Branka hat nicht verstanden, warum ich nicht sofort in Ivans Hause ziehen wollte.

»Ich mache Bett. Ist alles fertig für euch. Du kannst lassen Sasha bei mir, wenn du willst.«

Sasha ist seit der Entführung ziemlich anhänglich, ich glaube nicht, dass ich ihn in nächster Zeit bei anderen Leuten lassen werde. Und ganz sicher setze ich keinen Fuß in Ivans Haus, geschweige denn, dass ich mich in sein Bett lege. Schon beim Gedanken daran muss ich würgen. Johnny begreift es sofort.

»Wir müssen mal raus«, erklärt er. »Wir fahren in die Stadt. Wir brauchen im Moment nicht aufs Geld zu achten.«

Über Airbnb finde ich eine Dreizimmerwohnung am Ende der Macquarie Street, die ich bis zum ersten Januar buche, in der Nähe der Oper. Wir feiern Weihnachten und Silvester mit Blick auf den Hafen von Sydney.

Praktischerweise hat Ink Slater meine Autoschlüssel in die Handtasche gesteckt. Nachdem ich bei meinen Eltern unsere Koffer abgeholt habe, fahren wir mit dem Mini in die Stadt. Wenigstens haben Sasha und ich jetzt frische Kleidung, für Johnny kann ich etwas besorgen, sobald wir in der Stadt sind.

Wir erreichen die Macquarie Street in der Abenddämmerung. Über unseren Köpfen segeln Fledermäuse. Wir spazieren durch den Park am Ufer, Sasha geht in der Mitte und hält unsere Hände, als könnte er uns dadurch wieder zusammenschweißen. Beim Essen in einem Thai-Restaurant tun Johnny und ich so, als wäre alles wie immer – um unseres Sohnes willen.

Als wir ihn endlich – in seinem eigenen Zimmer – ins Bett gebracht haben, gehen wir hinaus auf den Balkon. Die Brücke ist erleuchtet wie eine riesige Weihnachtsdekoration. Am Circular Quay herrscht ein reges Kommen und Gehen von Fähren und Tragflächenbooten. Direkt vor uns sehe ich das Opernhaus aus einer ganz neuen Perspektive. Die unglaublichen Rundungen seiner Fassade sind hell angestrahlt, es sieht aus, als wollte es flüchten oder einfach davonsegeln. Die vom Hafen herüberwehende Luft ist salzig. Rechts von mir tanzen die Lichter der am Hafen liegenden Vorstädte auf dem Wasser.

»Es muss toll sein, hier zu wohnen. Oder in einer der Villen am Ufer«, sagt Johnny. Er reicht mir ein Glas Rosé und trinkt einen Schluck von seinem Bier.

»Das können wir uns nicht leisten, stimmt’s?«

»Heißt das, du willst immer noch in den Norden ziehen, Ames?«

»Habe ich denn die Wahl?« Unsere Blicke begegnen sich.

»Du entscheidest, wie es weitergeht. Was möchtest du?«

»Ruhe und Frieden.« Seufzend hebe ich das Glas.

»Ruhe und Frieden.« Er stößt mit der Bierflasche an meinem Weinglas an.

»Und keine Novaks in der Nachbarschaft«, fahre ich fort, wo ich einmal dabei bin. »Keine Biker oder irgendwelche anderen Gangs. Keine Verbrechen mehr. Du musst dir einen ehrlichen Job suchen.« Ich mustere ihn und versuche festzustellen, ob er begriffen hat, wie ernst es mir ist.

»Also gut. Ich glaube, ich bin bereit. Die Nordküste?«

»Ja, das dürfte weit genug weg sein.«

Wir reden bis spät in die Nacht. Johnny lässt mich alles noch einmal erzählen, dann beschließen wir, es dabei bewenden zu lassen. Die düstere Nacht, in der Ivan mich vergewaltigt hat, ist zwischen uns kein Geheimnis mehr, nichts, das ich verbergen müsste. Aber der Schmerz ist noch da. Johnny sagt, er begreift es, aber das ist nicht wahr. Wie könnte er? Er hat mit seinen eigenen Dämonen zu tun.

Ohne uns zu berühren liegen wir nebeneinander und lassen uns von den Geräuschen des Hafens in den Schlaf wiegen.