Gestern Abend habe ich Chaz versprochen, die Kinder heute zur Schule zu fahren. Es ist das Mindeste, ich kann nur hoffen, nicht mehr über der Promillegrenze zu liegen. Nach dem Essen mit Johnny habe ich eine Flasche Rosé getrunken und bin dann im Gästezimmer von Mum und Dad ins Bett gekippt. Ich habe einen Kater, meine Augen sind verquollen, ich sehe furchtbar aus.
Vor Chaz’ Erdgeschosswohnung in der Marsden Road fahre ich auf einen Besucherparkplatz. An einem Strommast vor dem Nachbarhaus lehnt eine alte Matratze, daneben steht ein klobiger Sessel mit einem hässlichen Fleck. Beides scheint für den nächsten Sperrmüll herausgestellt worden zu sein. Ich komme eine Viertelstunde früher als verabredet, weil ich ihr mit dem Frühstück helfen will, damit sie sich in Ruhe für die Arbeit fertigmachen kann. Manchmal beneide ich Chaz für ihren Teilzeitjob als Event-Assistentin bei der Liverpooler Gemeindeverwaltung. Aber manchmal glaube ich auch, es würde mir schwerfallen, jeden Tag zur Arbeit zu fahren, selbst wenn es nur von neun bis drei wäre. Und wie würde ich nach zwölf Jahren ohne festen Job wieder im Arbeitsleben zurechtkommen?
Chaz wohnt gegenüber der Marsden Public School. Hätten wir uns nicht kennengelernt, als unsere Kinder noch Babys waren, würde Jenny zur Schule jetzt nur die Straße überqueren müssen. Aber seit dem Kindergarten sind Jenny und Sasha unzertrennlich. Es wäre grausam gewesen, sie voneinander zu trennen.
Johnny wollte, dass Sasha zum All Saints Catholic College geht, der Schule, die auch Ivan und er besucht haben. Ich war auf einer Privatschule, aber davon gibt es hier draußen keine guten. Nun ja, mit Ausnahme der All Saints. Weil ich zur Church of England gehöre, war ich nicht begeistert, bis ich ein bisschen recherchiert habe. Die Schule genießt einen ausgezeichneten Ruf. Grundschule und Highschool sind getrennte Einheiten, aber im selben Gebäudekomplex untergebracht. Und Johnny ist die Schule offenbar gut bekommen. Auch für Jenny war es die passende Wahl, wobei ich weiß, dass die jährlichen Gebühren für Chaz schwer aufzubringen sind. Ich habe ihr Unterstützung angeboten, aber dafür ist sie zu stolz. Vielleicht will sie aber auch nichts mit meinem schmutzigen Geld zu tun haben.
Als ich mich dem Haus nähere, bekomme ich einen Schrecken, denn ich höre Sasha laut protestieren.
»Ich will nicht in die Schule! Ich will zu meinem Dad!« Er klingt, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Hastig gehe ich zur Tür.
»Wenigstens hast du einen Dad«, sagt Jenny, als ich gerade klopfe.
»Hey! Ich bin’s!«, rufe ich. Ich drehe den Türknauf und stelle fest, dass nicht abgeschlossen ist.
»Gott sei Dank.« Chaz schaut mich kopfschüttelnd und mit angestrengtem Lächeln an.
Gleich hinter der Tür liegt der Wohnbereich. Chaz steht am Küchentresen und macht Sandwiches. Jenny und Sasha tragen ihre Schuluniformen. Sasha ist gekämmt, Jenny trägt einen Pferdeschwanz. Sie sitzen Chaz gegenüber und essen selbstgemachtes Müsli. Jenny dreht sich zu mir um und winkt. Dann zieht sie hinter Sashas Rücken eine Grimasse.
Sasha starrt entschlossen in sein Müsli.
Ich stelle die Handtasche aufs Sofa, trete hinter ihn und kitzele ihn unter dem Rippenbogen. Er windet sich, lacht aber nicht los, wie er es normalerweise tut. Ich drehe seinen Stuhl zu mir herum, lege einen Finger unter sein Kinn und hebe seinen Kopf, damit er mich ansehen muss.
»Machst du Chaz das Leben schwer?«
»Ist schon gut.« Chaz will nicht, dass er Ärger bekommt.
»Nein, das glaube ich nicht. Wie siehst du das, Sash? Entschuldige dich bei Chaz, dann reden wir über deinen Dad. Klingt das vernünftig?«
In Sashas blauen Augen stehen Tränen, aber seine sture Miene wird weicher. Er nickt, wischt sich mit dem Unterarm durchs Gesicht und dreht sich zu Chaz herum.
»Tut mir leid, Chaz.«
»Schon gut, mein Süßer.« Chaz schmilzt dahin. Wenn Sasha sich entschuldigt, ist er unwiderstehlich.
»Gut gemacht, Kumpel. Jetzt iss dein Frühstück. Mit leerem Magen lässt sich nicht gut reden.« Ich werfe Chaz einen entschuldigenden Blick zu.
Sie schüttelt abwehrend den Kopf und steckt die Sandwiches in einen Frischhaltebeutel.
»Ich erledige den Rest. Mach du dich fertig für die Arbeit.«
Chaz schaut mich dankbar an und verschwindet im Schlafzimmer.
Beide Kinder sind mit ihrem Müsli fertig und sehen mich mit großen Augen an. Kurz überlege ich, ob ich mit Sasha allein reden soll, aber letztlich ist es besser, wenn Jenny es mitbekommt, dann können sie später darüber reden. Ich lade die Spülmaschine und lege los.
»Sasha, dein Dad und ich haben uns gestern richtig gut unterhalten. Ich denke, wir kommen voran.«
»Habt ihr euch wieder lieb?«, fragt Sasha. Jenny zieht eine angeekelte Grimasse.
»Wir haben uns niemals nicht lieb gehabt, aber wir müssen ein paar Dinge klären. Außerdem arbeitet dein Dad im Moment sehr viel. Er hat eine Menge zu tun, weil er nicht nur seine eigene Arbeit, sondern auch die von Onkel Ivan erledigen muss.« Diese Entschuldigung habe ich schon mal benutzt, aber sicher ist es besser, konsequent bei einer Geschichte zu bleiben.
»Kümmert Dad sich um alle Fischläden?«
»Ja, genau, und du weißt ja, dass es eine Menge Läden sind, stimmt’s?«
»Wir haben zehn Fischgeschäfte«, erklärt Sasha seiner Freundin mit spürbarem Stolz.
»Ich weiß«, sagt Jenny. Sie verdreht die Augen, streckt die Zunge heraus und rutscht von ihrem Hocker herunter. Sie verliert das Interesse und geht in ihr Zimmer.
»Hab noch ein bisschen Geduld, Sasha. Alles wird gut, versprochen!« Warum zum Teufel gebe ich solche Versprechen ab? Jetzt, wo mir die Kontrolle über mein Leben entglitten ist, gibt es keine Garantie, dass ich wirklich Wort halten kann. Aber ich muss ihm eine Perspektive bieten. »Ich sorge dafür, dass du heute nach der Schule mit deinem Dad telefonieren kannst. Okay?«
»Okay, Mum.«
Wie lange wird Sasha noch glauben, dass sein Vater seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er Fischgeschäfte führt? An Santa Claus, den Osterhasen und die Zahnfee glaubt er schon seit Jahren nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass in absehbarer Zeit die nächste Illusion zerplatzt.