Obwohl der Regen endlich aufgehört hat, ist die Straße rutschig. Ich fahre langsam an die Kreuzung heran, ehe ich am Stoppschild halte. Nie wieder Alkohol! Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat, nach dem Champagner beim Essen auch noch die ganze Flasche Rosé zu trinken. Noch immer dröhnt mir der Schädel. Vielleicht wollte ich alle Gedanken auslöschen.
Die Autoschlange vor der Schule zieht sich über den halben Block. Gerade habe ich das Stoppschild hinter mir, als ein kleines Mädchen mit hüpfenden Pferdeschwänzen direkt vor mir auf die Straße läuft. Sofort trete ich auf die Bremse, kein Problem, weil ich sowieso schon Schritttempo fahre. Plötzlich höre ich einen lauten Knall, mein Auto macht einen Satz nach vorn. Ich gerate ins Rutschen und komme keinen halben Meter vor dem Mädchen zum Stehen.
Erschreckt lässt die Kleine ihre Schultasche fallen und fängt an zu weinen. Eine der Mütter läuft zu ihr hin, nimmt sie auf den Arm und wirft mir einen vernichtenden Blick zu. Ich zittere. Das war knapp. Ich schaue in den Rückspiegel und erkenne den Mann, der aus dem weißen Lieferwagen hinter mir steigt. Es ist Josef, Milans jüngerer Bruder. Er wirkt beschämt. Was macht er hier? Er hat keine Enkel, die er abholen könnte.
Ich winke und deute auf eine Stelle am Bordstein, wo wir beide ranfahren können. Dort angekommen, steige ich aus und gehe die paar Schritte zu ihm zurück.
»Josef?«
Er ist knallrot angelaufen und stottert.
»Ich fahre runter die Straße und bumm, stoße zusammen mit dir. Tut mir leid, Amy. Die Jungs bringen in Ordnung, wie neu. Du merkst nicht mal.«
Ich nehme den Schaden in Augenschein. So schlimm ist es nicht, nur eine verbeulte Stoßstange. Vor allem ist dem kleinen Mädchen nichts passiert. Hoffentlich lernt sie daraus, dass sie in Zukunft nicht einfach auf die Straße rennt. Aber ich fühle mich noch etwas zittrig, und Josef benimmt sich seltsam, als hätte ich ihn auf frischer Tat ertappt. Aber wobei? Dann plötzlich dämmert es mir: Johnny hat mir gesagt, Marko würde mich im Auge behalten. Jetzt also auch Josef.
»Bist du mir gefolgt, Josef?«
Er stammelt irgendetwas über Einkäufe für seine Frau, die er erledigen wollte. Ich hake nicht nach, aber es kann unmöglich stimmen. Mary würde Josef nie die Verantwortung für einen Einkaufswagen überlassen. Johnny wird mir erklären müssen, was das zu bedeuten hat.
Sasha entdeckt mich, als Josef gerade losfährt. Mit missmutiger Miene klettert er auf die Rückbank. Ich drehe mich um und tätschele sein Bein, dann blinke ich und fädele in den Verkehr ein.
»Mum, du und Dad, lasst ihr euch scheiden, so wie Timmys Eltern?«
Seine Worte treffen mich wie ein Schlag. Ich fahre noch einmal an den Straßenrand, damit ich mich umdrehen und ihm ins Gesicht sehen kann.
»Sasha, mein Liebling. Es ist so, wie ich heute Morgen gesagt habe. Dein Dad und ich klären die Dinge. Du musst mir vertrauen und mir noch ein bisschen Zeit lassen.«
»Ich glaube, du lügst mich an. Hast du Dad etwas Schlimmes getan?«
Im ersten Moment bin ich fix und fertig, es ist so unfair, dass mein Sohn mich für die Situation verantwortlich macht. Aber ich habe auch Schuldgefühle, weil ich ihn tatsächlich angelogen habe. Ich wage kaum, mir vorzustellen, wie er reagiert, falls die Trennung doch endgültig ist.
»Möchtest du deinen Dad heute Nachmittag sehen?«
Sein Lächeln bricht mir das Herz.
»Ich sehe zu, ob ich es arrangieren kann, okay?« Schon bin ich aus dem Wagen.
Johnny geht sofort ans Telefon. »Hallo, Schatz. Wie geht’s dir?«
»Ich bin richtig sauer.« Ich spreche leise, aber Johnny soll merken, dass ich wütend bin.
»Was ist los?« Er klingt besorgt. Gut so.
»Gestern war es Marko. Heute Josef. Er ist mir gerade vor der Schule reingefahren, gerade eben! Fast hätte ich ein kleines Mädchen überfahren!« Ich gebe mir Mühe, dass Sasha nichts mitbekommt. »Ich war damit einverstanden, dass Marko mich im Auge behält, er ist wenigstens diskret. Aber eigentlich weiß ich nicht mal, warum ich überhaupt zugestimmt habe. Was ist hier los? Warum soll jemand auf mich aufpassen?«
»Okay, beruhige dich, ich erzähle es dir. Aber du musst versprechen, nicht wütend zu werden.«
»Das bin ich schon! Ist dir das noch nicht aufgefallen?« Jetzt erhebe ich die Stimme doch. Ich sehe mich um: Sasha starrt durchs Fenster. Ich lächele ihn an und atme tief durch.
»Schon kapiert«, sagt Johnny. »Aber es geht um deine und Sashas Sicherheit.«
Ich drehe mich um, damit Sasha mein Gesicht nicht sieht. »Sicherheit wovor, Johnny? Raus damit. Und wenn du mich jetzt anlügst, ist es vorbei. Hast. Du. Verstanden? Vorbei.«
»Ja, Ames, ich hab’s kapiert. Also, ich hab gesehen, wie dir gestern jemand gefolgt ist, als wir das Restaurant verlassen haben. Vielleicht hab ich es mir nur eingebildet, aber ich hab die Truppe als Aufpasser eingeteilt, bloß für die nächsten Tage. Um auf Nummer sicher zu gehen.«
»Wer könnte mich verfolgen, Johnny?« Ich bin nicht mehr wütend, sondern verängstigt.
»Ich glaube, dass jemand versucht, Ärger zwischen den Gangs zu schüren. Aber ernsthaft, mach dir keine Sorgen. Alles unter Kontrolle.«
Johnny gibt sich große Mühe, entspannt zu klingen, aber es gelingt ihm nicht.
»Unter Kontrolle, tatsächlich?«, frage ich in drohendem Ton. »Dein Bruder ist vor seinem Haus erschossen worden. Dann die Schüsse auf unser Haus. Dem Nachbarshund wurde die Kehle aufgeschlitzt. Und bei jeder Müllabfuhr wird ein ›bekanntes Gangmitglied‹ ermordet. Und jetzt muss ich auch noch hören, dass ich verfolgt werde. Das nennst du UNTER KONTROLLE?«
»Schatz, beruhige dich. Vertrau mir. Was hältst du davon, wenn ich gleich rüberkomme? Wo bist du?«
»Ich bin einen Block von der Schule entfernt, wo ich fast ein kleines Mädchen überfahren hätte, weil dein Onkel einen Auffahrunfall gebaut hat. Ich stehe neben dem Auto, damit ich mit meinem verdammten Gangster-Ehemann sprechen kann, ohne dass unser Sohn uns streiten hört. Halt dich bloß von uns fern. Entweder du bringst auf der Stelle alles in Ordnung, oder unsere Ehe ist zu Ende.«
Ich steige wieder ein und sage Sasha, sein Vater sei beschäftigt, er müsse bis zum Wochenende warten. Wer einmal lügt …
Auf dem Rückweg zum Haus meiner Eltern weint Sasha auf dem Rücksitz still vor sich hin. Ich bin zu wütend zum Weinen.