Nach der Aufführung haben wir die Kinder in Chaz’ Wohnung gebracht. Beide sind herumgelaufen, als hätten sie drei Gläser Likör intus, und dann in dem kleinen Kabuff eingeschlafen, das sie sich unter dem Küchentresen eingerichtet haben.
Gestern Abend haben wir Chaz’ Datingprofil eingerichtet, jetzt sehen wir uns die Männer an, die ihr inzwischen vorgeschlagen wurden, und amüsieren uns ein bisschen. Aber ich bin nicht bei der Sache und keine besonders anregende Gesellschaft.
»Du bist ja ganz woanders, meine Liebe. Was ist los?«, fragt Chaz.
»Johnny hat gesagt, ich soll Sasha morgen nicht zur Schule schicken. Heute Abend läuft dieser Job, er scheint mit irgendwelchen Nachwehen zu rechnen.«
»Nachwehen? Heilige Scheiße! Ernsthaft?« Sie klappt ihren Laptop zu und nimmt meine Hände. »Wir sollten zur Polizei gehen. Die Kinder ins Auto packen und zum Revier fahren, auf der Stelle.«
»Und was sollen wir sagen? Wir glauben, mein Mann könnte heute Abend den Anführer der örtlichen Serbengang ermorden? Falls Sie ihn irgendwo sehen, seien Sie bitte so nett und bringen ihn heil nach Hause?«
»Glaubst du wirklich, dass er das vorhat?« Sie wirkt verängstigt.
»Nein, eigentlich nicht.« Ich seufze. »Aber irgendwas hat er vor.«
»Wir könnten sagen, du fühlst dich bedroht.«
»Und warum fühlen Sie sich bedroht, Ma’am?«, sage ich mit tiefer Stimme. »Was könnte ich sagen, ohne Johnny und seine Männer in Schwierigkeiten zu bringen? Ich will Sasha beschützen, aber ich hab nicht vor, Johnny vor den Bus zu stoßen.«
»Was können wir dann tun?« Chaz sieht sich um, als überlege sie, wie man die Wohnung besser gegen Angreifer schützen könne.
Wenn mir tatsächlich jemand gefolgt ist, bringt meine bloße Anwesenheit hier auch Chaz und Jenny in Gefahr. Der Gedanke, dass diesen wunderbaren Mädels etwas zustoßen könnte, bringt mich zu einem Entschluss.
»Morgen früh sage ich Sasha, dass er nicht zur Schule muss, weil wir an die Küste fahren und dort seinen Vater treffen. Ich werfe unsere Koffer in den Wagen und fahre nach dem Berufsverkehr los. Um die Mittagszeit müssten wir in Kempsey sein. Und zum Abendessen in der Gegend von Byron.«
»Wie lange willst du bleiben?« Chaz sieht aus, als versuche sie, nicht zu weinen.
»Ich weiß nicht. Bis Weihnachten?« Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.
»Okay, das sind keine zwei Wochen. Hoffen wir, dass sich bis dahin alles beruhigt hat.«
Sasha und ich müssen von hier weg, sofort. Ich hebe das Laken hoch, hinter dem die beiden Kinder schlafen, und ziehe Sasha vorsichtig hoch. Immer noch im Halbschlaf, lehnt er sich an mich.
»Bleib doch hier. Ich kann die Matratze wieder aufblasen, dauert nur eine Minute.« Chaz stellt sich mir in den Weg und legt mir eine Hand auf die Schulter.
Auf keinen Fall. »Wir kommen schon klar.« Ich sehe ihr in die Augen. »Ehrlich.«
»Ich will hierbleiben, Mum«, protestiert Sasha leise.
»Ich habe morgen eine Überraschung für dich, aber dafür müssen wir jetzt nach Hause fahren.«
»Kommt Dad auch nach Hause?«
»Bald. Komm, Junge, los geht’s. Dann können Chaz und Jenny ins Bett.«
Johnny wollte, dass wir hierbleiben, aber ich kann meine beste Freundin nicht in Gefahr bringen. Abgesehen davon will ich gut schlafen – was auf einer aufblasbaren Matratze nicht funktioniert. Morgen steht mir eine lange Autofahrt bevor.
Ich folge dem schläfrigen Sasha zum Mini, helfe ihm auf den Rücksitz und schnalle ihn an.
Als ich mich auf den Weg zum Haus von Mum und Dad mache, arbeitet mein Hirn auf Hochtouren. Ich darf es nicht mehr aufschieben. Wie kann ich hoffen, dass sich irgendetwas ändert, wenn ich mein Ultimatum nicht durchhalte? Johnny darf keinen Zweifel daran haben, dass ich mit Sasha verschwinde – sonst löst er sich nie von seinem Vater.
Heute Abend noch packe ich die Koffer, gleich morgen früh rufe ich Mrs Glen an, Sashas Lehrerin. Wenn wir den ganzen Tag durchfahren, können wir am Samstag im kühlen blauen Ozean schwimmen.
Eine Straße von der Wohnanlage meiner Eltern entfernt halte ich an einem Stoppschild. Von links nähert sich eine Harley. Ich will sie vorbeilassen, aber sie bremst ab und bleibt vor mir stehen. Was soll das? Dann hält ein schwarzer SUV gleich neben mir auf der falschen Seite. Ich bin eingezwängt. Ein riesenhafter Mann steigt aus, beugt sich herunter und schaut zu mir herein. Er trägt eine schwarze Skimaske. Ich sehe nur zwei blaue Augen, die mich anstarren.
Es fühlt sich an wie ein Sturz aus großer Höhe. Er richtet eine Pistole auf mich, klopft zweimal gegen das Fenster und zielt dann auf Sasha auf dem Rücksitz. Sasha gibt keinen Laut von sich. Offenbar schläft er. Lieber Gott, lass ihn jetzt nicht aufwachen und sehen, wie ihn der Mann mit einer Pistole bedroht.
Ich bin wie gelähmt, meine Ohren rauschen. Wieder klopft der Typ mit der Waffe ans Fenster. Dann richtet er die Pistole wieder auf Sasha. Endlich kapiere ich es.
Ich öffne das Fenster.
»Was immer Sie wollen, Sie bekommen es. Bitte tun Sie meinem Sohn nichts.« Ich spreche leise, um Sasha auf keinen Fall zu wecken.
»Alle beide, hinten einsteigen.« Mit der Pistole deutet er auf den SUV. »Sofort.«
Mir fällt der Spruch ein, dass man nie und unter keinen Umständen in den Wagen eines Fremden steigen soll. Etwas Schlimmeres gibt’s nicht. Lauf! Schrei! Was auch immer. Aber steig bloß nicht in dieses Auto!
Ich höre, wie die Tür hinter mir aufgeht, und wirbele herum, um Sasha zu sagen, er solle wieder einsteigen. Aber der Typ von der Harley ist schon dabei, Sashas Sicherheitsgurt zu lösen. Durch das Öffnen der Tür hat sich das Licht eingeschaltet, sodass ich ihn sehen kann. Er ist groß und dünn. Über seiner Skimaske hält er sich einen Finger an die Lippen. Oberhalb seiner schwarzen Lederhandschuhe schlängeln sich Tattoos über die dürren Arme und verschwinden dann unter einer schwarzen Bikerweste. Ein Schraubstock schließt sich um mein Herz. Sasha rührt sich nicht. Der Tätowierte hält ihn auf den Armen. Er trägt meinen Jungen weg! Ich greife nach hinten, aber die Tür wird zugeschlagen. Der Mann bringt Sasha um das Heck meines Wagens herum zur offenen Hintertür des SUVs.
Tief in meinem Inneren bildet sich ein Schrei und bricht heraus. Sasha wacht auf und flippt sofort aus. Er schlägt auf den Kerl ein, der ihn auf den Rücksitz wirft und die Tür schließt. Die Fenster sind getönt. Ich kann meinen Sohn nicht sehen.
Der Tätowierte wendet sich mir zu. »Bleibst du hier oder kommst du mit?«
Als hätte ich die Wahl.
So schnell ich kann, öffne ich die Tür und hoffe, dem ersten Mann, der immer noch zwischen meinem Auto und dem SUV steht, einen ordentlichen Schlag zu verpassen. Aber es fühlt sich an, als hätte ich die Tür gegen eine Mauer geschlagen. Er zuckt nicht mal. Immerhin tritt er ein Stück zurück, um mir Platz zu machen. Ich schnappe mir die Handtasche und hoffe, an mein Handy zu kommen, besser noch an meine Pistole. Der Tätowierte scheint meine Gedanken zu lesen.
»Gib sie her, Amy. Sofort.«
Er kennt meinen Namen. Mir ist kotzübel. Ich reiche ihm meine Tasche.
Er schiebt die Hand hinein und nimmt das Handy heraus.
»PIN-Code, Amy?«
Mit zittriger Stimme nenne ich ihm die Ziffern. Ich wünschte, er würde aufhören, in diesem unheimlichen Ton meinen Namen auszusprechen.
»Danke. Und jetzt chteig hinten ein, Amy. Sei chtill, und niemandem passiert was. Okay?«
Ich setze mich neben Sasha, der zitternd und mit weißem Gesicht am anderen Ende der Rückbank kauert. Ich rutsche rüber und nehme ihn in die Arme.
Im Rückspiegel werde ich von einem weiteren blauen Augenpaar hinter einer Skimaske gemustert. Der Fahrer kommt mir so riesig vor wie der erste Mann. Ich habe den Eindruck, wir fahren los, aber es ist eine Illusion. Mein eigenes Auto wird zurückgesetzt und geparkt. Wahrscheinlich von dem Kerl mit den Tattoos.
Ich drücke Sasha fest an mich und wiege ihn hin und her.
»Keine Angst. Ich bin hier. Keiner wird dir was tun.«
»Genau. Ihr müsst nur das hier nehmen.« Der erste Mann sitzt jetzt neben dem Fahrer, dreht sich zu uns um und streckt uns zwei Streifen Klebeband entgegen. »Benutz sie als Knebel. Erst der Junge, dann du.«
Als ich zögere, taucht seine Pistole zwischen den Vordersitzen auf, er zielt auf mich. Sasha fängt an zu wimmern. Ich nehme das Klebeband, die Pistole verschwindet. Dann streiche ich Sasha die Haare aus dem Gesicht, klebe ihm das Band auf den Mund und versuche, dabei nicht zu schluchzen. Anschließend küsse ich ihn auf die Wange und knebele mich selbst. Das Band ist hart und klebt ziemlich gründlich. Es wird beim Abziehen wehtun.
»Hände nach vorn. Diesmal du zuerst.« Schwarzer Kabelbinder, wie die Bänder, mit denen man die Müllsäcke verschließt, nur größer.
Ich strecke die Hände aus. Er fesselt mich. Fest.
»Jetzt der Junge.«
Sasha hat zugeschaut, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Er streckt die Arme vor.
»Ich ziehe euch Säcke über den Kopf. Dann legt ihr euch auf die Rückbank.«
Als er mir etwas Schwarzes über den Kopf zieht, rieche ich ungewaschene Haare und versuche, nicht zu würgen. Durch den Stoff dringt noch etwas Licht, aber nicht genug. Ich zittere am ganzen Körper und muss die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klappern.
»Hinlegen. Sofort!«
Ich mache es mir so bequem wie eben möglich, Sasha liegt vor mir, zwischen meinen gefesselten Armen. Der Sicherheitsgurt schneidet mir in den Rücken. Wieder drücke ich Sasha, um ihn ein bisschen zu beruhigen, aber er muss spüren, wie mein Herz eine Million Mal pro Sekunde schlägt. Er hebt die gefesselten Hände und klopft mir auf die Schulter, als wolle er sagen: alles okay. Dabei zittert er wie ein frisch geschlüpftes Küken. Dann fährt der Wagen los.