich, und ich kämpfe, kämpfe, kämpfe mit aller Macht gegen den Impuls an, kreischend in die Luft zu springen und einen Freudentanz hinzulegen.
»Wir sind schrecklich enttäuscht, Rea«, sagt meine Mutter schließlich, und mein Vater nickt nachdenklich. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Constantin wollte schon die Polizei benachrichtigen!«
»Ich weiß, ich habe Mist gebaut«, entgegne ich viel zu überschwänglich. »Wir haben unterwegs ein paar Freunde getroffen und total die Zeit vergessen. Mein Handy habe ich vor lauter Aufregung in Amilas Auto liegen lassen, weil ich … ehm.« Ich gebe ein schrilles Fiepen von mir und eröffne mit strahlender Miene: »Also, um ehrlich zu sein, habe ich da jemanden kennengelernt!«
»Verzeihung, du hast dein Handy wo liegen lassen?«
»In Amilas Auto«, antworte ich meiner Mutter.
»Wir haben genug von deinen Lügen, Rea!« Papa verschränkt die Arme vor der Brust, seine Nasenlöcher blähen sich auf. »Du hast den Bogen maßlos überspannt!«
»Wovon redet ihr?«
»Wovon wir reden? WOVON WIR REDEN?!« Mama schüttelt zornig den Kopf. »Wir reden davon, dass du dich niemals mit Amila getroffen hast. Wir waren heute auf der Vernissage – erinnerst du dich noch? –, und zwar mit Amilas Eltern . Sie haben gesagt, dass Amila bei ihrer Verwandtschaft in Ar-Rayyan ist – ganz abgesehen davon, dass sie überhaupt keinen Führerschein hat!«
Mein Mund wird trocken, meine Hände kalt und klamm.
»Aber das ist noch nicht alles«, legt sie nach. »Wir haben am Abend, kurz nachdem du gegangen bist, einen Anruf von deiner Schule in Al Jasra erhalten. Du bist nur ein einziges Mal zum Sportunterricht erschienen. Die restlichen Stunden hast du einfach geschwänzt, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen.« Meine Mutter rauft sich die Haare und klingt auf einmal richtig verzweifelt. »Uns ist bewusst, dass der Umzug für dich schwierig gewesen ist, aber dass du unser Vertrauen dermaßen missbrauchst, schockiert mich.«
»Ich wollte nicht …«
»Was wolltest du nicht? Uns ins Gesicht lügen?«, zischt sie.
Ich greife zu meiner allerletzten Exit-Strategie: »I-ihr seid nie zu Hause.«
»Nein, Rea«, faucht Mama. »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass wir hart arbeiten. Das tun wir nämlich, damit wir dir ein Leben bieten können, das voller Freiheiten und Privilegien ist! Der Führerschein, das neue Auto, die Handys, die du so gerne mal zerschmetterst oder verlegst – das alles kommt nicht von irgendwoher!« Sie gibt ein verächtliches Schnauben von sich. »Mein Ratschlag: Beklage dich weniger darüber, dass deine Eltern tagtäglich schuften, um deinen Ansprüchen gerecht zu werden, sondern zeige zur Abwechslung mal ein bisschen Dankbarkeit!« Sie steht auf, und ich merke, dass sie mit der Fassung ringt. »Und ja, manchmal geht es etwas turbulenter zu, aber gerade dann sollte eine Familie zusammenhalten! Ich musste auch alles zurücklassen und von vorne anfangen. Glaubst du etwa, die Leute in diesem Land nehmen mich als Journalistin ernst?« Sie schluchzt leise auf. »Ich habe nicht die Kraft, mir obendrein noch ständig Sorgen um meine Tochter zu machen. Meine Tochter, die ich so sehr liebe und der … D-der es überhaupt nichts auszumachen scheint, auf meinen Gefühlen herumzutrampeln!«
Eine Welle überwältigender Schuld erfasst mich. »Das stimmt nicht! Ich habe dich sehr lieb, Mama«, krächze ich.
Papa hebt die Hand und bedeutet mir, still zu sein. »Geh schlafen, Carolin. Ich regele den Rest.«
Meine Mutter nickt. Tränen strömen ihr über die Wangen und sie wirkt auf einmal außerordentlich erschöpft.
»Du hast bis auf Weiteres Hausarrest«, eröffnet Papa, nachdem sie den Raum verlassen hat.
»Was?«, keuche ich. »Aber ich bin siebzehn . Ihr könnt mich doch nicht wegsperren!«
»Richtig, du bist erst siebzehn und lebst unter unserem Dach. Und solange das der Fall ist, gelten unsere Regeln.« Die Bedrücktheit in seiner Stimme lässt mich schwer schlucken. »Du kannst weiterhin am Theaterkurs teilnehmen, aber nur unter der Bedingung, dass du wieder zum Sportunterricht gehst«, setzt er fort.
»Nein! Auf keinen Fall.« Ich falte entsetzt die Hände zusammen. »Bitte, bitte schickt mich nicht zurück in diesen ALBTRAUM!«
»Es geht ums Prinzip, Rea. Du hättest mit uns reden können, stattdessen hast du es vorgezogen, uns über Wochen hinweg anzulügen. Heute bist du stundenlang nicht erreichbar gewesen – und dann tauchst du mitten in der Nacht in den Armen eines wildfremden Jungen auf! Die Zeit für Diskussionen ist abgelaufen.«
Nun kommen auch mir die Tränen, aber Papa lässt sich davon nicht beeindrucken.
»Abbas wird dich mittwochs und donnerstags von A nach B fahren. Spätestens zum Abendessen bist du wieder daheim. An den restlichen Tagen bleibst du genau hier und überdenkst deine Entscheidungen. Gute Nacht.« Er steht auf, schaltet das Licht aus und lässt mich im Dunkeln sitzen.
»Ach, und noch etwas.« Eine deutliche Warnung liegt in seinem Tonfall. »Diesen arabischen Casanova wirst du nicht wiedersehen.«
Ich wälze mich im Bett herum und denke an Shabahs Kuss. Noch nie im Leben bin ich glücklicher gewesen als in diesem einen Moment. Der Sturm seiner Lippen, diese unglaubliche Leidenschaft, dieser pure Ausdruck von Empfindung – ich hätte niemals gedacht, dass einem Kuss solch Bedeutung innewohnen kann.
Meine Eltern derartig kummervoll zu sehen, schmerzt hingegen bitterlich. Ich bin egoistisch gewesen, selbstmitleidig und obendrein auch noch ziemlich feige. Ich wünschte, ich hätte ihnen mehr Verständnis entgegengebracht, insbesondere meiner Mutter. Rückblickend verstehe ich überhaupt nicht, weshalb ich ihnen nicht einfach die Wahrheit gesagt habe. Ganz offensichtlich ist der Umzug für alle Beteiligten schwer gewesen und ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen meinerseits hätte bestimmt nicht geschadet.
Ich stöhne frustriert und stehe auf. Zu schnell, denn kurz wird mir schwindlig. Normalerweise bereitet Mama eine kleine Mahlzeit für mich vor, wenn ich spät nach Hause komme, aber heute musste ich hungrig ins Bett gehen. Verständlich. Lügende Töchter verdienen keinen Mitternachtssnack.
Mit knurrendem Magen und schwirrendem Kopf trete ich an das Fenster und ziehe den Vorhang zur Seite.
Wie sehr ich Shabah jetzt schon vermisse …
»Wir werden uns wiedersehen, das hat er versprochen«, sage ich tapfer. »Dann wird alles wieder gut.«
Vielleicht wirft er Kieselsteine an die Scheibe und klettert herauf in mein Zimmer? Nein, dafür ist das Gebäude zu hoch.
Vielleicht kommt er einfach zur Tür hineinspaziert, und meine Eltern sind so begeistert von ihm, dass sie unseren Streit vergessen? Nein, dafür müsste er unsere Wohnungsnummer haben – und die ist selbst mir nicht geläufig.
Vielleicht könnte ich ihn auf Social Media aufspüren? Oder im Telefonbuch? Nein, dafür müsste ich erst in Erfahrung bringen, wie er wirklich heißt.
Verdammt, ich kenne noch nicht einmal seinen Namen.
»Wirst du dich an dein Versprechen halten, Phantom?« Mein Atem beschlägt die Fensterscheibe, und mein Herz flüstert beklommen: Du kennst noch nicht einmal seinen Namen …
»Ronja, Roya, Rea – du machst mich noch wahnsinnig!« Frau Nasir (die sich meinen Namen immer noch nicht merken kann) schlägt das Geschichtsbuch zu und schickt ein Stoßgebet zum Himmel. »Andauernd glotzt du zum Fenster!« Sie watschelt durch den Raum und blickt hinter die mit Ornamenten überladene Kitschgardine. »Versteckt sich ein Dschinn hinter dem Vorhang? Wartest du darauf, dass ein Prophet durch das Fenster steigt? Gibt es hier zwischen Wand und Fenstersims einen Schlussverkauf von Dior? Oh Allah, dieses Kind bringt mich noch zur Weißglut!«
»T-tut mir leid, Frau Nasir«, murmele ich bedröppelt. »Ich kann mich heute nicht besonders gut konzentrieren.«
»Heute? Gestern habe ich dich gefragt, in welcher Galaxie sich der Polarstern befindet, und deine Antwort war Samsung. Samsung Galaxy.« Stimmt, das ist ein Low-Point gewesen. »Ich weiß, dass du Hausarrest bekommen hast«, setzt die alte Dame fort. »Von meiner Nichte habe ich erfahren, dass du sie als Alibi benutzt hast, um jemand anderen zu treffen. Und deine Eltern haben mir befohlen, auf keinen Fall einen – ich zitiere – arabischen Casanova in deine Nähe zu lassen. Willst du mir verraten, was das alles zu bedeuten hat?«
»Ist Amila sauer auf mich?«, frage ich. »Ich habe mein Handy verloren und konnte mich noch nicht bei ihr melden. Ich sehe sie erst übermorgen wieder.«
Frau Nasir seufzt leise. »Mach dir keine Sorgen um Amila. Sie hat bereits die waghalsigsten Theorien darüber aufgestellt, was du am Freitagabend getrieben hast, und fiebert deinen Berichten entgegen.« Mahnend hebt sie den Finger. »Aber setz meiner Nichte bloß keine Flausen in den Kopf!«
Es ist Dienstag – und noch immer keine Spur vom Phantom. Unmöglich zu sagen, wie viele qualvolle Stunden ich in den letzten Tagen damit verbracht habe, aus dem Fenster zu starren, in der Hoffnung, dass der silberne BMW auftaucht. Aber: nichts . Und langsam zerfrisst mich die Sehnsucht – und die Verzweiflung.
»Ricarda, Rihanna, Rea – HALLO ?! Hörst du mir überhaupt zu?« Die Alte schnippt mit den Fingern. »Erzählst du mir endlich, was los ist?«
»Ich bin VERLIEBT, Frau Nasir! Das ist los!«, platzt es aus mir heraus. »Und langsam weiß ich nicht mehr, was ich tun soll!«
»Allah! Ich habe es geahnt!« Sie greift sich an die Stirn und schließt die Augen. »Na gut, Kindchen, mach uns eine Kanne Karak und lass mich versuchen, deine Seele zu retten.«
»F-Frau Nasir«, druckse ich.
»Ja, Ronja?«
»Könnten Sie den Tee vielleicht zubereiten? … U-und ich warte solange am Fenster?«
Sie reißt sich einen Hausschuh vom Fuß und hält ihn warnend in die Luft: »In die Küche mit dir, Kindchen! Los! Yallah! Yallah! Yallah!«
Meine Seele retten konnte Frau Nasir zwar nicht, das Gespräch mit ihr hat trotzdem sehr gutgetan. Sie hat mir aufmerksam zugehört, mich mit Süßigkeiten gefüttert und meine minütlichen Kontrollgänge zum Fenster ungestraft gelassen.
Die Sache mit der Wüstenparty habe ich ihr verschwiegen, auch, dass Shabah und ich uns geküsst haben. Was sie weiß, ist, dass ich einen ganz besonderen Jungen getroffen und mich deshalb verspätet habe – und dass meine Eltern stinksauer auf mich sind. Ich habe ihr auch erzählt, dass ich seit unserem Abschied darauf warte, ihn wiederzusehen, dass ich pausenlos an ihn denke und Angst habe, dass er nicht so fühlt wie ich. Frau Nasir hat nach typischer Manier genörgelt, getadelt und sämtliche Notrufe an Gott gesendet, mir jedoch gestattet, während Bio und Mathe am Fenster zu sitzen. Am Ende des Unterrichts hat sie mich tröstend in die Arme genommen und versprochen, mit meinen Eltern zu reden.
Doch dann hat sie mir eine Frage gestellt, die mich seither beschäftigt, nämlich, ob der arabische Casanova ein Muslim sei. Als ich ihr darauf keine klare Antwort geben konnte, hat sie merkwürdig gelacht und gemeint, dass die Erklärung für sein Verhalten womöglich viel simpler ist, als ich annehme.
Mittlerweile ist es zehn Uhr abends und ich fühle mich mit jeder verstreichenden Minute ruheloser. Meine Mutter ist bereits schlafen gegangen, und mein Vater schaut sich im Wohnzimmer eine Tier-Doku an – etwas, das Augustins tun, wenn sie traurig sind. Ich seufze in mein Kissen und verfluche mich abermals dafür, nicht ehrlich zu meinen Eltern gewesen zu sein.
Das Bedürfnis, mit jemandem über meine Gefühle zu sprechen, ist so groß, dass ich fürchte, gleich den Verstand zu verlieren. Ich knipse mein Nachtlicht an und linse auf das Festnetztelefon, das auf meinem Schreibtisch thront. Jedes Zimmer ist mit einem solchen Steinzeitknochen ausgestattet, obwohl ich keine Ahnung habe, wozu das gut sein soll. Na ja, vielleicht kommt es in Katar öfters vor, dass Menschen ihre Handys in Blechbüchsen vergraben …
Ich krabbele aus dem Bett und schnappe mir das Telefon. Dann bleibe ich mitten im Raum stehen und beginne, auf dem Zipfel meines Kufiya-Tuchs herumzukauen. Die einzige Nummer, die ich auswendig kann, ist Miras.
Bestimmt legt sie sofort auf, wenn sie meine Stimme hört, schließlich haben wir seit unserem Streit kein Wort mehr miteinander gewechselt. Wahrscheinlich würde sie noch nicht einmal rangehen, wenn sie die zwielichtige Nummer auf dem Display sieht. Nein, keine Chance – ganz sicher hat sie mich schon längst abgeschrieben.
Mira hebt gleich nach dem ersten Tuten ab. »Wie oft muss ich es noch sagen?! Ich möchte keine Kryptowährung kaufen!«
»Hallo, ich bin es.«
»Rea!«, ruft sie überrascht. »Ich dachte, du bist irgendein Spam-Anrufer.«
»I-ich rufe von unserem Festnetztelefon an«, erkläre ich stotternd und schaffe es kaum, meine Nervosität im Zaum zu halten.
»Ist alles in Ordnung?« Ich höre ein Rascheln im Hintergrund. »Ich bin gerade dabei schlafen zu gehen. Es ist schon nach Mitternacht.«
»Oh, t-tut mir leid. Ich habe die Zeitverschiebung ganz vergessen«, haspele ich. »Wenn es dir gerade nicht passt, versuche ich es ein andermal wieder.«
»Nein, nein, so habe ich es nicht gemeint! Offen gestanden, habe ich überhaupt nicht mehr damit gerechnet, dass du dich jemals wieder bei mir meldest.« Kurz herrscht Stille am anderen Ende der Leitung. »Aber ich freue mich darüber. Ehrlich. Du … Du fehlst mir.«
»Es tut mir schrecklich leid, Mira!«, bricht es heftig aus mir heraus. »Unser Streit, meine ich. All die fruchtbaren Dinge, die ich dir an den Kopf geworfen habe. Mein Verhalten war völlig inakzeptabel. Es ging mir nicht gut und du hast alles abbekommen.«
»Mir tut es auch leid, Re-Ra«, entgegnet sie gerührt. »Ich habe deine Probleme runtergespielt, das war unsensibel von mir. Ich hätte besser für dich da sein sollen.«
Ein wunderbar warmes Gefühl durchflutet mich. »Du glaubst gar nicht, wie gut es tut, deine Stimme zu hören! Ich vermisse dich – so sehr!!!«
Minutenlang giggeln wir wie kleine Kinder und vergießen sogar ein paar Freudentränen.
»Genug mit den Rührseligkeiten! Wir haben einiges nachzuholen!« Mira schnieft entschieden. »Was gibt es Neues? Wie ist Doha? Erzähl mir ALLES!«
»Du mir aber auch!«, rufe ich enthusiastisch. »Wie geht es dir? Hat Detlef Scheissner schon die Schule abgefackelt? Konntet ihr beweisen, dass Herr Schlenke ein Vampir ist? Hat Timo Holz seine genmanipulierten Superechsen auf München losgelassen? Erzähl mir ALLES!«
Und in der nächsten Stunde tun wir genau das: Wir erzählen uns alles . Dabei albern wir so viel herum, dass mir bald vor Lachen der Bauch wehtut – der schönste Schmerz der Welt.
»Du hast dein Herz also an einen Katarer verloren?«, schließt Mira mit melodramatischer Stimme. »Oder, um es in deinen Worten auszudrücken: an einen Jungen im weißen Flatterkleid.«
»Ich weiß, ich weiß, es ist total verrückt!« Wieder im Bett rolle ich mich in meine Decke ein. »Das Gewand nennt man übrigens Dischdascha und es sieht irgendwie verdammt cool aus.«
Ich höre, wie Mira etwas in ihren Laptop eintippt. »Hm, gewöhnungsbedürftig. Vor allem in Kombination mit dem langen, weißen Kopftuch. Das Phantom könnte in dem Aufzug glatt als deine Braut durchgehen.«
Ich muss kichern. Wie sehr ich meine beste Freundin vermisst habe!
»Andererseits sind diese katarischen – äh – Dischidaschis um einiges stylisher als bayerische Lederhosen.«
»Danke!«, entgegne ich. »Das finde ich auch.«
»Ist er denn religiös?«
»Religiös?«
»Also, ist er muslimisch?«
»I-ich vermute, schon«, antworte ich gedämpft. Bei unserer ersten Begegnung auf dem Souq-Waqif-Markt habe ich Shabah genau diese Frage gestellt, und er hat sie bejaht, wenn auch nur recht beiläufig. Außerdem scheint er keinen Alkohol zu trinken, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass er dem Islam angehört.
»Vielleicht macht er sich ja deshalb so rar«, ergänzt Mira.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, theoretisch dürfte er als Muslim doch gar nicht mit dir zusammen sein, oder?« Als ich nichts erwidere, forscht sie weiter nach: »Sonst hast du keine Informationen über ihn? Nicht einmal, wo er wohnt, ob er Geschwister hat oder was seine Lieblingseissorte ist?«
»Ich kenne den Namen seines Hundes«, murmele ich kleinlaut. »Außerdem weiß ich, dass er ein gemeingefährliches Quad besitzt und Autos bevorzugt auf zwei Rädern fährt.«
»Solide«, kommentiert Mira und räuspert sich verhalten. »Leo hat sich übrigens nach dir erkundigt. Jaqueline und er haben Schluss gemacht.«
»Er ist Single?«
»Ja. Du kannst dir sicher vorstellen, für wie viel Wirbel das gesorgt hat. Just in diesem Moment rücken ganze Heerscharen von Uteri an.«
»Uteri?«
»Der Plural von Uterus .«
Ich sehe bildlich vor mir, wie sie ihre Brille sachkundig den Nasenrücken hochschiebt.
»Sollen sie ruhig«, brumme ich. »Ich interessiere mich nur noch für einen Jungen, alle anderen Penes können mir gestohlen bleiben.«
»Wie bitte?«
»Der Plural von Penis .«
Wir glucksen ausgiebig über unsere humorlosen Anmerkungen, ehe Mira sagt: »Lass dich einfach nicht noch einmal von einem Loser an der Nase herumführen. Du verdienst jemanden, der dich aufrichtig liebt.«
»Danke, Mira. Du bist wirklich die Beste.«
Wir vereinbaren, in ein paar Tagen wieder zu telefonieren, und verabschieden uns voneinander.
Bevor ich die Lampe ausknipse, gehe ich ein letztes Mal zum Fenster und blicke auf die verlassene Straße hinunter. Obwohl das Gespräch mit Mira unglaublich heilsam gewesen ist, übermannt mich erneut eine tiefe Niedergeschlagenheit.
Warum bloß brichst du dein Versprechen, Shabah?
Am nächsten Tag erreicht Abbas pünktlich um 14:30 Uhr unseren Gebäudekomplex, um mich zum Sportunterricht nach Al Jasra zu fahren. Ich halte es keine Sekunde länger in der Wohnung aus und stehe bereits im Aufzug, als es an der Tür klingelt.
Endlich Freiheit! Ich strecke die Arme aus und blinzle in den Himmel. Die Luft ist von einer angenehmen Kühle durchwoben; der Wind, der von den Märkten herbeizieht, duftet nach feuchtem Stein, wildem Thymian und einem Gebinde aus Spätsommerblumen. Trüge die Sehnsucht ein Parfüm, würde es dieses hier sein.
Es ist schön, das Sonnenlicht auf meiner Haut zu spüren, auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass Shabah jetzt neben mir steht. Langsam, aber sicher schwindet die Hoffnung auf seine Wiederkehr. Fünf Tage sind seit unserer magischen Wüstennacht vergangen – und hätte ihm der Kuss auch nur halb so viel bedeutet wie mir, hätte er einen Weg gefunden, mir ein Zeichen zu geben. Wüsste ich , wo er wohnt, würde ich ein Zelt vor seiner Haustür aufschlagen, mich mit Sekundenkleber am Boden festkleben und in den Hungerstreik treten, bis ich ihn wiedersehen darf. Mehr noch: Ich würde die Unsichtbarkeit erfinden, um zu ihm zu gelangen, würde Telepathie und Telekinese erlernen und die ganze Welt ins Chaos zu stürzen, bis Shabah und ich zusammen sein können.
Aber vermutlich ist er in der Zwischenzeit auf einer anderen Wüstenparty gewesen und hat mich gegen ein hübscheres, kompatibleres und weniger gespenstisches Modell eingetauscht. Ich glaube, sogar Farah hat angedeutet, dass Shabah ein Herzensbrecher ist. Farah – ha! Ob den Accelerate-Frauen jemals aufgefallen ist, dass ich fehle?
Insgeheim habe ich nicht nur darauf gewartet, dass ein silberner BMW vor meinem Fenster auftaucht, sondern auch ein pinker Lamborghini. Tja , scheinbar nehmen Märchen aus Tausendundeiner Nacht kein glückliches Ende …
Abbas begrüßt mich mit ergreifender Herzlichkeit und gibt Gas, noch während ich mich anschnalle. Bevor er mir eine Frage stellen kann, erkundige ich mich nach seiner Frau und seinen Töchtern in Bagdad, und er beginnt, fröhlich vor sich hin zu erzählen.
Dass ich gleich zurück in den Sportunterricht muss, trage ich mit Fassung. Unglücklicherweise – oder in diesem Fall wohl glücklicherweise – ist da nicht mehr viel Spielraum für eine Verschlechterung meiner Lage. Wenn diese furchtbare Qamar wieder auf Ärger aus ist, mache ich mich eben noch unbeliebter und beschwere mich bei der Lehrerin.
»Herr Abbas, Sie sind doch Muslim, oder?«, frage ich, nachdem er an einer roten Ampel halsbrecherisch zum Stehen gekommen ist.
»Das bin ich.« Er schaut in den Rückspiegel und zieht die silbergrauen Augenbrauen hoch. »Gibt es etwas, das du gerne wissen möchtest, Frau Rea?«
Ich räuspere mich peinlich berührt. »D-dürfen ein Muslim und eine Nicht-Muslimin eigentlich zusammen sein?«
»Laut Koran spricht nichts dagegen«, antwortet Abbas gelassen. »Solange die Frau einen monotheistischen Glauben hat, also einem einzigen Gott folgt, dürfen die beiden sogar heiraten. Aber leider verhält es sich im Islam wie in allen anderen Religionen auch: Nicht selten werden moralische Grundpfeiler von strengen, oft willkürlichen Traditionen überlagert. Daher haben viele konservative Muslime ein großes Problem damit, wenn sich eine – nach ihrem Verständnis – Ungläubige der Familie anschließt.« Er zwirbelt seinen Schnauzer. »Andersrum ist es verboten, also, dass eine Muslima einen Nicht-Muslim heiratet.«
Ich runzle die Stirn. »Wieso?«
»Nun, das Ziel einer Beziehung ist es, genug Stabilität zu erlangen, um ein Leben lang zu halten. Gehört der Mann einer anderen Religion an, sind Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten praktisch vorprogrammiert, und diese können eine Familie schnell zu Fall bringen.«
»Das bedeutet ja, dass Männern viel mehr Geltung zugeschrieben wird.«
»Oder mehr Intoleranz und Dummheit«, sagt Abbas und gluckst leise.
Ich seufze schwermütig. »Das ist alles ganz schön kompliziert.«
»Betrifft es dich denn, Frau Rea?«
»N-nein.«
Der liebenswürdige Iraker grummelt leise. »Keine Sorge, mein Kind, Liebe findet immer einen Weg. Gott wird dir sicher bald eine Lösung aufzeigen.«
Ich weiß zwar nicht, in welchem Universum Gott Probleme löst und nicht stiftet, aber ich bedanke mich trotzdem für seine aufmunternden Worte.
»Wir sind angekommen«, verkündet er schließlich und parkt neben dem baufälligen Betonkasten, der sich Sporthalle nennt. »Ich werde hier auf dich warten, Frau Rea.«
»Meine Eltern haben Sie also beauftragt, mich zu überwachen?«
Er dreht sich zu mir um und lächelt entschuldigend. »Anscheinend besteht bei dir momentan erhöhte Fluchtgefahr.«
Ich verdrehe die Augen – aber da es unmöglich ist, Abbas böse zu sein, steige ich aus und schreite schicksalsergeben meiner persönlichen Version der Hölle entgegen: Sportunterricht mit Qamar.
Es überrascht mich, als in der Umkleidekabine mehrere Mädchen auf mich zukommen, um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen. Vielleicht hat Frau Al-Muhannadi ihnen ja eine Standpauke gehalten, nachdem sie mich letztes Mal so beharrlich ignoriert haben. Oder aber, ich habe mir alles bloß eingebildet und sie waren lediglich ein wenig schüchtern … Jedenfalls stehe ich bald mit einer ganzen Gruppe zusammen und wir unterhalten uns angeregt über die vergangene Fußballweltmeisterschaft und das Füllgewicht von Oktoberfest-Bierkrügen.
Auf Qamar treffe ich erst in der Halle. Sie steht mit verschränkten Armen da und schaut demonstrativ weg. Wieder ist ihr Gesicht verhüllt, was bedeutet, dass sie mich bereits in der Kabine gesichtet haben muss. Sofort macht sich Unmut in mir breit, aber immerhin sind die anderen Mädchen heute nett zu mir.
Als die Sportlehrerin erscheint, fängt Qamar sie in der Tür ab und beginnt, mit hitziger Stimme auf sie einzureden. Ganz offensichtlich dreht sich die Diskussion um mich, denn die beiden schauen immer wieder in meine Richtung. Schließlich wimmelt die Lehrerin sie ab und begrüßt die Klasse lächelnd. Qamar hingegen funkelt mich böse an und begibt sich zu einem Punkt im Raum, der mit mathematischer Gewissheit am weitesten von mir entfernt ist.
So was Bescheuertes , denke ich und beginne die Aufwärmübung mit schäumendem Eifer.
In der zweiten Hälfte des Unterrichts spielen wir Volleyball. Per Zufallsprinzip werden Qamar und ich in dasselbe Team eingeteilt – und sie lehnt sich so vehement dagegen auf, dass Frau Al-Muhannadi einschreiten muss. Sie bläst in ihre Trillerpfeife und ermahnt Qamar mehrmals dazu, ihre Position auf dem Spielfeld einzunehmen. Obwohl nur Arabisch gesprochen wird, fühle ich mich dermaßen gekränkt, dass ich am liebsten im Erdboden versinken würde. Was habe ich dieser blöden Ziege bloß angetan?
Widerwillig marschiert Qamar an ihren Klassenkameradinnen vorbei und stellt sich hinter mir auf.
Ich erschaudere. Dass wir einander auf einmal so nahe sind, bereitet mir großes Unbehagen.
Während des Spiels bleibe ich auf Abstand. Komme ich Qamar aber doch mal zu nahe, dreht sie sich nahezu angeekelt von mir weg, und jedes Mal bleibt mir nichts anderes übrig, als fassungslos den Kopf zu schütteln.
Bis ich es nicht mehr aushalte.
»Hey!«, rufe ich und stampfe wutentbrannt auf sie zu. »Wir müssen reden!«
Sie macht einen Schritt zurück und faltet ihre Hände hinter dem Rücken zusammen. »Wir sind mitten im Spiel!«
»Ich will trotzdem mit dir reden!«
»Ich aber nicht mit dir!«, nuschelt sie. »Geh mir gefälligst aus dem Weg!«
Ich runzle die Stirn. »Warum redest du so komisch?«
Sie weicht meinem Blick aus und murmelt undeutlich in ihr Tuch hinein: »Das ist meine ganz normale Stimme. Jetzt verpiss dich endlich!«
»Ich bin nicht freiwillig wieder hier – ich wurde gezwungen !«, fauche ich. »Je früher du dich damit abfindest, desto besser!«
Sie zupft an ihrem Kopftuch, das leicht verrutscht ist. »Mir egal, du hast hier nichts zu suchen!«
Als mein Blick auf ihre Hand fällt, bleibt mein Herz stehen. »Was zum …« Ich taumele zurück. Rudere kurz mit den Armen, weil ich beinahe das Gleichgewicht verliere.
»Was hast du?«, fragt Qamar irritiert.
Mir wird speiübel, gleißende Flecken tanzen vor meinen Augen. Meine Atmung setzt aus, meine Gedanken gefrieren, lähmendes Gift flutet meinen Körper.
»Rea … Ist alles in Ordnung?«
Die Art, wie sie Rea sagt …
Das nackte Grauen packt mich.
»D-deine Hand«, röchle ich.
Erschrocken blickt Qamar auf die Blutergüsse an ihrem rechten Zeige- und Mittelfinger. Dann sieht sie mich direkt an und sagt: »Ich flehe dich an, kleines Gespenst, mach jetzt keinen Aufstand.«
»Wie hast du mich gerade genannt?« Ich krümme mich, weil es sich so anfühlt, als boxte mir jemand in die Magengrube.
»Bitte« – Qamar wird kreidebleich – »verrate mich nicht.«
Keuchend drehe ich mich von ihr weg und versuche, im grellen Flimmern den Ausgang zu lokalisieren. Das kann nicht sein. Nein, das ist nicht wahr. Du träumst, Rea. Das ist alles bloß ein Traum. Wie ein Roboter setze ich einen Fuß vor den anderen, während mein Zwerchfell schmerzhaft krampft und sticht.
Dann höre ich, wie Qamar ruft: »Rea, pass auf!!!«
Im nächsten Moment trifft mich der Volleyball mit voller Wucht im Gesicht und ich falle rücklings um. Bodenlose Finsternis verschlingt mich.