Als ich wieder die Treppen zu Apartment 3A hochsteige, höre ich unerwartet Stimmen.
Scheiße. Ich war keine fünf Minuten weg. Wer ist das? Alle drei? Ich bleibe im zweiten Stock stehen, ziehe schwarze Latexhandschuhe über und öffne den Reißverschluss der Sporttasche. Mit überraschend ruhigen Händen setze ich Mick Hydes Gewehr zusammen. Gott sei Dank haben wir das im Busch immer wieder trainiert. Das Gewehr ist nicht geladen, aber zwei Waffen machen immer mehr Eindruck als eine.
Ich schleiche die letzte Treppe hoch. Die Tür ist angelehnt. Den Kolben des Gewehrs gegen die linke Schulter gedrückt und die Pistole in der rechten Hand, schiebe ich die Wohnungstür mit dem Gewehrlauf auf.
Schulter an Schulter, mit dem Rücken zu mir, stehen die Zwillinge im Flur. Einer hält eine Faustfeuerwaffe. Kein Ohrring, also Mick. Dave trägt zwei volle Einkaufstüten. Amy steht ihnen gegenüber in der Tür des Zimmers, in dem sie tagelang festgehalten wurde, hält Petes Pistole in beiden Händen und zielt auf Mick. Sie sieht mich nicht an.
Dave hält eine der Tüten hoch.
»Leg die Waffe weg, dann müssen wir dir nicht wehtun. Ich hab gedacht, Sandwiches mit Speck und Ei hängen dir zum Hals raus, also hab ich dir zum Frühstück ein bisschen Gebäck besorgt.«
Mein Gewehr zielt auf Micks breiten Rücken, mein Revolver auf Dave. Schöne breite Ziele. Ich trete noch einen Schritt vor.
»Rühr dich nicht vom Fleck, Dave. Keine Bewegung. Mick, lass die Waffe fallen. SOFORT!«
Beide Männer erstarren. Dave stößt einen leisen Fluch aus, aber Mick lässt die Pistole nicht los, also mache ich noch einen Schritt und stoße ihm den Lauf seines eigenen Gewehrs in den Rücken. Endlich lässt er die Waffe fallen. Dave dreht sich blitzschnell um und wirft mir die Tüte mit Gebäck ins Gesicht. Amy schießt Dave ins Bein, er geht zu Boden. Mick streckt die Hand nach seiner Pistole aus.
»Tu das nicht, Mick. Sieh dir deinen Bruder an.«
Dave sitzt auf dem Boden, greift sich an die Rückseite des Oberschenkels und lässt mich nicht aus den Augen.
»Hände auf den Kopf, Mick.«
Der riesige Mann richtet sich wieder auf und hebt langsam die Hände.
»Ich bringe dich um, aber erst ficke ich deine Frau vor deinen Augen zu Tode, bevor ich dich umbringe.« Wenn Mick wütend ist, wird er zum Dichter.
»Ja, ja, red nur. Amy, die Kabelbinder.«
Der Schuss war laut. Bald werden Sirenen zu hören sein. Wir müssen uns beeilen.
Wir zwingen die beiden, sich bäuchlings auf den Wohnzimmerboden zu legen. Amy hält sie in Schach, ich mache mich mit Kabelbindern und Paketband an die Arbeit. Während Amy weiter auf Dave aufpasst, nehme ich Mick mit ins Schlafzimmer. Im Vorbeigehen verpasst er Pete einen Tritt in den Magen. Was für ein Arsch. Ich fessele seine Hände an die andere Seite des Radiators, neben Pete, aber er hört nicht auf zu strampeln, sodass ich seine Beine nicht fesseln kann. Mit dem Griff des Revolvers schlage ich ihm seitlich gegen den Kopf. Er wird bewusstlos, ich fixiere seine Beine mit dem Klebeband.
»Dave, du musst aufstehen und in das andere Schlafzimmer gehen.« Mit der Waffe deute ich an, wohin er gehen soll. Trotz der Fesseln richtet er sich torkelnd auf und schafft es humpelnd in das andere Zimmer, wo ich seine Beine an einen anderen Radiator binde. Dann ziehe ich ihm den Gürtel von der Hüfte und benutze ihn als Druckverband für seinen Oberschenkel.
»Wir wollen doch nicht, dass du verblutest, bevor die Bullen kommen, oder?« Ich ahne, was er vorhat, und weiche seinem Kopfstoß aus. Ohne dass einer von uns weiteren Schaden nimmt, umwickle ich auch seine Beine mit Klebeband.
Amy hat Putzmittel gefunden und bemüht sich, alle Spuren unserer Anwesenheit in der Wohnung zu tilgen. Währenddessen verstecke ich Micks Gewehr und einen Schuhkarton voller Ecstasy im Kleiderschrank des Elternschlafzimmers. Auf dem Nachttisch entdecke ich Amys kleine Ruger und Ivans Beretta, dazwischen meine Gucci-Armbanduhr.
»Vielen herzlichen Dank«, sage ich zu niemand Speziellem.
Jetzt habe ich drei Waffen im Hosenbund und zwei Uhren am Arm. Aus meiner Gesäßtasche ziehe ich den kleinen Beutel mit Teppichfasern aus Stanislavs Transporter. Aber etwas lässt mich innehalten. Warum sollte ich ihn den Serben und den Bullen komplett zum Fraß vorwerfen?
»Johnny. Ich brauch dich hier.« Amys Stimme klingt seltsam, es kommt mir vor, als würde ich eine kalte Hand im Nacken spüren. Mir hätte klar sein sollen, dass alles zu glatt läuft.
Ich ziehe die Glock und gehe ins Wohnzimmer, wo Slater und Amy sich mit gezückten Waffen in einer Pattsituation gegenüberstehen.
»Chau an, Chonny, dann bist du gekommen, um Amy zu retten?« Slater lässt sie nicht aus den Augen.
»Ziel lieber auf mich, Slater. Ich bin der Gefährliche.« Die Nummer hat schon einmal funktioniert, also könnte der Versuch sich lohnen. Er dreht sich in meine Richtung, und Amy drückt ab. Slater lässt die Waffenhand sinken und packt sich mit links an die rechte Schulter. Ungläubig reißt er die Augen auf, taumelt auf sie zu, die Waffe zu Boden gerichtet.
»Du blöde Chlampe! Verdammt, warum hast du auf mich gechossen?«
Mit der linken Hand will er die Pistole aus seiner nicht mehr einsatzfähigen rechten nehmen. Wieder hebt er die Waffe, um sie auf Amy zu richten. Alles passiert in Zeitlupe. Mein Finger krümmt sich um den Abzug, aber Amy reagiert als Erste. Diesmal schießt sie ihm in die Brust. Slater fällt schon, als meine Kugel in seine linke Schulter dringt und ihn herumwirbeln lässt. Ehe er auf dem Rücken landet, drückt er noch ab und verfehlt Amy knapp. Völlig unbeeindruckt zielt sie aufs Slaters Stirn. Seine Augen sind offen, mit einem Ausdruck der Verwirrung. Er zuckt noch einmal und bleibt dann still liegen. Fasziniert starre ich Amy an.
Immer noch auf Slaters Gesicht fixiert, wird ihre Hautfarbe grünlich, als müsste sie sich jeden Moment übergeben. Ich ziehe sie von der Leiche weg. Sie setzt sich auf den Boden, ich drücke ihr den Kopf zwischen die Knie. Keuchend und ohne aufzusehen reicht sie mir die Waffe.
»Langsam atmen, Amy. Ruhig und langsam.« Ich schnappe mir einen Putzlappen vom Couchtisch, den Amy dort liegen gelassen haben muss, wische die Waffe ab und werfe sie auf den Boden. Dann sammle ich die drei Patronenhülsen auf, wische meine eigene Waffe ab und werfe sie auch auf den Fußboden. Hastig gehe ich in das Zimmer, in dem ich Dave Hyde an den Radiator gefesselt habe. Ich erwische ihn dabei, wie er sein Gesicht an der Wand reibt, um das Paketband von seinem Mund zu lösen.
»Hör mir gut zu, Dave. Euer Boss ist tot. Ich musste ihn erschießen, es war Notwehr. Die Polizei wird bald hier sein. Wenn ihr gefesselt bleibt, können sie nicht behaupten, ihr hättet ihn erschossen. Ein Wort über mich, und ihr habt eine Anklage wegen Entführung am Hals. Sobald die Geschworenen Amy und Sasha sehen, werden sie bedauern, dass Tod durch Erhängen keine Option mehr ist. Sag einfach, ihr hättet Streit mit Ink gehabt, er hätte dich und die anderen gefesselt. Dann hättest du eine unbekannte Stimme und Schüsse gehört, mehr weißt du nicht. Hast du verstanden?«
Er nickt langsam.
»Kannst du die beiden anderen auf Kurs halten?«
Wieder nickt er. Ich hoffe nur, dass er vernünftig ist.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer, Amy lächelt mich vorsichtig an.
»Jetzt haben sie hoffentlich begriffen, dass man sich mit uns nicht anlegt«, sagt sie.
»Du bist ein echter Knaller, Ames, aber wir müssen jetzt wirklich verschwinden. Vier Schüsse – irgendjemand muss etwas gehört haben.«
Ich schaue mich um. Wir sind fertig. Als ich die Tür hinter uns schließe und mögliche Fingerabdrücke abwische, höre ich immer noch keine Sirenen. Vielleicht sind die Leute hier in der Gegend an nächtliche Schüsse gewöhnt.
Auf der obersten Treppenstufe ziehe ich Amy an mich – ein langer, sanfter, beinahe keuscher Kuss. Ich vergrabe mein Gesicht in ihren Haaren und begreife endlich, was ich die ganze Zeit nicht zu fassen gekriegt habe.