Ich springe aus dem Taxi raus, noch ehe es vor dem Haus meiner Eltern richtig zum Stehen kommt. Soll Dad den Fahrer bezahlen. Ich wähle Amys Nummer und tigere am Straßenrand auf und ab, in den Schatten des Jacarandabaums und wieder hinaus, die letzten purpurfarbenen Blütenblätter unter meinen Schuhsohlen. Amys Telefon klingelt immer weiter. Ich drehe mich um und stoße fast mit Dad zusammen, der mich anstarrt.

»Was ist los? Warum das tätowierte Stück Scheiße grinst so komisch?« Also hat er es auch bemerkt.

»Ich weiß nicht, Dad, aber irgendwie hab ich das Gefühl, es hat mit Amy und Sasha zu tun. Sie geht nicht ans Telefon. Ich fahre jetzt rüber zur Schule und höre nach, ob Sasha heute Morgen gekommen ist.«

»Ich fahre mit.« Dads Miene verrät mir, dass Widerspruch zwecklos ist.

Ich bete nicht oft. Aber jetzt, auf der zehnminütigen Fahrt vom Haus meiner Eltern zur All Saints, tue ich es. Ich schaue zu Dad hinüber. Er hat die Augen geschlossen und murmelt still vor sich hin. Vielleicht betet er auch.

Auf dem Schulgelände herrscht Ruhe. Alle Kinder sind in den Klassen. Vom letzten Elternabend weiß ich noch, wo Sashas Klassenzimmer liegt. Ich werfe einen Blick durch das kleine rechteckige Fenster in der Tür und schaue mir die gut zwanzig Kinder an. Sasha entdecke ich nicht. Ich klopfe trotzdem, die Lehrerin schaut herüber. Ich erkenne sie wieder, groß und elegant, mit welligen, blonden, schulterlangen Haaren. Sie sagt etwas zu ihren Schülern und kommt dann zu uns heraus. Sie wirkt nervös. Das passiert häufiger, wenn mein Dad und ich irgendwo auftauchen.

»Hi, Miss …« fange ich an und hoffe, ihr Name fällt mir ein, bevor ich den Satz zu Ende gebracht habe.

»Mrs Glen, Robbie Glen«, sagt sie und rückt ihre ovale Schildpattbrille zurecht. »Sie kommen mir bekannt vor.« Sie mustert mich gründlicher und scheint meine Besorgnis zu spüren.

Ich strecke den Arm aus und schüttele ihr vorsichtig die Hand.

»Johnny Novak, Sashas Vater. Wir sind uns letztes Jahr bei einem Elternabend begegnet. Das ist Sashas Großvater, Milan. Wir suchen Amy und Sasha.« Ich halte mein Handy hoch, als wäre es ein Beweisstück. »Amy geht nicht ans Telefon.«

»Sasha ist heute nicht gekommen, Amy hat ihn nicht entschuldigt. Ich habe während der Teepause im Büro nachgefragt.«

Ich weiß, dass ich Amy gesagt habe, sie solle Sasha heute aus der Schule lassen. Trotzdem spüre ich eine zunehmende Panik, meine Schultern verspannen sich. Wo sind sie?

»Soll ich in der Klasse fragen, ob jemand weiß, wo Sasha sein könnte?«, bietet sie freundlich an. »Man weiß ja nie, Kinder haben große Ohren.«

Dad legt mir seine fleischige Hand auf die Schulter, was mich verwirrt. »Ja, ist gute Idee. Bitte fragen die Kinder.«

Sie geht wieder hinein und lässt die Tür offen.

»Seine Mum und meine sind gute Freundinnen. Wir waren gestern nach der Aufführung noch zusammen. Mum weiß sicher Bescheid«, erklärt ein rothaariges Mädchen, in dem ich Chaz’ Tochter Jenny erkenne, mit hochgerecktem Arm.

»Wahrscheinlich hat sein Vater ihn entführt. Sasha glaubt nämlich, seine Eltern würden sich scheiden lassen, wie meine«, sagt ein nerdig wirkender Junge mit dicken Brillengläsern.

»Nein, so ist es nicht, Timmy. Sashas Vater ist der nette Mann, der da drüben steht.« Sie zeigt in unsere Richtung, sämtliche Blicke wenden sich Dad und mir zu. Die Kinder wirken nicht überzeugt und brechen in nervöses Geplapper aus. Mrs Glen hebt die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, kommt zu uns zurück und schließt die Tür hinter sich.

»Ich glaube, von den Kindern erfahren wir nicht mehr. Haben Sie es bei Charlie Tyler versucht, Jennys Mutter? Oder bei Amys Eltern?«

Ich nicke und überlege, welche Fragen ich noch stellen könnte.

»Bitte geben Sie der Schule Bescheid, sobald Sie wissen, was los ist. Meinen Sie, wir sollten die Polizei verständigen?«, fragt Mrs Glen ängstlich.

»Nein, nein. Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt übertrieben.« Ich hoffe, ich klinge einigermaßen beruhigend. »Sicher ruft sie bald zurück, und alles löst sich in Wohlgefallen auf. Aber ich gebe Ihnen auf jeden Fall Bescheid. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mrs Glen.«

»Gut, wie Sie meinen.«

»Ja, das meine ich.« Mir ist klar, dass meine verschwitzten Hände mich verraten würden, also verabschiede ich mich mit einem unbeholfenen Winken.

Auf dem Rückweg zum Jeep rufe ich Chaz an. »Chaz, hi, hier ist Johnny.«

»Gut, ich wollte dich nämlich auch gerade anrufen. Ich mache mir Sorgen wegen Amy. Sie geht nicht ans Telefon. Du weißt, dass sie wegfahren wollte, oder?«

Ich reibe mir die Augen. »Ja, sie hat gesagt, sie wollte sich aus dem Staub machen.«

Dad bleibt stehen und schaut mich an. Ich hebe die Hand.

»Aber warum sollte sie nicht drangehen, wenn du anrufst, Chaz?«

»Genau deshalb mache ich mir ja Sorgen. Natürlich gibt es zwischen hier und Newcastle mehrere Funklöcher, aber seit acht Uhr habe ich es jede halbe Stunde versucht.«

»Sie hat mich kurz nach zehn gestern Abend angerufen.« Ich versuche, meine Panik zu verbergen.

»Ungefähr um die Zeit sind Amy und Sasha bei mir aufgebrochen.«

»Ich hatte sie gebeten, bei dir zu übernachten. Warum hat sie das nicht getan?« Ich merke, dass ich aufgebracht klinge.

Nach kurzem Zögern antwortet sie. »Ich hab ihr auch vorgeschlagen, hier zu schlafen, Johnny, aber sie wollte nach Hause und packen. Weißt du etwas, was du mir nicht sagst? Ist sie in Gefahr?« Ihre Stimme klingt jetzt deutlich schriller.

»Nein, wirklich nicht.« Ich belüge sie nach Strich und Faden. »Wahrscheinlich geht es ihnen gut. Vielleicht hat sie ihr Handy gestern wegen der Aufführung stumm geschaltet und heute Morgen nicht daran gedacht, es wieder zu ändern. Sobald sie irgendwo zum Mittagessen hält, bemerkt sie die ganzen verpassten Anrufe.«

»Ja, vielleicht.« Chaz klingt nachdenklich. »Gib mir sofort Bescheid, wenn du von ihr hörst.«

»Klar, du aber auch, okay?«

»Okay, Johnny.«

Als Dad und ich gerade in den Jeep steigen, klingelt mein Telefon. Es ist Amy. Gott sei Dank.

»Vermisst du was, Chonny?« Als ich die ölige Stimme höre, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Mit zittrigen Fingern stelle ich das Telefon laut. Immerhin schaffe ich es, halbwegs ruhig zu klingen.

»Solltest du den einen Anruf, der dir zusteht, nicht besser für deinen Anwalt aufheben, Slater?«

»Ich brauch keinen Anwalt, hab nichts verbrochen. Bin längst wieder raus, Mann. Aber danke, dass du dir meinen Kopf zerbrichst.«

»Was willst du?« Ich kenne die Antwort schon. Mein ganzer Körper scheint verrückt zu spielen. Ich öffne das Fenster, weil ich kaum Luft bekomme.

»Könnte sein, dass du was Wertvolles verloren hast.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Natürlich weiß ich es, schließlich benutzt er Amys Handy.

»Dann erkläre ich es für Idioten. Die Bullen cheinen zu glauben, dass ich und meine Jungs irgendwas damit zu tun haben, dass gestern einer aus Vucavetchs Truppe erchossen wurde. Mitten auf der Marsh Street Bridch. Es heißt auch, wir wären mit der Ladung des Transporters verchwunden. Was hatte er denn geladen, Chonny?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, wiederhole ich wie ein dämlicher Papagei.

»Natürlich nicht. Immer das Unchuldslamm, chtimmt’s, Chonny? An dir bleibt nie was hängen. Wie bei diesen neumodichen Bratpfannen. Aber egal, ist alles nicht so wichtig. Weil ich was hab, was du willst.«

»Und was sollte das sein?«

Slater senkt die Stimme zu einem Flüstern.

»Die eine Sache hat einen winzigen Leberfleck hinter dem linken Ohr und riecht wie ein Engel. Die andere riecht nicht so gut, hat für einen Jungen in dem Alter aber einen ziemlich kräftigen Chlag.«

Am liebsten würde ich den ekelhaften Dreckskerl, der so über meine Frau und meinen Sohn redet, gleich durchs Telefon erwürgen. Dad sieht aus, als würde er jeden Moment einen Herzinfarkt bekommen.

»Du mieser dreckiger Bastard!«, brülle ich ins Handy. »Ich bringe dich um!«

»Klar doch. Ich hab’s dir angekündigt, aber du wolltest ja nichts davon wissen. Ich chätze, du hast deinem Dad meine Nachricht gar nicht erst ausgerichtet. Und jetzt chaff deinen Arch zurück aufs Polizeirevier und sag MacPherson, du hättest Vucavetchs Sohn erchossen. Dann hattest du Chtreit mit deinem Bruder und hast ihn auch umgebracht, und dann Tony Fazzini, damit es nach einer Serie aussieht. Chaff mir MacPherson von der Pelle. Und erzähl ihm auch gleich, warum du letzte Nacht auf der Brücke warst und diesen Kanaken erchossen hast. Alle vier Morde müssen auf dein Konto gehen, Chonny Novak.«

Meine Gedanken rattern. Ich höre die Pausenglocke. Schüler mit Lunchpaketen strömen aus den Klassenzimmern auf den Schulhof. Fieberhaft suche ich nach Sasha – er muss einfach hier sein, in Sicherheit sein. Aber wir wissen längst, dass es nicht so ist.

»Ach, Chonny? Wenn du bei den Bullen fertig bist, soll dein Dad mir und meinen Jungs bringen, was ihr Stanislav gestern weggenommen habt. Höchstwahrcheinlich Drogen, chtimmt’s? Und wohl eine ganze Menge, wenn Stanislav einen Transporter dafür gebraucht hat.«

Meine Wut ist wie ein Feuer, das auch meine Angst anfacht.

»Ich werde dich finden und dir mit bloßen Händen das Herz rausreißen.«

»Klar doch. Du musst alle Morde gechtehen. Ich will es in der Zeitung lesen. Dann bringt Milan mir die Drogen, ich gebe ihm Amy und den Jungen. Ganz einfach, Chonny.«

»Du schmieriger Scheißkerl, ich komme dich holen.«

»Quatch du nur. Und jetzt tu, was ich gesagt hab, sonst chicke ich dir deinen Jungen in Einzelteilen zurück. Und Amy behalte ich für mich, die ist heiß. Denk daran, Chonny, im Gegensatz zu dir halte ich meine Verchprechen.« Damit beendet der bösartige Dreckskerl das Gespräch.