Die Männer verlassen das Esszimmer. Ich muss Ivans Waffe verstauen, bevor ich zu den anderen in den Garten gehe. Es zieht mich zur letzten Tür auf der linken Seite des Hausflurs. Als ich in das muffig riechende Zimmer trete, das ich mir früher mit meinem Bruder geteilt habe, höre ich die Frauen in der Küche reden. Ich schließe die Tür hinter mir, gehe direkt zum Fenster und schiebe den Rahmen hoch. In der leichten Brise liegt der Geruch eines Sommergewitters.

Ich bin acht, trage meinen Schlafanzug und versuche, aus dem Fenster zu steigen, um meinem Vater zu entkommen. Ich höre, wie Dad mit bloßen Händen die solide Holztür einschlägt. Genauso gut hätte er sie öffnen können, denn es gibt kein Schloss, aber wo bliebe da der Spaß? Ich will mich durch die Lamellen der Jalousie quetschen und in Sicherheit bringen. Draußen auf den Boden zu fallen wird weniger wehtun, als wenn Dad mich erwischt. Aber ich bleibe stecken, mein Rücken auf schreckliche Weise der Wut meines Vaters ausgeliefert.

Ich weiß nicht mehr, was ich falsch gemacht, bei welcher Mutprobe ich versagt habe. Aber ich erinnere mich noch genau an meine Angst und daran, dass Ivan genau in dem Moment nach Hause kam, als Dad ins Zimmer stürzte. Er redete auf Dad ein, bis der mich in Ruhe ließ. Später ließ Mum uns die Jalousie entfernen, damit unser Fluchtweg in Zukunft frei war.

Von ein paar in der Ecke gestapelten Kartons abgesehen, sieht das Zimmer aus wie damals. Zwei schmale Einzelbetten. Ivans altes Fahrrad an der Wand, das Vorderrad fehlt. Motorradposter, die mit spröden vergilbten Klebestreifen befestigt sind. Warum schmeißen sie diesen ganzen Mist nicht weg und benutzen das Zimmer für etwas anderes?

Ich überzeuge mich noch einmal, dass die Waffe nicht geladen ist, und lege sie in eine Schublade des Nachttischs zwischen den beiden Betten. Ich will nicht, dass Sasha sie sieht. Ich hole sie mir, wenn wir gehen.

»Nicht mit Schuhen aufs Bettzeug«, war Mums feste Regel. Also behalte ich, als ich mich rücklings auf Ivans Bett fallen lasse, die Füße auf dem Boden. Ich betrachte die kleinen Fetzen von Papiertaschentüchern, die an der Decke kleben, vor allem inner- und außerhalb eines Flecks, dessen Umriss einem Hai ähnelt. Ich erinnere mich an das Gefühl von abgerissenem Papier in meinem Mund. Wie ich es zu einer kleinen Kugel forme, die in die leere Hülse eines Bic-Kugelschreibers passt. Wenn ich fest genug puste, kann ich auf den Hai dort oben schießen. Ivan ist schneller beim Nachladen, aber meine Zielsicherheit ist unübertroffen.

Es kommt mir vor, als wäre Ivan noch immer hier bei mir.

Ich wünschte, ich läge unter der Erde, und Ivan wäre hier mit der Waffe.

Langsam öffnet sich die Tür, Sasha streckt den Kopf herein. Der Junge hat mich kaum aus den Augen gelassen, seit wir ihm gesagt haben, was mit Ivan passiert ist.

»Alles in Ordnung, Daddy? Kommst du raus und spielst mit uns Fußball? Das tut dir bestimmt gut. Wenn ich Fußball spiele, fühle ich mich nachher immer besser.«

»Okay, Sash, ich komme.« Ich stehe aus dem Bett meines Bruders auf, nehme Sashas klebrige Hand und lasse mich bereitwillig von ihm führen. Im Flur kommen uns die Geräusche vom Leichenschmaus entgegen. Ich trete durch die Fliegengittertür und gehe die beiden Betonstufen zum Garten hinunter. Hier draußen ist es noch heißer.

Ich schaue mich um und zähle fünfundzwanzig Personen. Mehr als hundert waren in der Kapelle, aber hierher sind nur Familie und Truppe eingeladen. Ivan würde es genießen. Für ihn gab es nichts Besseres, als im Kreis seiner Familie zu sein, auch wenn er selbst nicht verheiratet war und keine Kinder hatte. Wahrscheinlich hatte er einfach nicht so viel Glück, wie ich mit Amy hatte. Er schien es mit keiner Freundin länger als ein paar Monate auszuhalten. Jetzt wird er niemals Vater sein.

Immer wieder geht mir das Versprechen durch den Kopf, das ich meinem Vater gegeben habe. Amy sieht mir in die Augen und weiß Bescheid. Aber hier können wir nicht darüber reden.

Dads jüngerer Bruder Josef trägt eine Schürze und grillt Ćevapčići und Lammkoteletts. Er steht an dem gemauerten Grill, der eine Seite der großen Betonterrasse einnimmt, das weiße Hemd klebt an seinem Rücken. Der Duft der hautlosen, mit Knoblauch gewürzten Würstchen kämpft mit dem Ozongeruch des aufziehenden Gewitters. Die Würstchen gewinnen. Onkel Josef ist eine kleinere, weniger markante Ausgabe meines Vaters. Er ist nicht der Klügste, dafür aber loyal. Er tut alles, was Dad will.

Sasha schließt sich seinen Vettern an, die auf dem Grasstück zwischen den Zitronenbäumen und den Reihen mit Wurzelgemüse Fußball spielen. Auf beiden Seiten hängen Tornetze. Am Rand der Terrasse, im Schatten des Blechdachs, sitzen kräftige Männer und trinken Victoria Bitter direkt aus der Dose. Die meisten haben sich ihrer Jacketts und Krawatten entledigt. An einem derart heißen Tag bleibt für respektvolle Kleidung nur eine Nebenrolle. Die Frauen kommen und gehen durch die Fliegengittertür, beladen mit Platten voll gepökeltem Fleisch, Gemüse, Salat und Brot.

Als Mum die Stufen herunterkommt, nehme ich ihr eine Platte mit Essiggurken und Oliven aus der Hand. Sie ist fix und fertig. Wenn ich sie zu lange oder zu fest in den Arm nehmen würde, würde sie zusammenbrechen. Ihre schwarzen Haare sind von grauen Strähnen durchzogen, ihr Gesicht ist faltig, die kräftigen Schultern sind nach vorn gebeugt, als wollte sie ihr Herz schützen.

»Geht es einigermaßen, Mum?«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Johnny, pass auf deinen Tata auf. Lass ihn nicht zu viel trinken.«

Beide schauen wir zu meinem Vater hinüber, dann begegnen sich unsere Blicke wieder. Sie scheint noch etwas sagen zu wollen, scheucht mich aber mit einer ungeduldigen Handbewegung zu meinem Vater.

Sein Blick ist schon leicht glasig. Der Rakia steigt schnell zu Kopf. Und doch wirkt seine massige Gestalt wie ein Fels in der Brandung. Er sitzt am Kopf des alten Resopaltischs, der mitten auf der Terrasse steht und dessen rostige Beine auf dem Beton Flecken hinterlassen, die an Blut denken lassen. Meine Eltern könnten sich neue Gartenmöbel leisten. Himmel, sie könnten sich wahrscheinlich sogar ein großes Haus in den östlichen Vororten leisten, aber Dad hat sich auf die Fahne geschrieben, niemals wie ein vermögender Mann zu wirken. Man zieht keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich, das bringt nur Ärger. Als Ivan vor Kurzem in einem nagelneuen Range Rover Sport vorgefahren ist, war Dad entsetzt.

»Ein Luxusauto. Dämlicher Trottel. Was glaubt er, wer er ist?«

Ich stelle die Platte auf einen der übervollen Tapeziertische und betrachte Dad. Er starrt mich finster an, seine blutunterlaufenen braunen Augen sind das Einzige, was sich in seinem Bullmastiffgesicht bewegt. In seinem Mundwinkel hängt eine selbstgedrehte Zigarette, seine rechte Pranke schließt sich um ein Bier, das weiße Hemd spannt sich über einer Brust vom Umfang eines Zweihundert-Liter-Fasses.

»Johnny! Komm her!« Als ich auf ihn zutrete, deutet er auf die Rakia-Flasche, die neben seinem Ellbogen steht.

Onkel Baz macht den Stuhl rechts neben Dad frei. Seinen ursprünglichen Namen Berislav hat er in Barry geändert, als er nach Australien kam. Weil unser Land Spitznamen über alles liebt, wurde daraus schnell Baz. Eigentlich ist er nicht mein Onkel, sondern Dads bester Freund. Den Mann kann nichts erschüttern. Mit seinen Korkenzieherlocken, dem offenen Gesicht und dem lockeren Auftreten ist er der Vater, den ich gerne gehabt hätte. Er hat sich den Titel des Onkels verdient. Bevor er sich entfernt, schenkt er mir einen mitfühlenden Blick und drückt meine Schulter. Ich setze mich und schenke Dad ein Glas ein. Er schaut erst mich, dann Baz’ leeres Glas an. Ich fülle es nach.

»Živjeli, Johnny.«

»Živjeli, Dad.« Wir stoßen an. Ich trinke das Glas nur halb aus. Ich muss immer noch nüchtern bleiben.

Er tätschelt mir unbeholfen den Rücken.

»Du jetzt mein einziger Sohn. Du enttäuschst mich nicht.«

Das ist kein Kompliment. Aus Dads Mund ist es immer eine Drohung. Aber ich bin der Einzige, der die einsame Träne aus seinem rechten Auge kullern sieht. Mit dem dicken Zeigefinger wischt er den verräterischen Tropfen weg. Es ist, als würde man einen Riss in einer Staumauer entdecken.

Ich lasse meinen Blick durch den Garten schweifen. Sasha hat gerade ein Tor geschossen und lacht wie verrückt, seine blonden Haare werden von einem letzten einzelnen Sonnenstrahl zum Leuchten gebracht. Sasha und Amy sind die einzigen blonden Familienmitglieder unter all den dunkelhaarigen, olivhäutigen Kroaten. Der größte Teil der Familie ist in den Achtzigern eingewandert, vor dem letzten Krieg mit den Serben. Wir sind sechs Monate vor meiner Geburt angekommen, vor achtunddreißig Jahren. Ich kenne eine Menge Familien, die viel früher eingewandert sind, nach dem letzten Weltkrieg. Erst die Männer, dann ihre Frauen und Kinder. Der Mehltau auf den Trauben hat die erste Welle geschickt, der Kommunismus die nächste.

Während des Balkankriegs in den Neunzigern habe ich als Teenager in Sydney gelebt. Ivan und ich sind mit dem Zug häufig sechs Stationen Richtung Stadtzentrum gefahren, nach Yagoona, um uns vor dem örtlichen jugoslawischen Club zu prügeln. Bei Fußballspielen beleidigten sich die Fans so lange gegenseitig, bis der Krawall begann. Wenn es darum ging, auf die Serben loszugehen, stand ich meinem großen Bruder in nichts nach. Jeden Abend sahen wir in den Nachrichten, wie Jugoslawien zerfiel. Die Gewalt dort stachelte den Hass hier an. Aber damals war mir nicht wirklich klar, worum es ging. Ich wusste nur, dass wir die Serben hassen mussten. Trotzdem war es nicht leicht. Manche von ihnen hatte ich schon als kleiner Junge gekannt.

Im Jahr 1996 gab es in Australien genügend Jugoslawen, um einen Krieg anzufangen, und inzwischen sind es noch mehr. Aber wenn Ihnen Ihre Gesundheit lieb ist, sollten Sie einen Kroaten nicht als Jugoslawen bezeichnen. Für viele von uns wird der Krieg niemals aufhören, denn die Verluste in Osteuropa waren auf beiden Seiten sehr hoch. Der Hass schwelt noch immer.

Amy kommt mit Platten voller Fleisch direkt vom Grill an mir vorbei. In ihrem einfachen schwarzen Kleid sieht sie unglaublich aus. Jeder in der Familie liebt Amy, nur mein Dad nicht. Ich hoffe, er wird sich irgendwann besinnen. Wahrscheinlich wäre es anders, wenn wir mehr Kinder hätten. Er liebt es, ein Dida zu sein, ein Großvater. Meine wunderschöne Frau dirigiert Familienmitglieder und die Männer der Truppe höflich zu den Tapeziertischen an der Hauswand. Jetzt, wo es langsam dunkel wird, scheinen alle Hunger zu haben.

Sechzehn kräftige Männer zwischen Anfang zwanzig und Ende fünfzig stellen sich an, um Salate auf ihre Teller zu laden. Mein bester Freund Anto, der Sohn von Baz und Ana, macht sich zwei Teller voll. Der Mann ist ein wahrhaft leidenschaftlicher Esser. Wir kennen uns schon seit Kleinkindertagen. Er ist nicht so groß wie ich, aber gebaut wie ein Panzer, seine dichten schwarzen Augenbrauen wachsen beinahe über dem Nasenrücken zusammen. Anto sieht nicht gut aus, aber bei einer Schlägerei gibt es niemanden, den ich lieber an meiner Seite hätte.

Heute sind weniger Frauen als Männer hier, und nur fünf Kinder. Die meisten jüngeren Männer sind noch nicht verheiratet. Mit Ausnahme von Amy sind sämtliche Frauen entweder zierlich wie Antos Frau Lexy oder kräftig gebaut wie meine Mutter.

»Johnny, du musst etwas essen.« Amy steht vor mir und streckt mir Messer und Gabel in einer Papierserviette hin, dazu einen Teller mit all meinen Lieblingsspeisen: Ćevapčići, Blitva, Krautsalat und Chilischoten. Ihre klaren blauen Augen fordern mich zum Essen auf.

Ich nehme den Teller. Sie belohnt mich mit einem Kuss auf die Lippen und geht dann, um sich selbst einen Teller zu holen. Sasha sitzt am Rand der Terrasse und schlingt sein Essen herunter, als würde er nie wieder etwas bekommen. Er sagt etwas zu Amy, sie lächeln sich an. Dass sie Mutter und Sohn sind, ist unübersehbar. Er sieht völlig anders aus als ich, dafür ähneln wir uns in anderer Hinsicht.

Bei der Vorstellung, dass sie mir genommen werden könnten wie Ivan, schnürt sich mir die Kehle zu.

Ich versuche, am Tisch etwas zu essen. Das Kauen fällt mir schwer, das Schlucken noch viel schwerer. Anto mit seinen zwei Tellern setzt sich neben mich. Er haut mir auf die Schulter, sodass ich fast vom Stuhl falle, und fängt an, sich das Essen reinzuschaufeln. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Ein wenig entspanne ich mich, dann aber tritt Marko auf uns zu, einen Teller in der Hand, das weiße Hemd ein perfekter Kontrast zu seiner gebräunten Haut. Groß sind wir alle, aber Marko ist groß und schlank, wie ein scheiß Model. Sein Hemd ist feiner, der Schnitt seiner Hose enger. Verdammte Schaufensterpuppe.

Dad ruft Marko etwas auf Kroatisch zu und lädt ihn gestikulierend ein, sich zu seiner Linken zu setzen. Warum zum Teufel will mein Vater, dass Marko Ivans Platz einnimmt?

Diesmal ist es Anto, der mir eine Hand auf den Arm legt.

»Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, Kumpel.«

Ich löse meinen Blick von Marko und konzentriere mich aufs Essen. Marko und Dad unterhalten sich auf Kroatisch.

Anto rülpst. »Ich hab sie reden gehört, bevor du gekommen bist. Marko reitet immer wieder darauf herum, dass der Befehl, Ivan zu töten, nur von Stanislav gekommen sein kann. Du weißt ja, wie irre er ist, sobald es um die Serben geht. Durchgeknallter Spinner.« Anto spricht besser Kroatisch als ich. Er hat ein Faible für Sprachen.

Ich brumme zustimmend, aber meine Gedanken wirbeln durcheinander. Wenn Marko und Dad nun recht und die Serben Ivan tatsächlich erschossen haben? Dann gibt es wieder Krieg, aber diesmal hier auf den Straßen von Sydney.