Eine Frau hat alles, was es vermeintlich braucht, um zufrieden zu sein: einen soliden Beruf, eine Partnerschaft, tolle Kinder. Trotzdem scheint ihr Leben von einer tiefen Sinnlosigkeit durchzogen, und jeden Morgen muss sie sich überwinden, aus dem Bett zu steigen. Nach außen hin zeigt sie das nicht, wahrscheinlich ahnt niemand, wie es ihr wirklich geht. Warum sie das Leben so sinnlos erlebt, kann sie selbst nicht sagen.
Ein Student lernt auf seine Prüfungen so kurzfristig, dass immer unsicher ist, ob er sie überhaupt bestehen wird. Alle Lernpläne und Motivationstricks erweisen sich als wirkungslos. Auch sonst neigt er zur Prokrastination, schiebt Verpflichtungen aller Art auf, als müsse er jeden Schritt in seinem Leben gegen eine zähe Masse in seinem Inneren setzen.
Eine junge Frau gerät auf unerklärliche Weise immer wieder in dieselbe Situation: Ihre Beziehungen zu Männern scheitern, auf die immer gleiche Weise — trotz ihrer Bemühungen, bei jedem neuen Partner alles anders anzugehen und nach einem völlig anderen Typus Mann zu suchen. Sie befürchtet, zu keiner stabilen Partnerschaft fähig zu sein.
Wieder einer anderen Person fällt es schwer, sich von den Wünschen anderer abzugrenzen. Sie kann nicht Nein sagen und lässt sich immer wieder in ungewollte Verpflichtungen oder andere unangenehme Situationen verwickeln.
Dies sind nur einige jener vielgestaltigen Hemmnisse und Verstrickungen, in die unser psychisches Leben geraten kann. Alle Beispiele stellen uns vor ein Rätsel. Warum tun wir nicht das, was wir doch eigentlich wollen? Was führt uns immer wieder in dieselben Situationen, allen guten Vorsätzen zum Trotz? Das Schicksal? Wir selbst, gleichsam als das größte Rätsel von allen? Rätselhaft sind nicht nur jene kleineren oder größeren Störungen des Alltags, denen wir uns mit etwas Humor oder einem gewissen Schulterzucken fügen können: »So bin ich eben.« Auch das Wesen einer tiefen psychischen Krise besteht meist darin, dass das, worunter wir leiden, sich unserem Willen und unserer Kontrolle entzieht. Wir leiden, obwohl es scheinbar keinen triftigen Grund dazu gibt. Wir sind niedergeschlagen und traurig, obwohl doch »eigentlich alles gut ist«, fühlen uns nicht geliebt, obwohl die anderen uns versichern, dass sie uns mögen, haben Angst, obwohl keine Gefahr droht, werden impulsiv, obwohl es um Kleinigkeiten geht, oder werden von Zuständen überwältigt, die wir anderen kaum mit Worten beschreiben können.
Unser Buch erzählt die Geschichten von Menschen, die in solche Krisen geraten sind, und von ihrer Suche nach Antworten. Alle Menschen, von denen in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird, haben eine Psychotherapie unternommen. Wir schildern den Verlauf dieser Therapien aus der Perspektive der Therapeutinnen und Therapeuten. Es ist eine Reise durch die innere Welt dieser Menschen, aber auch die Geschichte jener besonderen Beziehung, die in einer Psychotherapie zwischen Therapeut und Patient entsteht. Denn letztendlich sind unsere Beziehungen der Schlüssel für Veränderungen, auch und gerade in einer Therapie.
Alle Therapien, von denen wir in diesem Buch erzählen, folgen einem psychoanalytischen Setting. Mit der Psychoanalyse konzentrieren wir uns auf eine therapeutische Herangehensweise, die für unsere Zeit vielleicht ungewöhnlich scheint. Dies zeigt schon die Tatsache, dass die therapeutischen Prozesse, die wir in diesem Buch schildern, allesamt ihre Zeit gebraucht haben, manche weniger, manche mehr. Die geschilderten Therapien sind keine Wunderkiste mit Tipps und Tricks, anhand derer sich Symptome vermeintlich im Handumdrehen zum Verschwinden bringen lassen, noch können sie ein Heilungsversprechen durch den Einsatz einer vermeintlich bahnbrechenden Methode geben. Unsere Gesellschaft begegnet jenem Rätselhaften, das psychischem Leiden innewohnt, mit vielgestaltigen Versuchen, Kontrolle über das psychische Leben herzustellen. Es herrscht kein Mangel an Ratgebern, Techniken, Anleitungen, wie wir uns selbst in eine gewünschte Richtung lenken, unsere Gedanken und Gefühle verändern oder umprogrammieren können. Aber so wenig es eine Anleitung für unser Leben gibt, so wenig gibt es eine Anleitung für unsere Psyche. Auf dem Feld psychischer Hilfen gilt, dass es kein Allheilmittel gibt, vermeintlich schnelle Lösungen oft nicht nachhaltig sind. Jeder Mensch muss letztlich für sich einen eigenen Weg finden, der für ihn gangbar ist. In einer Psychotherapie geht es zugleich auch immer um einen gemeinsamen Weg, weshalb es wichtig ist, dass Patient und Therapeut miteinander harmonieren. Wir möchten in unserem Buch zeigen, welche Prozesse entstehen können, wenn Patient und Therapeut in einen solchen Austausch kommen — und wie sich darin auch etwas Hilfreiches für private Beziehungen und das eigene psychische Leben entdecken lässt.
Wir möchten versuchen, einen Einblick in jene »Rätsel der Psyche« zu geben, wie sie uns in unserer Arbeit als Psychotherapeuten begegnen. Oftmals ist ein psychisches Symptom, seien es Niedergeschlagenheit, Ängste oder sich wiederholende Beziehungsmuster, nur das Anzeichen für ein Problem, das wir noch nicht verstanden haben, das uns in diesem Sinne unbewusst ist — gerade dann, wenn es hartnäckig ist und sich nicht durch Willenskraft beseitigen lässt. Etwas, das uns manchmal wie ein Schatten durch unser Leben begleitet, der uns überallhin verfolgt, egal, wie schnell wir zu rennen versuchen. Es geht darum, sich selbst besser zu verstehen und über diesen Prozess mehr innere Freiheit zu gewinnen. Denn nur, wenn wir wissen, was wir tun, öffnet sich uns ein Spielraum, um uns aus festgefahrenen Mustern lösen zu können.
Das Wort »Psychoanalyse« weckt üblicherweise gleich eine Reihe von Assoziationen und klingt in vielen Ohren verstaubt. Man denkt an Sigmund Freud, die Couch, an den »Ödipuskomplex« und Schlagworte wie Verdrängung, Triebe, Trauma. Doch die Psychoanalyse ist viel mehr als das: Sie hat eine lange Geschichte, in der sich Theorien und therapeutisches Vorgehen immer wieder gewandelt haben. Psychoanalytische Therapien werden in vielen Ländern weltweit praktiziert, wobei es mitunter sehr unterschiedliche Ansätze und Herangehensweisen gibt. In Deutschland sind psychoanalytische Therapien neben Verhaltenstherapien und Systemischen Therapien wissenschaftlich anerkannt und werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Sie machen etwa die Hälfte aller Psychotherapien aus. In Form eher kürzerer und fokussierter Therapien finden sie sich unter dem Namen »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie«, für eher längere und intensivere Formen unter dem Namen »Analytische Psychotherapie«.
Aktuelle psychoanalytische Ansätze haben wenig mit dem Klischeebild dunkler Triebe oder heimlicher verderbter Wünsche zu tun, die auf der Couch zutage gefördert werden. Ein zentraler Grundsatz der zeitgenössischen Psychoanalyse ist, dass sich unser Selbst aus den Beziehungserfahrungen bildet, die wir im Verlauf unseres Lebens machen. Beziehung ist der Stoff, aus dem unsere Psyche ist — wir erfahren von anderen, wer wir sind. Daran erinnert vielleicht schon unser Name, den wir uns nicht selbst gegeben haben. Menschen verinnerlichen ihre Beziehungserfahrungen, machen das, was sie mit anderen erfahren, zu einem Teil des Selbst. Die Bindungserfahrungen, die wir als Kinder in unseren Familien machen, sind für unsere spätere Entwicklung besonders prägend. Aus diesen frühen Erfahrungen entsteht ein tiefes Wissen über uns selbst, das uns meist nicht bewusst ist, sondern von dem wir ganz implizit ausgehen, das zur Brille wird, durch die wir auf die Welt schauen: ob wir gut sind, wie wir sind, ob wir geliebt werden, uns sicher fühlen und den anderen vertrauen dürfen. Aber auch spätere Beziehungserfahrungen, etwa mit Freunden, in einer Partnerschaft — oder in einer Therapie —, nehmen Einfluss auf das Bild, das wir von uns selbst und anderen haben. Das bedeutet auch: Wir können uns durch neue Beziehungserfahrungen ändern. Hinter vielen psychischen Schwierigkeiten steht auch ein unverstandener Appell an den anderen: ein Wunsch, gesehen und geliebt zu werden, eine Wut oder Enttäuschung, weil man nie gehört wurde, eine Angst, den anderen zu verlieren, oder ein innerer Rückzug, um nicht wieder verletzt zu werden. In unserer Arbeit als Psychoanalytiker versuchen wir, die Spur der Beziehungsgeschichte unserer Patientinnen und Patienten nachzuzeichnen und zu verstehen, was ein psychisches Symptom mit dem Leben und der Geschichte eines Menschen zu tun hat. Manchmal kann eine psychische Verletzung nur überwunden werden, wenn man jener Stimme Gehör schenkt, die man ein Leben lang in sich unterdrückt hat, sie gerade nicht mit Techniken der Selbstdisziplinierung wieder zum Verstummen zu bringen versucht.
Warum das in manchen Fällen so schwierig ist, aber auch, wie es gelingen kann, davon handelt dieses Buch. Dabei geht es uns nicht nur darum, die Geschichte von einzelnen Patienten zu erzählen. Diese Geschichten sind vielmehr auch der Anlass, allgemein Licht in die Rätsel unseres unbewussten Lebens zu bringen. Alle Therapieerzählungen enthalten Passagen, die die Hintergründe zu bestimmten Fachbegriffen und Terminologien erhellen — in einer Bedeutung, wie sie vielleicht vielen nicht bekannt ist. Ein Register am Ende des Buchs hilft bei der Suche und Orientierung im Text. Davor finden sich zudem Verweise auf einzelne Folgen unseres Podcasts »Rätsel des Unbewussten« sowie ausgewählte Literaturempfehlungen, die einige der Themen, die wir hier erzählerisch berühren, noch einmal aus der Perspektive der klinischen Praxis und der Wissenschaft vertiefen. Zu jeder Therapiegeschichte findet sich auf unserer Homepage (www.psy-cast.de) zudem eine ausführliche Nachbesprechung durch die Autoren. Die Geschichten in diesem Buch beruhen auf tatsächlichen Therapieverläufen, sind aber so stark abgewandelt, anonymisiert und fiktionalisiert, dass kein Rückschluss auf eine reale Person möglich ist. Wir danken allen, die uns erlaubt haben, andere an ihrem therapeutischen Prozess teilhaben zu lassen.
Wir hoffen, dass wir mit diesem Buch einer Perspektive eine Stimme leihen können, die in unseren gegenwärtigen Debatten oft vergessen wird. Vielleicht kann aus unserem Beitrag die eine oder der andere eine Anregung gewinnen, sich selbst und andere Menschen besser zu verstehen. Auch wenn sich jenes Rätsel, das wir uns selbst sind, wohl niemals vollends ergründen lässt.
Um der Lesbarkeit willen verzichten wir in unserem Buch auf das Gendern. Selbstverständlich dürfen sich alle Menschen gleichermaßen angesprochen und zur Lektüre eingeladen fühlen.