Beim Anblick von Milan an der Haustür schaudere ich. Ich kann mich nicht erinnern, wann er das letzte Mal hier gewesen ist. Wir gehen zu ihm. Er kommt nicht zu uns.
»Dida! Dida!«, ruft Sasha und läuft zu seinem Großvater, den er anbetet. Seine Haare sind vom Baden noch feucht, er trägt seinen heißgeliebten Superman-Schlafanzug. Milan lächelt breit, hebt ihn hoch und wirbelt ihn herum. Die beiden so zusammen zu sehen, sollte mich glücklich machen, stattdessen macht es mich jedes Mal fertig. Milan drückt Sasha fest an seine Brust, küsst ihn auf den Kopf und setzt ihn wieder ab. Endlich sieht er mich an. Kein Lächeln, nur ein Nicken. Er schiebt Sasha in meine Richtung, mir ist klar, was erwartet wird. Mutter und Kind müssen sich zurückziehen, während die Männer wichtige Dinge besprechen.
Am liebsten würde ich schreien, was Milans Blick auf mich als nutzloses Weibsstück nur bestätigen würde. Ich habe akzeptieren müssen, dass Johnny in einem männlich-chauvinistischen Haushalt aufgewachsen ist und es ihn auf eine Art und Weise prägt, die ihm selbst nicht bewusst ist. Aber ich werde dafür sorgen, dass Sasha nicht dieselben Werte übernimmt.
Sobald ich den Jungen in die Küche bugsiert habe, gebe ich ihm die Kopfhörer und beschäftige ihn mit einem Computerspiel. Zugegebenermaßen keine vorbildliche Erziehungsmethode, aber ich will nicht, dass er mit anhört, was sich vermutlich zwischen Johnny und seinem Vater abspielen wird. Ich mache mich an die Vorbereitungen zum Abendessen, so leise wie möglich, um ihrem Wortwechsel lauschen zu können.
Unser offener Küchen- und Wohnbereich liegt rechts von der Haustür, neben dem Flur, der sich als eine Art Rückgrat mitten durchs Haus zieht. Auf sämtlichen Fußböden liegen entweder Astkieferdielen oder beigefarbene Fliesen, je nach Funktion des Raums. Die Wände haben wir in kühlem Weiß streichen lassen. Unser Haus macht keinen sonderlich charmanten Eindruck, aber alles ist praktisch und leicht sauber zu halten. Als Johnny dann noch den versenkten Pool im Garten hat anlegen lassen, waren wir ziemlich zufrieden mit uns.
Johnny sitzt mit Milan in seinem Arbeitszimmer, links vom Hausflur. Die Tür ist geschlossen, aber was ich von den gedämpften Stimmen mitbekomme, reicht aus, dass ich mir genau vorstellen kann, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelt. Es scheint, als würde niemand außer mir die drohende Gefahr bemerken. Wie können sie alle so blind sein?
Johnny könnte körperlich viel bedrohlicher wirken, als Ivan es je getan hat, auch wenn er seine Stärke ständig herunterspielt – vielleicht ein weiterer Grund, warum Milan und Ivan ihn an die Seite gedrängt haben. Aber Johnny fühlt sich für jeden Einzelnen der kroatischen Immigranten verantwortlich, die sie in den Fischläden der Novaks arbeiten lassen, dafür bewundere ich ihn.
Ich habe Monate gebraucht, um herauszufinden, dass Johnny Legastheniker ist, so perfekt verbirgt er es. Wenn man ihm dagegen eine komplizierte Tabelle in die Hand drückt, wird er zum Gelehrten. Deshalb ist er für die Finanzen verantwortlich. Aber als er vorgeschlagen hat, die Fischladen-Familien an den Profiten zu beteiligen, haben Milan und Ivan ihn bloß ausgelacht.
Ivan fehlte Johnnys Verantwortungsbewusstsein. Er lebte nach dem lächerlichen Familienmotto – keine Freunde, keine Gefühle, kein Gewissen. Was für ein Schwachsinn. Ivan hat immer den Eindruck völliger Sorglosigkeit gemacht. Johnny war in vielem das Gegenteil seines Bruders, dafür war ich ihm immer dankbar. Aber Milan weiß genau, welche Knöpfe er bei Johnny drücken muss.
Ich höre, wie mein Mann sich dafür verteidigt, dass er einen Plan entwickeln will, bei dem er nicht erwischt wird. Plötzlich wird ein Sessel lautstark über den Holzboden geschoben. Dann ein Klatschen. Jetzt höre ich das tiefe Grollen von Milans Stimme.
Mein Herz rast. Wie kann der Drecksack sich unterstehen, meinen Mann zu ohrfeigen? Warum lässt Johnny sich derart herumschubsen? Ich bin wütend und muss irgendwie eingreifen. Ich werde eine Schüssel Chips ins Zimmer bringen und die Atmosphäre ein bisschen auflockern. Als ich gerade den Vorratsschrank öffnen will, halte ich inne. Milan wäre sicher wütend. Ich würde alles nur schlimmer machen. Nach Sashas Geburt ist unser Verhältnis besser geworden, aber inzwischen ist jegliche Wärme verschwunden. Er will mehr Enkel, und was das angeht, habe ich versagt.
Ich kehre zur Arbeitsplatte zurück, träufele Olivenöl auf die Steaks und würze sie mit Pfeffer und Salz. Das Verrückte ist, dass ich in den letzten Tagen jedes Mal, wenn ich Johnny anschaue, immer nur Milan sehe. Er ähnelt seinem Vater so sehr, viel mehr als Ivan. Wenn Johnny spricht, hören die Leute zu. Er strahlt Würde aus. Wohingegen Ivan es einfach gut verstanden hat, Menschen zu manipulieren, vor allem seinen Vater. Selbst wenn Milan betrunken und extrem geladen war, konnte Ivan ihn zum Lachen bringen. Ivan war charmant, aber sein Lächeln hat nie die Augen erreicht. Er hat sich einfach genommen, was er wollte.
Meine Finger fangen an zu zittern. Der Salzstreuer rutscht mir aus der Hand und zerschellt auf dem Boden. Verdammt. Ich nehme Kehrblech und Handfeger unter der Spüle heraus, fege alles zusammen und höre auf, an Ivan zu denken. Stattdessen konzentriere ich mich auf meinen Mann.
Johnny weiß überhaupt nicht, wie klug er ist. Mit seinen Fähigkeiten könnte er alles Mögliche machen. Ich weiß, dass tief in ihm eine Wut brodelt, allerdings auf niedriger Flamme. Ich habe selten erlebt, dass sie überkocht. Er richtet seinen Zorn nie direkt gegen mich oder Sasha. Sein Vater kann ihn verrückt machen, oh ja. Aber Johnny lässt sich davon nicht mitreißen. Er scheint den Zorn nach innen zu richten.
In Milan ist mehr Wut als in jedem anderen Menschen, der mir je begegnet ist. Er hat eine echte Begabung zur Wut.
Wie aufs Stichwort höre ich Milan durch die Haustür treten. Kurz überlege ich, nachzuschauen, ob mit Johnny alles in Ordnung ist, aber damit würde ich zu erkennen geben, dass ich die Ohrfeige gehört habe. Was wir jetzt brauchen, ist ein nettes, normales Abendessen. Sobald Sasha im Bett ist, werde ich in die Offensive gehen. Ich muss Johnny davon abhalten, irgendwelche Dummheiten zu machen. Den Anführer der örtlichen Serbengang zu ermorden, wäre eine Dummheit der Extraklasse.