Als der Mercedes in Slaters Straße biegt, fahre ich geradeaus weiter, biege einen Block weiter rechts ab und gleich noch mal. Kurz vor der nächsten Kreuzung finde ich einen Parkplatz. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie Ivans Auto erkennen, ich will nicht von ihren Scheinwerfern erfasst werden, falls sie hier entlangkommen. Von dort, wo ich stehe, sehe ich die roten Rücklichter in der Einfahrt von Granny Slaters Haus. Es ist ziemlich dunkel, aber ich habe den Eindruck, dass jemand – ihr Enkel – Granny Slater aus dem Wagen hilft. Wenn Slater und die Zwillinge hier sind, wer passt dann auf Amy auf?
Mein Handy vibriert. Dad.
»Sasha, er will dir was sagen. Ist wichtig.«
»Okay, Dad, gib ihm das Telefon.«
»Dad? Ich hab eben schon versucht, es dir zu sagen. Ich soll eine Nachricht überbringen. Mummy glaubt, wir waren in einem Partment in King Cross.«
»In Kings Cross?«
»Ja, oder vielleicht im Zentrum. In einem Partment. Nicht in einem richtigen Haus wie unserem. Es gibt eine Menge Treppen, das Haus ist alt. Ich soll dir sagen, es war im dritten Stock, die erste Tür rechts. Alles war richtig alt. Es sind drei Männer. Zwei sind gleich groß und haben dieselbe Stimme, wir glauben, es sind Zwillinge. Sie haben mich mit dem Auto zu dir gebracht. Wir glauben, der dritte Mann ist der Chef. Wir nennen ihn den Tätowierten.«
»Großartig, Sasha. Kannst du dich sonst an irgendwas erinnern?«
»Sie haben uns jeden Tag zu essen gebracht, aber dann hatten wir die Nase voll von Chinesisch und Pizza. Und sie haben uns neue Klamotten gegeben, alte Zeitschriften und einen Ventilator. Und der Tätowierte mag Mum in ihrem neuen Kleid. Er hat ihr Gesicht angefasst, und ich bin auf ihn losgegangen. Ich glaube, er ist wirklich böse. Und in Mummy verliebt. Das ist nicht richtig. Oder, Daddy?«
»Nein, auf keinen Fall. Das ist nicht richtig, Sasha. Ich bringe sie heil und gesund zurück. Toll, dass du dir das alles gemerkt hast. Deine Mum wird stolz auf dich sein.«
Ich beende das Gespräch und lehne mich zurück. Ich werde Ink Slater die Augen ausdrücken, damit er nie wieder einen Blick auf meine Frau werfen kann. Dann schneide ich ihm die Hände ab.
Der Mercedes setzt aus Slaters Einfahrt zurück. Als der Wagen auf mich zukommt, lasse ich mich tief in den Sitz sinken. Er biegt rechts ab, ich folge ihm mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf die Marion Street. Wir fahren Richtung Stadt. Ich achte darauf, dass drei Autos zwischen uns bleiben, aber zu wissen, dass sie wahrscheinlich nach Kings Cross wollen, macht es leichter, die Route vorauszuahnen.
Um halb drei in der Nacht von Samstag auf Sonntag spucken die Kneipen in Kings Cross ihre Gäste aus. Nichts ist mehr wie früher: Sydneys Rotlichtbezirk ist gentrifiziert worden und verwandelt sich in eine teure Wohngegend voller Banker.
Im Schneckentempo schleichen wir durch die Darlinghurst Road, vorbei an der Coke-Werbung. Ich bin zwei Autos hinter dem Mercedes, als er rechts abbiegt. Ein paar weitere Ecken, und sie halten vor einem dreistöckigen Art-déco-Gebäude in einem Viertel, das zu Elizabeth Bay gehört. Kings Cross ist keine offizielle Bezeichnung für einen Stadtteil, eines Tages wird der Name in Vergessenheit geraten sein.
Ich fahre langsamer und setze den Blinker, als würde ich nach einer Parklücke Ausschau halten. Dave steigt aus dem Wagen, schließt die Haustür auf und betritt das Gebäude. Gleich vor dem Haus biege ich in eine Gasse, damit ich nicht an Mick vorbeimuss. Er sitzt im Mercedes, hat die Scheibe heruntergelassen und zündet sich eine Zigarette an.
Ich schnappe mir die Parklücke, die ein anderes Auto gerade freimacht. Endlich habe ich ein bisschen Glück. Ich nehme die Pistole aus dem Handschuhfach, ziehe die Kapuze meines Hoodies hoch und gehe zurück zur Straßenecke. Etwa zwanzig Meter von dem Wohnhaus entfernt stelle ich mich in den Schatten eines Leopardenbaums, mit dem Rücken zum Mercedes, ziehe mein Handy aus der Tasche, lehne mich gegen eine Hauswand und tue so, als würde ich einem Gesprächspartner lauschen. Ich schalte die Kamera in den Selfie-Modus. Jetzt muss ich mich nur ein Stück nach links lehnen, um den geparkten Mercedes und den Bürgersteig zwischen dem Auto und dem Art-déco-Haus im Blick zu behalten.
Fünf Minuten später tritt Dave aus dem Gebäude, geht zum Mercedes und nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Sie reden kurz, dann fährt Mick los. Ich stoße sämtliche Luft aus und spüre, wie ein Glücksgefühl meinen ganzen Körper durchströmt. Sasha hat recht gehabt, Amy ist hier. Ich weiß nicht, wer sie da oben bewacht, aber die Hyde-Zwillinge können es nicht sein, und Slater sitzt wahrscheinlich zu Hause bei seiner Oma.
Ein Stück weiter an der Straße entdecke ich einen Pizzaladen. Ich gehe los und bestelle eine Pizza mit allem. Auf dem Weg zurück zum Haus schlinge ich zwei Stücke herunter. Ich muss mich über mich selbst wundern, aber der Geruch war einfach unwiderstehlich.
Auf den zu einer Doppeltür mit Holzrahmen führenden Stufen bleibe ich stehen und schaue mir die verblassenden Klingelschilder an. Sechs Namen, keiner davon Slater. Als ich gerade beschließe, zurück zum Auto zu gehen und alles Notwendige zu holen, öffnet sich die Tür, ein gut gekleidetes junges Paar spaziert heraus. Sie streiten sich und kümmern sich nicht darum, dass ich nach der zuschlagenden Tür greife und ins Haus trete. Wenn ich jetzt den Keil unter die Tür klemme, kann ich zum Auto zurück, die Waffe und die Drogen holen. Aber in der Zeit könnte jemand ins Haus gehen oder herauskommen, den Keil entfernen, und die Chance wäre dahin. Scheiße. Amy zu retten, ist jetzt das Wichtigste. Alles andere, was ich geplant habe, wäre ein Bonus.
Ich gehe die Treppe hinauf. Buntglasfenster ziehen sich drei Stockwerke hoch, durch das Licht der Straßenlaternen sind die Farben zu erkennen. Über die Mitte der Treppe zieht sich ein verschlissener roter Läufer. Wie mag es sich anfühlen, in so einem schönen Haus zu wohnen? Und was zum Teufel hat jemand wie Ink Slater hier zu suchen?
Auf der dritten Etage sehe ich gleich rechts die Tür mit der Aufschrift 3A. Hier wohnt angeblich ein Mr Fredrick Handers. Ich klopfe an. Laute Schritte nähern sich der Tür.
»Wer ist da?« Vom Akzent her tippe ich auf die westlichen Vorstädte, aber es ist nicht Slater.
»Ich bringe eine Pizza für Dave Hyde.«
Ich halte die Pizza in der linken Hand und die Glock in der rechten.
Die Tür geht auf. Vor mir steht ein bärtiger Biker-Typ in der obligatorischen Jeans-und-Lederjacke-Montur. Auf seinem im Fitnessstudio gestählten Bizeps findet eine beeindruckende Anzahl von Tattoos Platz. Er würdigt mich keines Blickes, hat nur Augen für die Pizza.
»Superidee, Dave«, sagt er und sucht in seinen Taschen nach Münzen fürs Trinkgeld.
Den Pizzakarton voran, dränge ich mich in die Wohnung, schlage ihm mit der Faust und dem Pistolengriff fest in den Magen und schiebe die Tür mit dem Fuß zu. Die Luft bleibt ihm weg, sein Gesicht landet im Pizzakarton, dann verpasse ich ihm mit dem Lauf der Glock einen Schlag auf den Hinterkopf. Wie ein Sandsack geht er zu Boden.
Ich lasse ihn im Flur liegen und dringe weiter in die Wohnung vor. Hohe Wände, alte Möbel aus dunklem Holz. Sogar ein Kronleuchter. Die erste Tür rechts ist geschlossen. Ich lasse die Finger von der Klinke und durchsuche mit der Waffe im Anschlag erst den Rest der Wohnung. Kein Mensch da. Jetzt versuche ich es an der geschlossenen Tür. Sie lässt sich nicht öffnen.
»Amy, bist du da drin?«