Es ist genau vier Uhr nachmittags, als ich mit Josefs Transporter in die Straße einbiege, in der Ink Slater wohnt. Wir hatten keine Zeit, um ein Auto zu stehlen, und müssen uns mit falschen Nummernschildern begnügen. Neben mir sitzt Anto mit finsterer Miene, hinten pfeift Marko leise vor sich hin. Unsere neue Standardbesetzung.
In der Einfahrt steht kein Auto, aber das Garagentor ist geschlossen. Wir können nicht wissen, ob Slater oder seine Großmutter zu Hause sind. Aber ich wette, dass er sich dort aufhält, wo er Amy und Sasha versteckt hat. Sobald ich anfange, mir Gedanken darüber zu machen, was er mit meiner Frau und meinem Sohn anstellen könnte, wird mir schwarz vor Augen. Ich atme tief durch, schiebe alle Gedanken beiseite und konzentriere mich nur auf das, was wir jetzt vorhaben.
Wir fahren in die Einfahrt, bis dicht vors Garagentor, dann werfe ich einen Blick in den Außenspiegel. Jeder Passant wird das Heck des Lieferwagens sehen, aber nicht die alte Dame, die aus ihrem Haus geschleppt wird.
Zusammen mit Anto gehe ich zur Hintertür. Er drückt seine Lieblings-Schrotflinte dicht ans Bein, ich habe meine Glock. Wenn Slater an die Tür kommt, verpasse ich ihm eine Kugel direkt ins Herz. Anto stellt sich links neben die Tür, sodass er nicht zu sehen ist. Marko ist beim Transporter geblieben, um die Einfahrt im Blick zu behalten. Die grüne Farbe an Granny Slaters Hintertür ist stellenweise abgeplatzt. Ich verberge die Glock hinter dem Rücken und klopfe dreimal. Nichts. Ich versuche es noch mal. Als ich langsame Schritte höre, werfe ich Anto einen schnellen Blick zu. Dann knipse ich mein breitestes Lächeln an. Eine winzige alte Frau öffnet die Tür zu einer gelben Bakelit-Küche, die noch aus der Zeit stammen dürfte, als das Häuschen gebaut wurde.
»Hallo, Mrs Slater, erinnern Sie sich noch? Ich bin Johnny, ein Freund von Ink. Ist er hier?«
»Nein, ist er nicht.« Sie wirkt misstrauisch. »Ich kenne dich nicht. Was zum Teufel willst du?«
Lächelnd trete ich ein, wobei ich Granny Slater einfach beiseitedränge. Überrascht, dass ich ungefragt ihr Haus betrete, weicht sie zurück. Ebenso überrascht reagiert sie auf meine Pistole und den anderen großen Kerl mit einer noch größeren Waffe, der jetzt in der offenen Tür auftaucht. Mit einem Mal wirkt sie angeschlagen, alt und schwach. Sie taumelt noch ein paar Schritte zurück und stützt sich an der Arbeitsplatte ab. Ich komme mir hundsgemein vor.
»Was wollt ihr? Ihr kennt Ian, meinen Enkel? Wenn er davon erfährt, wird er euch beide umbringen.« Ihr Gesicht ist kreideweiß. Ein kurzer Blick zu Anto, und ich sehe, dass auch er sich in Grund und Boden schämt. Ich gebe mir Mühe, so harmlos wie möglich zu wirken, was mit einer Waffe in der Hand nicht so einfach ist. Also sichere ich sie und schiebe sie in den Bund meiner Jeans. Antos Schrotflinte sollte reichen.
Anto reicht mir den Plastikbeutel mit alten Strümpfen und Halstüchern, die Mum uns aus Sorge um die empfindliche Haut der alten Frau mitgegeben hat.
»Wir wollen Ihnen nicht wehtun. Wir wollen Sie nur an einen ruhigen Ort bringen, wo wir uns darüber unterhalten können, was Ihr Enkel so treibt.«
»Warum müssen wir dazu weg? Fragt, was ihr wollt. Ich bleibe hier.« Mit steifen Bewegungen schlurft sie zum Küchentisch, setzt sich hin und wirkt plötzlich stur.
Ich schaue Anto fragend an. Er zuckt die Achseln und bleibt neben der Tür stehen.
»Nein, Mrs Slater, Sie müssen mit uns kommen.«
Halbherzig deutet Anto mit seiner Waffe zur Tür.
»Okay, ich hole meine Handtasche und die Schlüssel, damit wir abschließen können. Heutzutage kann man keinem mehr trauen. Als ich ein Kind war, brauchten wir die Tür nie abzuschließen.« Vor sich hinmurmelnd müht sie sich wieder hoch und geht zu einer Tasche mit Blumenmuster, die auf der Arbeitsfläche liegt. Sie greift nach dem Schlüsselbund gleich daneben und steckt ihn die Tasche, dann dreht sie sich um und schießt auf Anto. Polternd fällt seine Schrotflinte zu Boden.
Die Zeit steht still. Mein bester Kumpel packt sich an die rechte Schulter und starrt die alte Dame verängstigt an. Dann will sie ihre Waffe auf mich richten.
Ich bin so verblüfft wie Anto, aber als Granny Slater ihren Uralt-Revolver hebt, habe ich meine Pistole in der Hand. Sie zieht den Hahn genau in dem Moment zurück, als Marko mit einer Smith & Wesson 9mm in der Tür auftaucht. Granny Slater zögert für den Bruchteil einer Sekunde, dann schwenkt sie die Waffe von mir zu Marko. Sie ist wild entschlossen. Keine Spur mehr von der netten alten Dame, mit der ich eben noch zu tun hatte.
»Nehmen Sie die Waffe runter, Lady, sonst schieße ich. Damit habe ich kein Problem. Ich habe schon alte Damen getötet. Es ist leicht.«
Etwas in Markos Blick bringt Granny Slaters Entschlossenheit ins Wanken. Ihre rechte Hand beginnt zu zittern, als hätte sie plötzlich Probleme mit dem Gewicht des Revolvers. Ich gehe zu ihr, nehme die Waffe aus ihren arthritischen Fingern und reiche sie Marko. Dann schiebe ich die Glock wieder in meinen Hosenbund und führe die alte Dame zu einem Küchenstuhl. Ihr Atem geht schnell, sie wirkt plötzlich angegriffen.
»Anto, setz dich. Marko, unternimm etwas wegen seinem Arm.«
»Sie hat auf mich geschossen! Die alte Frau hat auf mich geschossen!« Anto schaut Granny Slater entgeistert an, als hätte sie sich in einen geflügelten Dämon verwandelt.
Ich schaue in den Schränken nach, bis ich Gläser entdecke, die ich am Spülbecken fülle. Die Hitze hier in der Küche ist erdrückend. Ich reiche Anto und Granny Slater, die jetzt nebeneinander am Küchentisch sitzen, jeweils ein Glas. Ich lasse die alte Dame in Ruhe austrinken, dann fessele ich ihr mit Mums alten Strümpfen vorsichtig die Hände. Das Nylon riecht immer noch leicht nach Fußschweiß, sodass ich zum Knebeln lieber ein Halstuch benutze. Schritt für Schritt erkläre ich ihr, was ich tue. Ihr Atem wird langsamer, sie scheint sich zu beruhigen und mit ihrer Lage abzufinden.
Überall ist Blut. Anto ist blass, der Schweißgeruch vermischt sich mit dem beißenden Gestank des Schießpulvers. Während ich Granny Slater fessele, wickelt Marko einen der Strümpfe um Antos Bizeps, in dem ein kleines Loch zu erkennen ist. Auf der Rückseite des Arms muss ein größeres sein. Marko nimmt ein Geschirrtuch vom Griff des Backofens, presst es auf die Austrittswunde und fixiert es mit einem weiteren Strumpf. Aus einem anderen Geschirrtuch macht er eine Schlinge, schnell und effizient, als hätte er das hundertmal geübt.
Jetzt, wo ich Granny Slater bewegungsunfähig gemacht habe, entdecke ich die Kugel im Türrahmen. Mit meinem Klappmesser bekomme ich sie problemlos heraus. Die Spitze der Kugel ist eingedrückt. Ich lasse sie in meine Tasche fallen, hole unter der Spüle Desinfektionsmittel und Spültücher heraus und wische alle sichtbaren Blutspuren ab. Wenn die Polizei hier hereinplatzt, wird sie kein Luminol versprühen und nach Blutspritzern suchen, sondern nach einer Wagenladung Drogen.
»Ich glaube, wir sind so weit, oder? Fühlen Sie sich einigermaßen, Mrs Slater?« Die alte Dame nickt resigniert, ihr Kampfgeist ist gebrochen.
Anto wirft ihr einen bösen Blick zu, stemmt sich vom Stuhl hoch und verschwindet durch die Hintertür.
Marko schiebt eine Hand unter Granny Slaters Ellbogen und hilft ihr hoch.
»Kommen Sie, Mrs Slater. Tetka Branka wartet auf Sie. Sie wird Ihnen einen schönen Tee machen.«
Stirnrunzelnd sieht die alte Dame zu Marko hoch.
Ich schaue in ihre abgetragen wirkende Handtasche, die ihr Portemonnaie, ein Brillenetui, ein sauberes Taschentuch und einen Schlüsselbund enthält. Den Revolver lege ich dazu. Es bringt nichts, ihn hierzulassen und zu riskieren, dass sie ihn später noch mal auf mich richtet.
Ich suche ein Handy und entdecke es mit einem Ladegerät verbunden auf ihrem Nachttisch. Das Ladegerät nehme ich gleich mit, denn das Handy ist so alt, dass ich wahrscheinlich kein passendes mehr finde.
Dann werfe ich einen Blick in Slaters Schlafzimmer. Das Ecstasy und die Pistole kleben noch unter dem Bett und warten darauf, von der Polizei gefunden zu werden, sobald ich einen Weg gefunden habe, sie hierher zu locken.
In der Küche sammele ich die blutigen Geschirrtücher auf, gehe hinaus und schließe die Tür hinter mir ab. Durch das verstaubte Garagenfenster sehe ich Slaters Harley. Ich rüttele am Türgriff. Abgeschlossen. Einer von Granny Slaters Schlüsseln passt. Drinnen zücke ich mein Klappmesser und schlitze beide Reifen auf. Die Harley neigt sich nach links und fällt dann mit einem hässlichen, teuer klingenden Knirschen zu Boden. Unwillkürlich muss ich grinsen.
Als ich wieder im Wagen sitze, drehe ich mich um und sehe nach Granny Slater. Marko hat sie auf dem am weitesten von der Tür entfernten Sitz untergebracht. Das einzige Fenster dort hinten ist die getönte Heckscheibe. Granny Slater wirkt klein und verängstigt. Ich schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln.
»Keine Sorge, Sie sind bald wieder zu Hause. Versprochen.«
Ich setze zurück und fahre auf die Straße. Es ist später Nachmittag und immer noch glühend heiß. Keine Menschenseele weit und breit. Keine besorgten Nachbarn, die möglicherweise den Schuss gehört haben und nach dem Rechten sehen wollen. Ist heutzutage allen egal, was in ihrer Straße passiert? Ich mache mich auf den Weg zum Haus meiner Eltern. Niemand versucht, die drei Männer aufzuhalten, die gerade eine alte Frau entführt haben. Was zum Teufel ist los mit der Welt?
Dads Garagentor ist offen, sein Hilux steht auf der Straße. Ich fahre direkt in die Garage, Dad schließt das Tor hinter uns. Es ist wie früher, wenn Ivan und ich ein gestohlenes Auto nach Hause gebracht haben. Nur dass es diesmal um eine gestohlene Oma geht.
Langsam bringe ich Mrs Slater ins Haus und führe sie an einen Platz am Küchentisch. Ihre Hände sind immer noch vor dem Bauch gefesselt. Ich nehme ihr den Knebel ab, Mum streicht ihr die dünnen grauen Haare aus dem Gesicht und bietet ihr einen Tee an.
Ich konzentriere mich auf Anto. Dad hat ihn zu einem der Sessel im Wohnzimmer gebracht und ein altes Handtuch unter seinen Arm gelegt. Wir wollen keinen Ärger mit Mum wegen Blutflecken auf den Möbeln.
Ich hole meinem Kumpel ein Bier und ein Schnapsglas, die Rakiaflasche stelle ich in Reichweite seiner linken Hand. Dann nehme ich aus dem Schrank im Bad ein paar Schmerztabletten. Dad telefoniert mit einem alten Kumpel, einem Tierarzt, und organisiert einen Hausbesuch. Sobald ich sicher bin, dass Anto es so bequem wie möglich hat, ziehe ich die eingedrückte Kugel aus der Tasche und reiche sie ihm.
»Vielleicht möchtest du ein kleines Souvenir vom ersten Schuss, den du abbekommen hast … von einer kleinen alten Dame.« Wir müssen beide lachen, aber Anto verzieht vor Schmerz das Gesicht.
»Halt bloß die Klappe, Mann.«
»An deiner Stelle würde ich ordentlich Rakia trinken, bevor der Tierarzt kommt, um dich zusammenzuflicken.«
Mit seiner ungeschickteren linken Hand gießt Anto sich ein Glas ein und verschüttet dabei einen Teil des Schnapses.
Ich gehe zurück in die Garage und höre noch, wie er sich selbst zuprostet.
»Živjeli, Kumpel, živjeli.«