Konrad

Die Melancholie des Lichts oder:
Die Weiße Depression

Die Geschichte führt uns in die Praxis eines männlichen Psychoanalytikers mittleren Alters, der über seine Arbeit mit seinem Patienten Konrad berichtet. Es handelt sich um eine Analytische Psychotherapie, deren Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland übernommen werden. Die Stundenzahl ist vorab auf bis zu 300 Sitzungen festgelegt. Die Sitzungen finden mehrmals in der Woche statt, Patienten können, müssen dabei nicht auf der Couch liegen.

Ein berühmter psychoanalytischer Satz besagt, dass alles, was wir in unserer Geschichte nicht bewältigt haben, zur Wiederholung verdammt ist. Eine Verletzung, die wir in unserem Leben erleiden, wirft eine Frage auf, die wir zu beantworten suchen und gleichsam an jeden Menschen richten, der uns fortan begegnet. Unsere Psyche kommt nicht zur Ruhe, ehe sie eine Antwort gefunden hat. Wenn ich an meine Arbeit mit Konrad denke, glaube ich, dass er mir eine solche Frage schon gleich bei unserem ersten Aufeinandertreffen gestellt hat. Aber es hat lange gedauert, ehe ich sie verstanden habe.

Es ist ein wolkenverhangener Nachmittag im ausklingenden Sommer, kurz nach den großen Ferien. Zu meiner psychotherapeutischen Sprechstunde erscheint ein Mann Anfang 40, eher schmal gebaut, schon etwas schütteres, grau meliertes Haar. Mein erster Eindruck: eigentlich ein attraktiver Mann, der aber nicht wirklich etwas aus sich macht. Seine Kleidung, Bomberjacke, Jeans, Mütze mit englischer Aufschrift, verleiht ihm eine beinahe jugendliche Erscheinung und erinnert an die 90er-Jahre, als Konrad jung gewesen sein muss. Er begrüßt mich mit einem Nicken sowie einer überraschend tiefen Stimme, sein Blick ist freundlich, aber auch gleichgültig, wenig neugierig, als wäre er schon oft hier gewesen. Etwas umständlich befestigt er seinen Rucksack an der Vorrichtung in meiner Garderobe, ehe er mich in den Therapieraum begleitet, wobei er sich beim Schritt über die Türschwelle duckt, als fürchte er, sich den Kopf zu stoßen.

Als Konrad an mir vorübergeht, entsteht in mir ein merkwürdiger Eindruck: Ich meine, den Geruch von etwas wahrzunehmen, das ich von irgendwoher kenne, so vage und flüchtig, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es mir nur eingebildet habe. Vielleicht ist es sein Rasierwasser? Etwas erinnert mich an eine Art von Männlichkeit, die es heute kaum noch gibt — und die auch Konrad, von außen besehen, wenig zu vertreten scheint: der Geruch von Kernseife, nach hinten gekämmte Haare, Bügelwäsche, die morgentliche Rasur vor dem Spiegel, reinweißer Hemdkragen — für einen Moment durchzuckt mich der unheimliche Eindruck, eine mir seit Kindertagen bekannte und lange verschollene Person betrete den Raum, und nicht ein Patient, den ich noch nie gesehen habe. Ehe ich es recht greifen kann, ist das Gefühl verflogen.

Stattdessen greift nun ein anderes Gefühl Raum, das mich über lange Phasen der Therapie begleiten wird: eine ratlose Leere sowie der Eindruck, die Zeit vergehe nur quälend langsam.

Konrad setzt sich, schweigt, blickt auf seine weißen Turnschuhe und eröffnet das Gespräch schließlich mit den Worten: »Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin. Ich hab gedacht, so etwas wie hier brauche ich eigentlich nicht. Aber mein Hausarzt meinte, ich soll einmal einen Termin bei einem Psychotherapeuten machen.«

»Weshalb denn?«, frage ich.

»Wegen Depressionen. Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich habe. Vielleicht geht es auch um etwas anderes.«

Konrad kann nicht recht erklären, was er damit meint. Er berichtet, dass er seit einiger Zeit unter Panikattacken leidet. Sie kämen vor allem nachts, rissen ihn aus dem Schlaf. Er wisse nicht, ob er schlecht geträumt habe, denn er könne sich seit seiner Jugend nicht an seine Träume erinnern. Er wache auf mit Herzrasen und einem »komischen Gefühl«: »Es ist, als wäre der Raum um mich leer, alles schwarz, da gibt es nichts anderes, nur mich und sonst nichts. Dann ist da so eine Angst, ich weiß nicht, vor was.« Der Arzt habe alles Mögliche abgeklärt, mit seinem Herzen und »im Kopf« sei alles okay. »Also mehr oder weniger«, sagt Konrad. Er sei kein Hypochonder, aber er merke doch, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte, »da oben stimmt etwas nicht« — Konrad tippt mit dem Finger an seine Stirn.

Ich sage: »Nachts aufwachen, und der Raum um Sie herum ist leer. Das hört sich an wie ein Gefühl von schrecklicher Verlassenheit.«

Konrad übergeht meine Worte, spricht weiter, ohne mich anzusehen. Er könne dann nicht mehr einschlafen, müsse grübeln, aber seine Gedanken hätten »keinen Inhalt«. Das sei eigentlich noch schlimmer als die Angst. Etwa vor einem Jahr, im letzten November, habe es begonnen. Er leide allerdings schon länger unter Schlafstörungen, könne sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen habe, »das muss Jahrzehnte her sein«. Damit er überhaupt schlafen kann, nimmt er seit einiger Zeit ein mildes Antidepressivum.

Ich frage: »Haben Sie selbst eine Idee, wie das kommt: das mit der Angst und den Schlafstörungen?«

Konrad: »Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht … Ich denke, ich brauche einen Neuanfang«, sagt er, »vielleicht ein neuer Job oder eine neue Stadt oder so etwas. Aber wohin, das weiß ich nicht.«

Wie Konrad von sich erzählt, entsteht in mir das Bild eines Mannes, der in der Mitte seines Lebens nicht mehr weiterkommt, der an einem unsichtbaren Hindernis festzuhängen scheint. Er arbeitet als Techniker im örtlichen Planetarium. Für meine Ohren klingt das nach einer durchaus interessanten Tätigkeit, doch noch ehe ich etwas dazu sagen kann, beschreibt Konrad sie so: »Das ist eigentlich nur für Besucher spannend. Wenn man das erste Mal da ist oder als Kind oder so. Aber wenn man es hundert Mal gesehen hat: Das ist auch nichts anderes als ein Kino, nur dass die Filme veraltet sind.« Die Arbeit sei in Ordnung, aber im Grunde langweile er sich und würde gerne etwas anderes machen als jeden Tag »künstliche Sterne« an die Leinwand werfen. Er hat schon einige Anläufe unternommen, Kurse gemacht, Fortbildungen, aber daraus ist immer nichts geworden, »nie hab ich wirklich etwas umgesetzt«. Warum, kann Konrad nicht sagen, irgendwie »ging es dann immer nicht weiter, wenn es darauf ankam«.

Er lebt alleine, seine letzte Beziehung ist vor einigen Jahren in die Brüche gegangen. Er wünsche sich eigentlich schon Familie und Kinder und hätte sich das auch mit Tanja, seiner letzten Partnerin, vorstellen können.

»Aber irgendwie hat etwas zwischen uns gefehlt. Seitdem habe ich nicht mehr wirklich gesucht. Jetzt bin ich auch schon 42. Ich glaube nicht, dass das noch etwas wird.«

Die Beziehung mit Tanja sei die längste in seinem Leben gewesen, über fünf Jahre waren sie ein Paar. Zu Beginn der Beziehung habe es eigentlich gut gepasst zwischen beiden. Doch nach und nach habe Tanja ihm immer mehr Vorwürfe gemacht, immer wieder Dinge eingefordert: »Sie war eigentlich ständig enttäuscht von mir. Sie meinte: ›Du bist nie wirklich da!‹«

Als ich ihn frage, was Tanja damit gemeint haben könnte, antwortet Konrad: »Ich weiß es immer noch nicht. Ich hab mir schon Zeit genommen. Wir haben Sachen unternommen, haben das gemacht, was sie wollte … aber das hat ihr irgendwie nicht gereicht. Anscheinend konnte ich ihr nicht geben, was sie gesucht hat.«

Konrad erzählt davon ohne Vorwurf oder irgendeine andere Regung in der Stimme, liefert mir eher einen faktischen Bericht. Mittlerweile hat Tanja einen neuen Partner, im letzten Jahr haben sie und er eine Tochter bekommen. Zur Geburt kam eine Karte mit einem Foto der Kleinen: Sie sei »wirklich süß«, er erkenne Tanja in ihren Gesichtszügen wieder. Statt die Karte wegzuwerfen, wie er es eigentlich habe machen wollen, habe Konrad sie behalten, sie sogar bei sich im Wohnzimmer aufgestellt.

Ich sage: »Wie eine Erinnerung daran, was Sie sich eigentlich mit ihr ersehnt haben.«

Konrad, ohne aufzusehen: »Ja.«

Ich: »Das muss ziemlich schmerzhaft gewesen sein.«

Konrad: »Ich freue mich für Tanja, dass es ihr gut geht. Dass sie es geschafft hat, glücklich zu sein.«

Ich: »Aber Sie selbst haben das Gefühl, dass Sie es nicht schaffen …«

Konrad: »Das ist kein Gefühl, sondern die Wahrheit. Ich hab es verbockt.«

Als ich meinen Gedanken ausspreche, er stecke irgendwie im Leben fest und wisse gerade nicht recht weiter, schaut mich Konrad das erste Mal an und nickt: »Das trifft es gut.«

Mein erster Eindruck ist, dass Konrad unter so etwas wie einem festgefrorenen Liebeskummer leidet. Seine Beziehung, in die er Hoffnungen gesetzt hatte, ist gescheitert, und er kann sich nicht erklären, warum. Das ist ihm nicht das erste Mal passiert, schon mehrere Beziehungen seien auf ähnliche Weise gescheitert. Doch es scheint nicht nur um eine Partnerschaft und die Gründung einer Familie zu gehen, sondern um etwas ganz Grundsätzliches in Konrads Leben. Er hat keine echte Freizeitbeschäftigung; mit seinen wenigen Freunden unternimmt er nur selten etwas. Er geht einem Beruf nach, mit dem er nicht wirklich zufrieden ist — »künstliche Sterne« statt etwas, das für ihn Bedeutung hat —, zumindest kann er seine Tätigkeit, obwohl sie eigentlich interessante Seiten hat, nicht mit einer solchen Bedeutung besetzen, führt sie nur maschinenhaft-gleichgültig aus. Aus irgendeinem Grund kann Konrad eine bestimmte Schwelle im Leben nicht nehmen, nicht wirklich zu etwas finden, das ihn zufrieden macht. Etwas fehlt. Aber was?

Ich sage: »Ich habe das Gefühl, Sie warten auf etwas, aber es kommt nicht. Das Leben zieht weiter, andere gründen eine Familie, scheinen glücklich zu sein. Aber für Sie wird die Zeit knapp. Vielleicht lässt Sie das in der Nacht aufschrecken?«

Konrad: »Aber das ist eigentlich ziemlich dumm. Im Leben gibt es nichts umsonst, da braucht man auf nichts warten. Man muss es selbst in die Hand nehmen, etwas aus sich machen. Das hab ich nicht geschafft.«

Ich: »Ihr Leben ist aber noch nicht am Ende.«

Konrad: »Aber viel Zeit habe ich nicht mehr. Man setzt sich in meinem Alter auf keine Schulbank mehr. Man gründet auch keine Familie mit 50« — er lacht verbittert — »da haben andere bald schon Enkelkinder.«

Ich: »Dann ist es vielleicht wichtig zu verstehen, warum das so ist. In unserer Arbeit könnte es darum gehen, herauszufinden, was Sie festhält — und wie Sie weiterkommen können.«

Konrad gibt ein »Das hört sich gut an« zurück — aber er verzieht keine Miene dabei, sodass mir nicht klar ist, wie er es meint. Ich habe das Gefühl, ihm einen naiven Optimismus anzuempfehlen, der an der kalten Hand der Realität erfriert. Wenngleich ich doch auch ein kurzes Aufglimmen von Hoffnung zu vernehmen glaube. Obwohl die Zeit während der Stunde nur zäh voranzuschreiten scheint, ist die Sitzung auf einmal überraschend schnell zu Ende. Ich fühle mich plötzlich unter Druck — eigentlich gibt es noch so viel zu besprechen, ich habe ja noch gar nicht wirklich etwas über Konrad erfahren; als hätten wir uns zum Mittagessen verabredet, und nach der Suppe wird schon abgedeckt.

Als ich Konrad eine weitere Sitzung anbiete, nimmt er an. Dabei erkundigt er sich nach meiner »Arbeitstechnik«. Er hatte erwartet, dass ich ihm Ratschläge und Tipps gebe, wie er besser klarkommen kann. Es gebe doch solche Trainings, »wie finde ich mein Glück in zehn Schritten und so was« — Konrad spricht, als würde er selbst nicht daran glauben, aber erwarten, dass ich ihm genau so ein Programm hier verordnen werde.

Ich sage: »Es klingt, als rechnen Sie damit, dass ich Ihnen etwas vorgebe, eine Anleitung zum Glücklichsein. Aber wäre das nicht nur der nächste Kurs, die nächste Ausbildung, die zu scheitern droht?«

Konrad antwortet mit einem »Hm«. Ich beschreibe ihm die unterschiedlichen Therapieformen, auch solche, die mehr auf Vorgaben und Anleitungen aufbauen. Unsere Gespräche wären hingegen erst einmal ganz offen, damit wir uns Zeit nehmen können herauszufinden, worum es eigentlich geht.

»So darüber zu sprechen, wie hier, das ist schon auch gut«, meint Konrad schließlich. Er berichtet, dass es seine Halbschwester Yvonne war, die »ihm den Kopf gewaschen« und ihn gedrängt hat, endlich mal »mit jemandem darüber zu reden«.

»Wie geht es Ihnen jetzt nach dem Gespräch?«, frage ich.

»Gut«, sagt er, mit jener ungerührten Stimme, die ich nicht recht zu interpretieren weiß. Konrad geht aus der Stunde, verabschiedet sich mit demselben freundlichen, aber müden Blick, mit dem er mich begrüßt hat, seufzt leise, als er die Praxis verlässt.

Nach dieser ersten Stunde breiten sich erst einmal Ratlosigkeit und Unbehagen in mir aus. Es fühlt sich an, als wäre etwas Wesentliches unausgesprochen geblieben, als hätte ich etwas versäumt — obwohl ich gar nicht sagen könnte, was. Es bleibt allein die Spannung einer unbefriedigenden Ungewissheit in mir, die sich nicht aufgelöst hat.

Die Gefühle, die in mir als Therapeut in der Begegnung mit einem Patienten entstehen, haben in der Psychoanalyse eine besondere Bedeutung. Was ich fühle, kann natürlich mit mir selbst zu tun haben, mit eigenen Unsicherheiten; aber es kann auch durch etwas hervorgerufen werden, das in der Stunde geschieht. Es gehört zum psychoanalytischen Arbeiten, solche Gefühle nicht auszublenden oder beiseitezuschieben, sondern zunächst einmal in sich wahrzunehmen und über sie nachzudenken, auch wenn sie irrational oder unwichtig scheinen. Denn in ihnen kann etwas enthalten sein, das für die Therapie bedeutsam ist — wenn man so will, eine Flaschenpost, die mir vor die Füße gespült wird. Jeder Mensch trägt an seine Mitmenschen bestimmte Erwartungen heran, Wünsche, Ängste — und in diesen verbirgt sich oft die Geschichte unserer Beziehungen. Es gibt so etwas wie eine Gefühlserbschaft, die wir aus unserer Vergangenheit mitnehmen. Was wir in emotional bedeutsamen Beziehungen erfahren haben, wird zu einem Teil unserer selbst, formt unseren Blick, wird zu einer Art Schablone, mit der wir auf die Welt schauen: Wir erwarten es auch in künftigen Beziehungen, sei es, dass wir uns danach sehnen, sei es, dass wir uns davor fürchten. Oft merken wir das nicht, die Schablonen sind uns so selbstverständlich, dass uns ihr Vorhandensein gar nicht bewusst wird, sie also unbewusst sind.

Haben wir zum Beispiel Erfahrungen gemacht, die uns zweifeln lassen, ob der andere es gut mit uns meint, dann kann es sein, dass wir uns auch in späteren Beziehungen misstrauisch verhalten, andere wenig an unseren Gefühlen teilhaben lassen. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn wir von unseren Eltern wenig Rückhalt erfahren, uns oft bloßgestellt oder alleingelassen gefühlt haben. In der Psychoanalyse spricht man auch von einer Übertragung, das heißt, wir übertragen unsere vergangenen Erfahrungen auf neue Situationen. Begegnen wir aber einem anderen Menschen mit Misstrauen, wird dieser auf uns reagieren, in der Regel ebenfalls mit negativen Gefühlen: Unser Gegenüber bleibt reserviert, wird vielleicht sogar selbst misstrauisch. Diese Dynamik wird in der Psychoanalyse Gegenübertragung genannt, sie bezeichnet das, was die Übertragung einer Person in einer anderen Person auslöst. Die Muster von Übertragung- und Gegenübertragung knüpfen sich in allen menschlichen Beziehungen, immerzu und in alle Richtungen. Wenn sich zwei Menschen begegnen, ergibt sich ein kompliziertes Netz aus Gefühlen und Erwartungen, die beide jeweils an den anderen richten.

Meistens können wir unsere Erwartungen mit der Realität abgleichen und gegebenenfalls anpassen: Wir fürchten vielleicht, dass der andere uns nicht mag, aber können uns dann doch für eine Begegnung öffnen, wenn wir merken, dass diese Befürchtung nicht berechtigt ist. Tragen wir aber eine tiefe Verletzung in uns, kann uns diese Flexibilität verloren gehen, dann fällt es uns schwer, die Fühler nach neuen Erfahrungen auszustrecken. Das ist es, was man in der Psychoanalyse eine verinnerlichte Beziehungsstörung nennt, die sich oftmals — wenngleich nicht immer — mit einer psychischen Störung verbindet. Wir sind auf ein Thema fixiert, können im anderen immer nur die Person sehen, die uns einmal verletzt hat. Weil wir so eine große Angst vor einer neuen Verletzung haben, lassen wir etwa gar keinen bedeutsamen Kontakt entstehen oder reagieren auf kleine Irritationen sofort gekränkt, ärgerlich, enttäuscht — was es unserem Gegenüber im Gegenzug schwermacht, uns mit Offenheit zu begegnen. Wieder entsteht eine Beziehungsdynamik, in der wir nicht die Erfahrung machen können, die wir eigentlich so sehr bräuchten: gemocht zu werden, in einen gelingenden Austausch zu kommen. Stattdessen wiederholt sich die Erfahrung eines irgendwie scheiternden Kontakts — und damit in gewissem Sinne auch unsere Vergangenheit. Wir merken oftmals nicht, wie wir selbst immer wieder dazu beitragen, dass sich diese schmerzhafte Situation wiederholt, wie wir selbst dem anderen eine bestimmte Rolle zuschieben. Wir suchen nach Veränderungen im Außen, etwa der endlich »richtigen Beziehung«, dem »richtigen Beruf«, dem »richtigen Wohnort«, merken aber nicht, dass es etwas in unserem Inneren ist, das uns nicht zufrieden werden lässt.

Es ist eine Besonderheit der Psychoanalyse, dass Therapeuten auf Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken achten und sie zum Gesprächsgegenstand machen — dies hilft, sich festgefahrener Beziehungsmuster bewusst zu werden und auch den eigenen Anteil daran zu reflektieren. Dazu ist jedoch erst einmal ein gewisses Moment von Zurückhaltung aufseiten des Therapeuten notwendig — um gerade nicht in alte Automatismen zu verfallen, etwa sofort zum zurückweisenden Gegenüber zu werden. Deshalb muss auch ein Therapeut seine eigenen Gefühle, das heißt seine Gegenübertragung in die Reflexion einbeziehen.

Wie verhält es sich diesbezüglich bei Konrad? Das ist nach unserem ersten Treffen schwer zu sagen. Ich habe ja noch fast gar nichts über seine Biografie und seine Familiengeschichte erfahren, kenne sozusagen die Rollen noch nicht, die in seinem Leben bestimmend waren und sind. Dennoch ist zunächst einmal ein Kontakt entstanden, der einen Funken Hoffnung weckt: Die Therapie könnte helfen. Zugleich scheint es, als würde dieser Funken keine Glut entfachen, sondern in einem rätselhaften Dunkel zerstieben. Eine Begegnung, wenn man so will, »mit Potenzial«, das aber nicht wirklich ausgeschöpft wird. Es ist, als hätte sich in unserem ersten Zusammentreffen sein Lebensthema — die eigenen Möglichkeiten nicht ergreifen zu können — in einer mikroskopischen Szene wiederholt. Plötzlich wird die Zeit knapp, die Stunde ist zu schnell alt geworden.

Konrad und ich nehmen uns in den kommenden Wochen Zeit, um auszuloten, ob wir gut zusammenarbeiten können. Er erzählt in dieser Zeit auch mehr Details aus seiner Geschichte. Es ist eine sehr traurige Geschichte, auch wenn Konrad sie ungerührt vorträgt. In mir entsteht das Bild eines Lebensweges, der schon früh von Abbrüchen und Verlusten gezeichnet ist. Konrad hat seine Eltern verloren, als er noch ein junger Mann war, zuerst den Vater, wenige Jahre später auch die Mutter, beide unter mir noch unklaren Umständen.

Konrad kommt, wie er sagt, »aus einfachen Verhältnissen«. Geboren ist er in den 1970er-Jahren in einer kleinen Stadt in Norddeutschland. Seine Eltern haben ihn recht spät bekommen, er ist das einzige Kind geblieben. Er hat eine ältere Halbschwester aus einer früheren Beziehung des Vaters, Yvonne, die allerdings in einer anderen Stadt aufgewachsen ist. Seine Mutter arbeitete als Verkäuferin, hat ihren Beruf aber nach der Geburt aufgegeben. Konrads Vater war Lkw-Fahrer und nur selten zu Hause. Er habe als kleiner Junge seinen Vater vermisst, obwohl das Verhältnis der beiden eher distanziert gewesen sei. Aber man ersehnt ja zumeist das, was man am meisten vermisst. Der Beruf des Vaters habe auf ihn als Kind einen großen Eindruck gemacht, er habe sich immer vorgestellt, wie der Vater in die Ferne fährt und dort etwas Abenteuerliches erlebt. Zu Hause sei der Vater oft müde und misslaunisch gewesen, wortkarg. Er habe sich im Grunde nicht viel für Konrad interessiert. Einmal habe er versprochen, zu einem wichtigen Spiel von Konrads Fußballmannschaft zu kommen, an einem Sonntagvormittag, es dann aber »wieder verpasst, er hatte irgendeinen Auftrag, bei dem er einspringen musste«. In diesem Spiel schoss Konrad ein entscheidendes Tor.

»Aber freuen konnte ich mich nicht.«

Ich sage: »Weil die entscheidende Person nicht da war, für die Sie das Tor eigentlich geschossen haben.«

Konrad: »Das war üblich so bei ihm. Arbeit geht vor.«

In Konrads Fantasie war der Vater auf seinen Reisen ein anderer, und als Junge träumte er immer davon, dass er einmal mit dem Vater auf eine Tour fahren darf.

Ich: »Damit Sie endlich den Vater kennenlernen, nach dem Sie sich so gesehnt haben.«

Konrad wiegelt ab: »Ja, aber so toll war das dann gar nicht.«

Als ihn der Vater einmal mitnimmt, Konrad war schon ein Jugendlicher, ist er enttäuscht: immer nur Straßen, Firmengelände, Tankstellen und Zeitdruck und sein Vater genauso stumm und mürrisch wie zu Hause. Dort auf den Autobahnen findet Konrad nicht, wonach er sucht. Aber vielleicht an einem anderen Ort, ferner noch, wohin keine Straßen führen?

Konrad beschreibt seine Eltern als bemüht, aber doch viel mit sich beschäftigt, »nicht wirklich da«. Beim Vater ist das im wörtlichen Sinne zu verstehen, aber in einem übertragenen Sinn gilt es auch für die Mutter. Wenn der Vater zu einer seiner wochenlangen Touren aufbrach, sagte er schon früh zu Konrad: »Gib auf die Mutti acht.« Das nicht ohne Grund. In Konrads Erzählungen wirkt die Mutter auf mich, als hätte sie an Depressionen gelitten, auch wenn dieses Wort in der Familie nie gefallen ist. Gerade, wenn der Vater nicht da war, sei sie tagelang nicht aus dem Bett gekommen, habe immer gesagt: »Konny, mach dir dein Frühstück heute selber.« Seine Mutter stammte aus der DDR, einer ländlichen Region, »aber sie ist noch rechtzeitig rübergekommen, bevor die Mauer da war«. Ihre Eltern, Konrads Großeltern, seien aber hinter der Mauer geblieben. Die Familie sieht sich nie wieder. Auf den wenigen alten Fotos von seiner Mutter als junger Frau sieht sie »eigentlich glücklich aus«. Aber später sei sie »immer schlecht drauf« gewesen, ob das mit »Heimweh« zu tun hatte, wisse er nicht.

In der Schule hatte Konrad eigentlich sehr gute Noten, von den Lehrern bekam er eine Empfehlung fürs Gymnasium. Dort hatte er aber Schwierigkeiten, kam in der Klasse nicht so gut klar. In der siebten Stufe fiel er durch. Daraufhin meldeten ihn seine Eltern von der Schule ab mit der Begründung, er solle lieber auf die Realschule gehen und einen Beruf lernen. Das habe er dann auch gemacht und »Mechaniker gelernt«. Doch das sei letztendlich langweilig gewesen. »Also der Job ist schon okay, aber es war nicht so mein Ding.«

Konrad nimmt nach der Ausbildung noch einen neuen Anlauf, versucht, an einer Abendschule sein Abitur nachzuholen, da ist er 19 Jahre alt. In dieser Zeit erkrankt der Vater an Lungenkrebs und stirbt wenige Monate später. Konrad bricht die Abendschule ab, obwohl er dort gute Fortschritte macht.

»Auf einmal hab ich keinen Sinn mehr darin gesehen. Das war dumm. Eigentlich wollte ich ja studieren. Aber irgendwie ging das alles dann nicht mehr«, sagt er.

»Vielleicht hatte das mit dem Tod Ihres Vaters zu tun. Als hätten Sie auch für ihn die Schule besucht, und wo er nicht mehr da war, da fehlte etwas, das Ihnen Sinn gegeben hat«, sage ich.

»Ich weiß nicht. Ich wollte ja etwas ganz anderes machen als er. Er hat sich nie groß dafür interessiert, was ich mache«, antwortet Konrad.

Der Abbruch seines Abiturs, nicht der einzige in seinem Leben, bleibt rätselhaft.

Konrad bleibt in den nächsten Jahren in der Nähe der Mutter, deren Zustand immer desolater wird. Sie stirbt, als Konrad, mittlerweile 25, gerade im Urlaub auf Mallorca ist. Die Nachbarin übermittelt Konrad die Nachricht, seine Mutter sei »einfach nicht mehr aufgewacht«. Als er zurückkehrt, ist die Mutter schon abgeholt worden, er sieht sie nicht wieder. »Man hat sie gleich ins Krematorium gebracht und eingeäschert«, sagt Konrad — was sich für mich merkwürdig anhört. Konrad schildert die Umstände so, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Wendung »nicht mehr aufgewacht« nicht doch die Umschreibung für einen Suizid ist, über dessen Umstände man Konrad nicht genau aufklären oder die er selbst nicht genau kennen wollte.

Konrad geht nach dem Tod der Mutter für mehrere Jahre auf Reisen, nach Australien und Neuseeland, lernt dort eine Frau kennen, kehrt aber wieder nach Deutschland zurück, als es ernst wird zwischen beiden. Aus seiner Familie bleibt ihm nur Yvonne, seine ältere Halbschwester, mit der er ein gutes Verhältnis hat, die aber weiterhin mehrere Hundert Kilometer entfernt lebt. Seit dieser Zeit ist er in wechselnden Jobs als Techniker tätig, bis er schließlich die Anstellung am Planetarium findet, wo er die Projektoren betreut. Er geht, da schon ein Mann in den Dreißigern, die Beziehung mit Tanja ein, die mehrere Jahre dauert, die beiden ziehen auch in eine gemeinsame Wohnung.

»Nun, das Ende kennen Sie ja bereits«, schließt Konrad, »seitdem ist eigentlich nicht mehr viel los.« Er schaut mich aus müden Augen an, als hätte all das Erzählen ihm nur wieder in Erinnerung gerufen, wie viel Lasten ihm das Leben schon aufgebunden hat, wie viele Trümmerteile vergebener Hoffnungen sich hinter ihm auftürmen.

Während ich Konrads Geschichte niederschreibe, fällt es mir schwer, die Atmosphäre im Therapieraum wiederzugeben, während er sprach. Obwohl Konrad schon da alle wesentlichen Details aus seiner Geschichte berichtet — und es sich um eine bestürzende Geschichte handelt —, bin ich in den Stunden eigenartig fühllos, unberührt, wie betäubt. Die Ereignisse und Jahreszahlen huschen an mir vorbei. Eigentlich müsste an so vielen Stellen ein Nest schmerzlicher Empfindungen glühen: die Vatersehnsucht, die Leere und Leblosigkeit im Kontakt mit der Mutter; die Enttäuschung, es nicht zum Abitur zu schaffen; der frühe Verlust seiner Eltern; das Scheitern seiner Beziehungen. Konrad sucht etwas, das er auch in den fernsten Winkeln der Erde nicht gefunden hat, weil es am Ende vielleicht etwas in ihm selbst ist, das er nicht finden kann. Aber was?

Konrad spricht nahezu ohne emotionale Beteiligung, was mich immer wieder dazu verleitet, ihm Gefühle gleichsam anzubieten, als wolle ich um sein fühlendes Herz werben, das sich irgendwo in seinem Faktenbericht verstecken muss: »Das war für Sie bestimmt nicht leicht.« Oder: »Das muss traurig gewesen sein.« Oder auch: »Sie hatten sicherlich große Sehnsucht.« Konrad wiegelt das alles ab, er verneint es nicht, stimmt manchmal sogar zu, aber einen emotionalen Zugang öffnet das nicht. Ich komme mir vor wie jemand, der draußen vor verschlossenen Türen steht und ans Fenster klopft — ein wenig zu polterig, als würde ich darauf beharren, über Dinge zu sprechen, die für ihn eigentlich erledigt scheinen. Gleichsam wie das leibhaftige Klischee eines Psychoanalytikers, der in der Vergangenheit bohrt, Eintritt in Konrads innere Welt zu erlangen sucht, wo er sich eigentlich nur ein besseres Schloss für seine Tür von mir wünscht.

Ich glaube, Konrad hat in seinem Leben selbst schon früh vergeblich an solche Türen geklopft, bei anderen Menschen, wie ich jetzt bei ihm — aber wenn niemand aufmacht, entsteht vielleicht eine grundlegende Überzeugung, dass diese Mühe vergeblich ist. Es ist etwas wie eine fundamentale Resignation in ihm, beinahe anorganisch wie die Materie, bevor sie zum Leben erweckt wurde. Ich bin fast geneigt, sein Angstsymptom — die Panik — als ein Zeichen von Lebendigkeit zu werten. Angst heißt ja immer auch, leben zu wollen. Immerhin: Sein Symptom — und die Aufmunterung seiner Schwester — waren es auch, die ihn dazu bewegt haben, eine Therapie zu beginnen. In irgendeinem Winkel seiner Seele hofft er vielleicht, dass es jemanden gibt, der helfen kann.

In einer Stunde sage ich: »Vielleicht war das alles zu schmerzhaft für Sie. Wenn Sie das alles hätten fühlen müssen, wären Sie an diesem Gefühl verbrannt. Sie haben Ihren fühlenden Teil in Eis gepackt. Und wir beide stehen gerade vor dieser Wand aus Eis.«

Konrad schaut mich ein wenig scheel an, antwortet mir mit einem seiner »Hms«.

Als ich nachfrage, was er denn im Kopf hat, wenn er mir ein »Hm« zuschiebt, antwortet er: »Ne, stimmt schon, Sie könnten recht haben mit dem Eis« — aber wieder klingt es, als würde er ausweichen, als könne er mich am besten auf Distanz halten, indem er mir mit Worten ein Zugeständnis macht.

Es wirkt überhaupt, als wäre er skeptisch gegenüber allen allzu »psychologischen« Deutungen oder einer Sprache, die zu bilderreich und metaphorisch ist. »Ich bin eher so ein rationaler Typ«, sagt Konrad — obwohl ich von Anfang an das Gefühl habe, dass er eigentlich sehr sensibel ist.

Lässt sich seine Problematik nicht geradewegs in diesem Licht beschreiben: Konrad hat nur wenig Zugang zu seinen eigenen Gefühlen und damit auch wenig Zugang zu sich selbst? Wir brauchen diesen Kontakt zu uns selbst, damit wir uns lebendig fühlen. Ohne ihn ist die Welt für uns leer und dürftig. Etwas in Konrad hat diesen Kontakt unterbunden. Man könnte auch sagen: Konrad hat etwas verdrängt, wobei ich dieses Wort ungerne verwende, da es so viele Assoziationen hervorruft und oft missverstanden wird. Es geht nicht darum, dass sich Konrad nicht an die traurigen Ereignisse seiner Geschichte erinnert: Er hat sie mir ja berichtet — aber die Verbindung zu den damit verbundenen Gefühlen ist gekappt. Obwohl diese Gefühle vielleicht noch da sind, ihn untergründig zu beherrschen scheinen, er sie gerade nicht hinter sich lassen kann. Es scheint, dass Konrad alle psychischen Kräfte aufwenden muss, das Tor zu diesen schmerzhaften Erinnerungen zuzudrücken. Vielleicht ist das Konrads inneres Dilemma: Er kann sich nicht lebendig fühlen, solange er keinen Zugang zu seiner Gefühlswelt findet, aber einen Zugang zu finden würde zugleich bedeuten, von Schmerz überwältigt zu werden.

Ohne Verbindung zu sich selbst verarmt aber auch die Beziehung zu anderen, denn ohne Gefühle wird jedes Gespräch leer, gewinnen Worte keine Bedeutung, können auch andere nicht mit ihm in Resonanz kommen. Vielleicht weiß er selbst gar nicht, wie viel Schmerz er in sich trägt, denke ich, es ist da nur dieses gefrorene Meer in ihm, das ihn immer wieder sagen lässt: »Ich weiß nicht, ich kann es nicht fühlen« oder einfach »hm«. Konrad wirkt so tief in sich vergraben, kann mit dem, was ich sage, nicht wirklich etwas anfangen, dass ich mich frage, ob eine Therapie, bei der es vor allem um das Sprechen über das innere Erleben geht, wirklich das Richtige für ihn ist. Wie kann ich Konrad helfen?

Manchmal sind es weniger die Worte, die ein Mensch spricht, als seine Fantasien, Interessen oder etwas scheinbar Nebensächliches, worin sich der »lebendige« Teil des Selbst verbirgt. Konrad spricht in den ersten Wochen wenig von solchen Dingen: wovon er träumt, wofür er sich begeistert, was ihn interessiert. Bis auf eine Sache, die mir wie ein Farbfleck auf einer grauen Leinwand erscheint: seine Faszination für das Weltall. Schon als Jugendlicher, sagt Konrad, habe er viel gelesen, Science-Fiction, vor allem aber Sachbücher über Astronomie. Das sei bis zum heutigen Tag so geblieben, er »binge« oft bis in die Nacht Podcasts oder Erklärvideos zu diesem Thema. Sein Arbeitsplatz im Planetarium ist also nicht ganz zufällig gewählt. Auch wenn er sich darüber beklagt, dass er es hier mit »künstlichen Sternen« zu tun hat, steckt darin doch ein wahres Interesse. Konrad verrät mir, dass er schon als Jugendlicher den heimlichen Wunsch hatte, Astrophysiker zu werden. Deshalb wollte er sein Abitur nachholen, auch wenn er seinen Eltern damals nichts davon erzählte. Erst viel später in der Therapie wird er mir schildern, dass er, wenngleich auf einem anderen Weg, immer noch an der Verwirklichung dieses Traumes arbeitet, auf eine Weise, die ich ihm zu Beginn der Therapie nicht zugetraut hätte.

Es ist dieses Gespräch über seinen alten Wunsch, Astrophysiker zu werden, in dem zum ersten Mal ein wirklicher Austausch stattfindet, wir in Kontakt kommen. Vielleicht spürt Konrad, dass auch ich mich für das Thema interessiere — immerhin kann er dieses Interesse wahrnehmen, und ein wenig Lebendigkeit kommt in den Raum. Es beginnt ein Dialog, in dem wir uns vordergründig über Sternensysteme austauschen, in dem aber vielleicht zugleich noch etwas ganz anderes mitgeteilt wird — als sprächen wir nicht nur über einen fernen Planeten, sondern auch über Konrad.

Er beschreibt, dass er durch einen Podcast von der Entdeckung eines Planeten in einem benachbarten Sternensystem erfahren hat, der sich in der »bewohnbaren Zone« befindet.

»Es könnte dort Leben geben?«, frage ich.

»Man weiß es nicht. Aber es ist eher unwahrscheinlich.« Der Stern, an den der Planet gebunden sei, weise in unregelmäßigen Abständen immer wieder »Ausbrüche« auf, die den Planeten wahrscheinlich radioaktiv verstrahlten.

»Wenn dort etwas lebt, dann hat es nicht viel Zeit, sich zu entwickeln. Immer nur von Ausbruch zu Ausbruch, ehe es wieder ausgelöscht wird und von Neuem beginnen muss. Vielleicht hat der Planet aber gar keine Atmosphäre mehr, die ihn schützt, und es kann dort ohnehin nichts entstehen.«

»Hm«, sage ich. Ein Schweigen tritt ein, ehe ich hinzufüge: »Dann wäre es eine leere und tote Landschaft.«

»Ja«, sagt Konrad, »aber irgendwie — ich weiß nicht. Gerade das hat ja etwas. Der Wüstenplanet. Das hat mich irgendwie schon immer fasziniert.«

Als Konrad mir seine Vorstellung ferner Wüstenwelten näherbringt, wird sein Blick wacher, in sein Sprechen kommt ein Moment von Leidenschaft — als würde er gerade dort lebendig, wo es um das Tote geht. Auch in mir entstehen beinahe poetische Fantasien, aber grauenvoller Art: der Planet, der den Mutterstern umkreist, wieder und wieder, wie in der Hoffnung, von ihm endlich jenen Funken zu empfangen, der Leben wecken könnte. Aber es kommt nur das tödliche Licht.

»Es ist merkwürdig«, sagt Konrad, »warum es das überhaupt gibt. Einen Planeten, bei einem fernen Stern, wo nichts ist, nur Leere.«

»Sie meinen, weil eine Erde ohne Leben sinnlos ist?«, sage ich, fragend, unverständig.

»Aber auch anziehend …«, sagt Konrad und fügt nach einer Weile hinzu: »Der Planet fühlt es ja nicht, das Sinnlose.«

»Weil er nicht lebendig sein muss.«

»Ja«, sagt Konrad und sieht mich an, als wäre er überrascht von meiner Antwort.

Am Weltall habe ihn immer schon die Leere des Raumes fasziniert, mehr als die Frage, ob es Leben gibt. »Denn selbst wenn es dort irgendwo andere Lebensformen gibt, können wir wahrscheinlich nie voneinander erfahren.« Es gäbe Hohlräume im All, die allein durch ihr ungeheures Ausmaß jede Verbindung unmöglich machten. Denn selbst ein Lichtstrahl, den man von einem Ort zum anderen schicke, könne sein Ziel nie erreichen, bevor es nicht schon lang erloschen sei.

Dieser Lichtstrahl, so denke ich, ist ein Bild dafür, wie Konrad Beziehungen erlebt: als wäre es vergeblich, je beim anderen anlangen zu wollen, die Ferne zwischen ihm und dem anderen unüberwindlich. Es ist aber auch ein Sinnbild für unsere gemeinsame Arbeit, unsere Therapie: eine Reise, von der Konrad nicht glauben kann, dass sie an ein Ziel gelangen wird, statt immer nur neue Räume der Leere in seinem Innern zu durchmessen. Eine Reise, die er aber dennoch unternimmt, indem er zu unseren Sitzungen kommt. Ein Teil von ihm identifiziert sich mit dem Toten. Er empfindet eine Faszination für die Leere, wie eine abgründige Lust am Nichts, die ich auch in anderen Lebensbereichen an ihm wahrzunehmen meine, als wäre die Hoffnungslosigkeit sein heimlicher Trost, als könne nur das Nichts so etwas wie Geborgenheit geben: von der Leere umhüllt, wie auf einer Reise des Lichts durch die Nacht, allein, und keine Augen um ihn, die ein Urteil sprechen, ohne Schmerz, aber auch ohne Sinn.

Was ist mit dem Teil von ihm, der leben will, der sich nach dem anderen sehnt und nach einem »Wozu«? Ich glaube, auch etwas von dieser anderen Seite wahrnehmen zu können. Es ist viel wert, dass Konrad solche Worte überhaupt finden kann, ein Bild ausgestalten, das eigentlich gut zu seinem seelischen Kosmos passt — auch wenn er es noch nicht mit sich selbst in Zusammenhang bringt. Wer ein Wort oder ein Bild findet für das, was in ihm ist, der hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er sich einmal doch einem anderen wird mitteilen können.

Ich formuliere in der Stunde keine Verbindung zwischen unserem Gespräch über das Weltall und Konrads innerer Welt, denke das erst einmal nur für mich — auch, weil ich ihm nicht zu nahe treten will und das Gefühl habe, nicht gleich meinen Stiefel in den Spalt der Tür setzen zu dürfen. Schon in der nächsten Woche ist diese Tür — einstweilen — wieder geschlossen und Konrad im Zustande jener Unlebendigkeit, die auch mein Fühlen betäubt.

Nach einigen Wochen Probesitzungen — es ist mittlerweile Dezember geworden — vereinbaren wir schließlich die Aufnahme einer psychoanalytischen Therapie für den Beginn des neuen Jahres, mit drei Sitzungen in der Woche, aber nicht auf der Couch, sondern im Gegenübersitzen.

Wie mit Konrad arbeiten? Was sind die Ziele der Therapie? Was möchte Konrad selbst mit der Therapie erreichen? Als ich ihn das frage, ist er ratlos. »Nachts besser schlafen zu können«, sagt er, »und irgendwie — weiterkommen. Aber eigentlich kann ich das gar nicht so genau sagen, was ich erreichen will.«

Ich sage: »Wäre das nicht ein Ziel unserer Arbeit? Dass Sie wissen, was Sie wollen? Und Entscheidungen treffen können, wie Sie Ihr Leben gestalten möchten?«

Konrad sagt, dass er sich eine Beziehung wünscht. Aber er möchte nicht, dass es noch einmal so endet wie mit Tanja. Ob das mit Kindern noch etwas wird, daran zweifelt er. Ob es nicht zu spät ist — »und ob ich es wirklich kann, Vater sein. Oder ob es nicht besser für meine Kinder ist, nicht auf die Welt zu kommen«, sagt er.

»Es ist besser für meine Kinder, nicht auf die Welt zu kommen«: Diesen ernüchternden Satz muss ich für mich wiederholen. Es steckt vielleicht ein Funken Wahrheit darin. Konrad nimmt wahr, dass Kinder etwas brauchen, das er nicht geben kann, solange er unter der Herrschaft jener rätselhaften Leere steht. Wieder ist da diese Resignation — die zweite Hälfe des Lebens ist angebrochen, der Sommer neigt sich dem Ende zu, viele Türen beginnen sich zu schließen. Wird es der Therapie gelingen, daran etwas zu verändern? Und wie lange wird das dauern? Bleibt Konrad dann noch genügend Zeit? Oder käme er, selbst wenn die Therapie ihm einen Weg ins Freie zeigt, in eine Welt, die sich ohne ihn weitergedreht hat und in der er keine Heimat mehr finden kann? Ziel einer Therapie muss nicht immer zwingend sein, neue Möglichkeiten zu eröffnen. Gerade bei älteren Menschen geht es öfter darum, Abschied zu nehmen von dem, was nicht mehr möglich ist, die eigene Geschichte anzunehmen. Auch bei Konrad scheint es darum zu gehen, etwas Versäumtes zu betrauern. Zugleich erhebt etwas in mir Einspruch: Noch ist etwas möglich!

Ich glaube, die Frage nach einer Beziehung und Kindern ist bei Konrad auch in einem übertragenen Sinn zu verstehen. Es geht nicht nur um die leiblichen Kinder einer eigenen Familie, sondern ganz grundlegend um die Frage, ob er etwas ins Leben bringen kann, ob er etwas in sich trägt, das ihm so viel bedeutet, dass er es anderen Menschen geben möchte. Und dahinter steht auch eine ganz grundsätzliche Frage: ob er lieben kann. Nichts aber macht uns so schutzlos, oder in den Worten Sigmund Freuds: »Niemals sind wir so verletzlich, als wenn wir lieben.« Konrad hat das in seinem Leben schon viel zu früh erfahren. Dies vielleicht ist der maßgebliche Punkt, der über die Entwicklung der Therapie entscheiden wird: Kann Konrad noch einmal dieses Wagnis eingehen, sein Herz an etwas binden, an etwas wirklich glauben?

Ich frage Konrad: »Glauben Sie denn, dass etwas anders werden kann?«

Konrad: »Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Ich würde es mir wünschen. Aber ob ich daran glauben kann …« Konrad beendet den Satz nicht.

Ich sage: »Wahrscheinlich können wir beide hier noch keine Antwort geben. Sie und ich wissen noch nicht, was aus unserer Arbeit entstehen kann und was nicht.«

»Ja«, sagt Konrad, »das steht in den Sternen.«

Die ersten Wochen und Monate der Therapie sind für mich quälend und mühsam. Dadurch, dass ich Konrad nun mehrmals in der Woche sehe, greift das Gefühl der Leere nur umso mehr Raum. Konrad spricht über seinen Alltag, seine Arbeit als Techniker, öfter auch über seine vergangene Beziehung zu Tanja. Doch alles, was er sagt, scheint wie der wiederkehrende — und scheiternde — Versuch, der Wüste Leben einzuhauchen. Konrad beschreibt mir die Begebenheiten in einer Weise, dass ich nicht recht weiß, was ich dazu sagen soll. Es gibt scheinbar kein konkretes Problem, keine offene Frage, über die wir uns gemeinsam austauschen könnten, sondern nur fertig gebackene Ausschnitte seines Lebens, Berichte, Anekdoten, die er mir in den Raum legt, mit denen ich aber nicht wirklich etwas anfangen kann. Immer wieder entsteht zwischen uns Schweigen, Leere, manchmal minutenlang. In den Schweigepausen baut sich in mir ein innerer Druck auf, den Zustand durch irgendetwas zu beenden, eine Nachfrage, eine Bemerkung. Aber mein Denken ist wie gelähmt, mir fällt nichts Sinnvolles ein, außer belanglose Bemerkungen: »Wie ist es denn zurzeit in der Arbeit?«, oder: »Wie haben Sie denn das Wochenende verbracht?« Doch auch damit rege ich kein Gespräch an, sondern ziehe nur immerzu einen Fahrschein ins Nirgendwo. Konrad antwortet bemüht, aber einsilbig, wahrscheinlich unter dem Bann derselben Einfallslosigkeit. Unsere Zusammenkünfte haben etwas von endlosen Familienkaffeetreffen, die quälend sind, weil man sich eigentlich nicht wirklich etwas zu sagen hat. Und beim Versuch, die Zeit »totzuschlagen«, entsteht eben nur das: tote Zeit. Ich bin erleichtert, wenn die Turmuhr mir das nahe Ende der Stunde ankündigt, aber immer auch unbefriedigt: Wie kann ich nur in Kontakt mit Konrad kommen? Ich beschwichtige mein Unbehagen mit einer abstrakten Hoffnung: Morgen gehe ich es anders an.

Doch die Stunden gleichen sich. Morgen ist wie gestern. Immer wieder ergibt sich jene charakteristische Konstellation in unserer Begegnung, in der Konrad ratlos wirkt, sich eine Leere ausbreitet — weil nicht wirklich Gefühle im Raum sind —, während ich auf eine irgendwie unbeholfene Weise versuche, so etwas wie emotionale Wiederbelebungsmaßnahmen zu ergreifen. Ich unterbreite ihm Vorschläge, was er vielleicht empfinden könnte, versuche zu benennen, was ihn eigentlich bewegt, worum es in der Stunde wirklich geht. Das allerdings ist die Frage: Worum geht es in den Stunden?

Einmal berichtet Konrad von einer Situation im Planetarium, die ihm am Vortag widerfahren ist. Ein Besucher, wohl auf der Suche nach der Toilette, war unerlaubt in den Maschinenraum eingedrungen und ließ sich, neugierig geworden, nicht wieder hinauskomplementieren, obwohl Konrad ihm — allerdings auf sehr verklausulierte Weise — sagte, dass dies kein Besucherraum sei. Konrad habe schließlich resigniert und so getan, als wäre der Besucher nicht da, bis dieser endlich gegangen sei.

Die Geschichten, die Patienten während der Therapie erzählen, finden ihren Weg zumeist nicht ganz zufällig in den Therapieraum. Häufig stellt sich eine assoziative Verbindung her zwischen dem, was erzählt wird, und dem, was gerade in der Therapie geschieht, auch wenn die Geschichte ganz willkürlich ausgewählt scheint. Oft gibt es einen Grund, warum gerade diese Geschichte auf diese bestimmte Weise erzählt wird. Aus Psychotherapien mit Kindern ist bekannt, dass sie ihren inneren Zuständen, für die sie noch keine Worte haben, auf eine andere Weise Ausdruck geben, in ihrem Spiel. Kinder sagen ihren Therapeuten meist nicht: »Ich habe dich seit der letzten Stunde so vermisst«, sondern lassen eine traurige Spielfigur zu einer anderen sagen: »Ich gehe weg und komme nicht wieder«, woraufhin die andere vielleicht antwortet: »Geh nicht fort, sonst muss ich weinen!« In Kindertherapien ist Spielzeug unabdingbar, die therapeutische Arbeit entfaltet ihre Wirkung über das gemeinsame Spielen.

Spielsachen habe ich keine in meinem Therapieraum, der ja für Erwachsene ausgelegt ist. Aber ein gewisser spielerischer Zugang bleibt auch in meiner Arbeit mit erwachsenen Patienten erhalten: in den Anekdoten und Geschichten, aber auch Träumen und Fantasien, die mir Patienten berichten. Mit einem Ohr lausche ich jeder Erzählung immer auch ein wenig so, als würde ein Kind etwas mit Spielfiguren darstellen. Das bedeutet nicht, dass ich meine erwachsenen Patienten für Kinder halte, wohl aber, dass der Geist des kindlichen Spielens ein Leben lang in jedem Menschen erhalten bleibt — wir denken nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern und Handlungen.

Man darf die Interpretation von Erzählungen während der Therapie nicht überstrapazieren, auch, weil sich in jeder Mitteilung eines Menschen immer eine Vielzahl möglicher Bedeutungen überlagern. Bei Konrad jedoch habe ich immer wieder das Gefühl, dass er mir mit solchen scheinbar belanglosen Anekdoten auch etwas über unsere therapeutische Begegnung mitteilt, nicht bewusst, aber auf jene indirekte und vergrabene Art und Weise, wie sie ihm wohl allein möglich ist. Das gilt auch für jene Geschichte vom penetranten Besucher, der sich nicht aus seinem Maschinenraum vertreiben lässt.

In der Nachbetrachtung der Stunde denke ich: Das war auch eine Geschichte über uns beide. Ich bin der penetrante Besucher, der zufällig in sein Maschinenreich eingedrungen ist. Er will mich wieder loswerden, ich störe seine Einsamkeit, die ihm wenigstens ein bisschen Ruhe verschafft — aber es gelingt ihm nicht, ich setze mich fest, weshalb er meine Anwesenheit über sich ergehen lässt, in der Hoffnung, dass ich aufgebe. Vielleicht ist das wirklich ein treffendes Bild für den Ablauf unserer Sitzungen. Die Geschichte über den Maschinenraum ist eine Geschichte über seine psychische Abwehr, über die Art und Weise, wie er durch einen Rückzug in sich selbst versucht, den Kontakt mit mir zu unterbinden, vielleicht aus Angst davor, berührt zu werden. Dass es auch noch einen anderen Konrad gibt, jemand, der sich in seinem einsamen Versteck danach sehnt, von mir gefunden zu werden — eine solche Geschichte erzählt er mir hier noch nicht. Auch nicht, dass er sich in diesen Kammern seines Selbst nicht alleine aufhält, es keineswegs nur ein »Hohlraum« ist, sondern sich dort noch jemand anderes befindet, den ich bislang nicht kennengelernt habe.

In den Stunden ist mir die Ebene des intuitiven Nachdenkens weiterhin unzugänglich. Ich verstehe Konrads Geschichten nicht mit meinem Herzen, sondern versuche sie wie Knobelaufgaben mit Gedankenarbeit zu lösen, antworte deshalb auch immer wieder an ihm vorbei. Wohl bin auch ich von der Angst beherrscht, in einen fühlenden Kontakt mit Konrad zu kommen — denn was geschähe, wenn ich Konrad wirklich zum Leben erwecken würde?

Zu der Geschichte vom Besucher im Maschinenraum sage ich: »Da haben Sie sich wahrscheinlich richtig über den ungebetenen Gast geärgert.« Worauf Konrad mir eine seiner leblosen Zustimmungsfloskeln zuschiebt, die eigentlich nur sagen, dass ich nicht wirklich den Kern der Sache getroffen habe. Konrad wirkt dann auf eine resignative Weise frustriert — er versteht ja selbst nicht, was er mir eigentlich mitteilen will. Gleichzeitig kann er das nicht zum Ausdruck bringen, kann mir nicht sagen: »Ich fühle mich nicht verstanden, ich wollte irgendetwas anderes sagen.« Wäre dies der Fall, dann würde vielleicht ein Prozess der Verständigung beginnen, wir von unseren Planeten aus Lichtsignale austauschen. Aber da hat er sich schon wieder schweigsam in sich zurückgezogen. In dieser Dynamik steckt wiederum ein gutes Stück Übertragung. Ich bin für Konrad eine Person, bei der es von vornherein vergebens scheint, sich verständlich machen zu wollen, ein therapeutischer Vater oder eine therapeutische Mutter, die unfähig scheinen, etwas von ihm verstehend aufzunehmen — eine Dynamik, zu der er selbst beiträgt, indem er sich geradezu kryptisch äußert. Vielleicht bin ich aber nicht nur unverständig, sondern auch unheimlich für Konrad, eine bedrohliche Figur, die er mit ein paar mageren Knochen auf Distanz zu halten versucht.

Als ich Konrad frage, wie er unsere Gespräche erlebt, ob ihm das Sprechen über sich nicht auch Angst macht, antwortet er: »Angst fühle ich nicht. Aber ich weiß auch nicht, was ich in den Stunden sagen soll. Ich hab das Gefühl: Da ist eigentlich nichts, was mich beschäftigt. Wenn ich hier in der Therapie bin, dann geht mir eigentlich nichts durch den Kopf.«

Ich: »Ist es anders, wenn Sie zu Hause sind? Beschäftigen Sie da Dinge, über die Sie eigentlich gerne sprechen möchten?«

Konrad überlegt eine Weile, meint dann: »Eigentlich nicht. Also ich merke schon, irgendetwas stimmt nicht. Aber dass mich wirklich etwas beschäftigt … irgendwie ist da nichts.«

Ich sage: »Dann ist es vielleicht erst einmal dieses Nichts, das Sie mit in die Stunde bringen.«

Mein Gefühl sagt mir, dass es nicht weiterhilft, die Leere, die sich im Therapieraum ausbreitet, mit etwas füllen zu wollen. Denn ist das nicht mein eigener Drang, diese Leere verscheuchen zu wollen, weil ich selbst sie nicht ertrage? Und teile ich ihm auf diese Weise nicht vor allem dies mit: »Ich ertrage nicht, was du in dir hast. Lass uns etwas anderes daraus machen?« Tatsächlich ist das Nichts, das unsere gemeinsamen Stunden prägt, schwer auszuhalten. Nach nur wenigen Minuten Stille im Raum ist es für mich fast so, als würde mir schwindelig, als wäre ich nicht ganz da, ein Zustand, von dem ich mich erlösen möchte, durch irgendein Wort, das das Schweigen durchbricht. Aber wenn es wirklich dieses Nichts ist, das Konrad in sich fühlt: Wie soll Konrad dann hier lernen, mit der Leere umzugehen, wenn ich sie keine Minute ertrage? Vielleicht muss ich selbst erst einmal eine Begegnung mit Konrads innerer Welt zulassen, damit so etwas wie eine Verbindung zwischen uns entsteht.

Ich nehme mich in den kommenden Stunden mehr zurück, versuche, nicht nach einer Bedeutung zu suchen, sondern das Gefühl, das in der Stunde entsteht, erst einmal ganz auf mich wirken zu lassen, mich, wenn man so will, berühren zu lassen von der Leere. Mein therapeutisches Handeln beschränkt sich von nun an darauf, lediglich die Gefühle zu benennen, die im Hier und Jetzt unserer Begegnung entstehen.

Einmal sage ich: »Heute fühlt sich die Stunde für Sie vielleicht quälend lang an.«

Konrad blickt auf, seine Antwort wirkt etwas lebhafter als sonst: »Ja, quälend lang.« Er entschuldigt sich bei mir, dass er nichts Produktives beitragen kann.

Ich sage: »Vielleicht muss erst einmal ausgesprochen werden, wie Sie sich hier wirklich fühlen.«

Konrad: »Aber ich weiß nicht, ob das etwas hilft. Ich glaube, das ist nicht sehr nett, wenn ich Ihnen sage: Die Stunde ist eine Qual. Sie machen es ja wirklich gut, das ist nichts gegen Sie.«

Ich: »Möglicherweise kann ich selbst ja auch fühlen, wie quälend lang die Stunde ist.«

Konrad blickt mich etwas überrascht an, als er sagt: »Ist für Sie die Stunde auch quälend?« Es ist die erste Frage, die er direkt an mich, meine Person und meine Gefühle richtet. Als Psychoanalytiker bin ich zurückhaltend mit Mitteilungen über mein Gefühlsleben. Nicht, weil ich um eine statuenhafte Neutralität bemüht bin, sondern weil persönliche Worte, unbedacht gesagt, schnell irritieren, zu Missverständnissen führen oder auch verletzen können. Es soll ja um den Patienten und seine Gefühle gehen, nicht um meine. Etwas von mir zu erzählen, das bedeutet immer auch, den therapeutischen Raum mit meinen Themen einzunehmen. Wenn ich Konrad antworten würde: »Ja, auch ich finde unsere Stunden schwer erträglich«, würde sich das für ihn nicht anhören wie: »Ich finde Sie unerträglich!«? Das meine ich aber nicht, sondern vielmehr: »Ich glaube, ich kann heute fühlen, wie quälend die Stunde für Sie ist.« Genau das sage ich Konrad auch nach einem kurzen Moment, in dem ich meine Gedanken sammeln muss.

Ich bin nicht sicher, wie Konrad es aufnimmt, schließlich wirkt er aber beinahe erleichtert und sagt: »Das überrascht mich. Aber irgendwie auf eine gute Weise.«

Zum ersten Mal wirkt er gelöster, als wir uns am Ende der Stunde verabschieden. War das so etwas wie ein erster Kontakt? Eine Verständigung darüber, dass wir beide etwas Ähnliches fühlen können? Was für Konrad ja auch bedeutet: Er ist im Raum mit einem anderen Menschen, der nicht nur schweigend dasitzt, sondern beteiligt ist an dem, was geschieht.

Emotionaler Kontakt auf einer ganz basalen Ebene beruht darauf, dass eine Person das, was in ihr vorgeht, einer anderen Person fühlbar machen kann, wenn nicht mit Worten, dann auf eine andere, wortlose Weise. Auf diesem Austausch fußt all unsere emotionale Entwicklung. Wenn ein Kind Angst bekommt, ist es wichtig, dass es diese Angst seiner Mutter oder seinem Vater mitteilen kann — und mit diesem Gefühl auch zu seinen Eltern durchdringt, ein Stück Besorgnis in ihnen wecken kann, nicht an ihnen abprallt. Es ist erleichternd, wenn das Kind fühlt: Meine Angst ist beim anderen angekommen, hat etwas im anderen bewirkt. Nur, wenn Eltern sich von den Gefühlen ihrer Kinder wirklich berühren lassen, können sie ihre Kinder beruhigen — ohne sich allerdings von diesen Gefühlen überwältigen zu lassen, etwa selbst in Panik zu geraten. Das ist die Basis dessen, was man Verstandenwerden nennt: die Erfahrung eines emotionalen Austauschs. In der Psychoanalyse nennt man diesen Prozess auch Containing, das heißt das Aufnehmen und Verarbeiten der Gefühle eines anderen.

Wo das Gegenüber sich verschließt, ausweicht, nicht da ist, bleibt das Kind mit einer namenlosen Angst alleine, wird sie nicht los, kann sie nicht verwandeln, es bleibt eine unerträgliche Spannung im Kind zurück. Seine Versuche, sich mitzuteilen, werden verzweifelter, die Handlungen drastischer, seine Stimme vehementer, damit es endlich durchdringt. Aber wenn das alles nicht hilft, es dauerhaft keinen Weg zum Inneren des anderen gibt — vielleicht, weil die Eltern emotional abwesend sind wie Konrads Vater oder in depressiver Fühllosigkeit erstarrt, wie bei seiner Mutter —, dann bleibt das eigene Fühlen ohne Antwort, entstehen keine Worte für das Empfundene. Es entsteht eine Lücke im Selbst, die, wenn sich diese Erfahrung immerzu wiederholt, zu einer Leerstelle auswachsen kann. Wo wir uns nicht verstanden fühlen, können wir uns auch selbst nicht verstehen.

Ich glaube zu verstehen, dass es bei Konrad erst einmal darum geht, auf dieser ganz basalen Ebene in Kontakt zu kommen, ihm das Gefühl zu geben, dass er mit dem, was in ihm ist, zu mir durchdringt, dass er damit auch wirklich etwas in mir auslösen kann, und sei es erst einmal nur das: quälende Leere. In dieser Stunde kommt es mir vor, als wäre ein solcher Kontakt zum ersten Mal entstanden — und Konrad hat es auch gespürt. Daher die Erleichterung am Ende der Stunde, er ist wirklich etwas losgeworden.

Tatsächlich verändert sich in den kommenden Monaten die Qualität unserer therapeutischen Begegnung. Konrad beginnt zum ersten Mal, etwas aus seiner Vergangenheit zu erzählen, in einer Weise, die emotional bei mir ankommt, gewissermaßen Worte, die nicht in der Leere ersterben, sondern ein Ziel finden.

Konrad erzählt, dass er, soweit seine Erinnerung zurückreicht, eigentlich fast nie für etwas wirklich »gebrannt« hat. Schon als Kind, wenn seine Fußballmannschaft den Pokal gewann, »da haben alle gejubelt«, und auch er jubelte mit. In Wahrheit habe er aber nur so getan, als würde er sich freuen, mimte Gefühle, die er selbst nicht empfinden konnte. Er habe sie in sich zu wecken versucht — aber selbst, als er den Pokal in den Händen hielt und ihn wie ein kleiner Weltmeister seinen Kameraden präsentierte, sei da nichts in ihm entstanden. Er habe gejubelt und geschrien, »wie blöde, das hat gar nicht gepasst, da haben mich schon alle komisch angeschaut, weil es irgendwie übertrieben war«.

»Als hätten Sie die Freude herbeischreien können, die Sie in sich nicht gefunden haben«, sage ich.

In der Jugend sei es ihm ähnlich gegangen. Er sei zurückhaltend gewesen, nicht »der Lauteste«, aber dennoch Teil eines Freundeskreises gewesen, in dem er bei den Sachen »mitgemacht« habe, »die man in der Jugend so macht«. Doch selbst als er ein Mädchen kennengelernt habe und es mit ihr »zum ersten Kuss« kam, »war da nichts«. »Es war eher anstrengend für mich. Ich habe so getan, als würde ich es genießen. Meinen Freunden habe ich später erzählt, dass es ganz toll war. Aber in Wahrheit war ich froh, als es vorbei war.«

Nach dem Schulabschluss herrschte in seinem Freundeskreis Feierstimmung, alle machten einen drauf. Gemeinsam mit den anderen betrinkt er sich, grölt Lieder, ist auf den Gruppenfotos dabei: aber nicht mit dem Herzen, als gehe ihn das alles in Wahrheit nichts an.

Er habe oft ein schlechtes Gewissen anderen gegenüber gehabt, etwas zur Schau zu stellen, was er eigentlich gar nicht so empfindet. Wahrscheinlich haben nicht einmal seine besten Freunde gewusst, wer Konrad eigentlich ist, als hätte er immerzu eine Art Bühnen-Ich nach vorne geschickt. Was aber ist das Echte in ihm?

»Wie war es, als Ihre Eltern gestorben sind?«, frage ich.

»Mein Vater ist ja ziemlich schnell gestorben. Er hatte schon lange Symptome, so einen Husten. Ich habe auch mal gesehen, dass er Blut spuckt, aber er ist trotzdem weiter auf Touren gefahren. Zum Arzt ist er nicht gegangen, erst ganz am Schluss, als es schon zu spät war. Mein Vater ist vom Führerhaus ins Krankenhaus gekommen, und dann hat er eigentlich nur noch ein paar Wochen gelebt. Ich weiß noch, er ist dann im Krankenhaus gestorben. Wir wurden zu ihm ans Bett gerufen. Als ich ankam, war er schon tot, aber ich durfte noch mal hin. Als ich ihn dann so gesehen habe — Sie wissen ja vielleicht, wie das aussieht, wenn jemand gestorben ist. Es sieht aus, als wäre er noch wie immer, nur so bleich und irgendwie steif. Es ist der Mensch, den man kennt, und doch irgendwie auch ein Fremder. Aber das war mein Vater ja auch schon zu Lebzeiten. Ich habe ihn angeschaut. Ich dachte, jeden Moment schlägt er die Augen auf. Es war so, als müsste er mir noch etwas sagen. Ich habe auf seine Lippen geschaut. Aber da kam nichts.«

Den Tod der Mutter einige Jahre später habe er als »erleichternd« empfunden. Aufgrund »unklarer Befunde« sei sie in den letzten Jahren bettlägerig gewesen, habe sich kaum noch alleine zur Toilette begeben können, »obwohl die Ärzte nie was gefunden haben, was das wirklich erklärt, außer einen kleinen Schlaganfall«. Konrad habe bei der Pflege mitgeholfen. »Aber das war nicht mehr schön. Da kam gar nichts mehr von ihr. Das war nur noch so ein Krepieren.«

Auf meine Nachfrage hin, wie er die Nachricht ihres Todes aufgenommen habe, erzählt Konrad: »Da habe ich mich schon erschrocken. Ich war mit einem Kumpel aus der Schulzeit gerade auf Mallorca, der hat mich gefragt: ›Was ist los, Konny‹? — ›Mama ist gestorben.‹ Da hat mein Kumpel Tränen in die Augen bekommen, und plötzlich hab ich auch angefangen zu heulen, wie ein Schlosshund. Ich habe gesagt: ›Schon gut, mir geht es gut, es ist besser so, jetzt ist sie erlöst‹, aber ich konnte trotzdem nicht aufhören zu weinen. Aber dann war es mit einem Mal vorbei. Seitdem habe ich nie wieder geweint. Auf dem Flug zurück war ich schon damit beschäftigt, zu planen: Was sind jetzt die nächsten Schritte? Die Beerdigung war für mich so eine Qual. Die ganzen Leute, die mir ihr Beileid aussprechen. Ich wollte eigentlich nur meine Ruhe haben, den Kopf frei kriegen.«

»Da waren plötzlich so viele Menschen in Ihrem Maschinenraum, die etwas von Ihnen erwarten: dass Sie Gefühle zeigen«, sage ich.

»Aber ich habe mich gar nicht so traurig gefühlt«, sagt Konrad, »eher gestresst.«

»Auf der Beerdigung nicht mehr«, erwidere ich. »Aber auf Mallorca, da haben Sie etwas gefühlt. Ich glaube, in den Tränen Ihres Freundes haben Sie Ihren eigenen Schmerz gesehen.«

Konrad: »Nach dem Tod von Mama dachte ich dann: Jetzt fängt etwas Neues an. Jetzt packe ich meine Sachen.«

Konrad brach die Zelte in Deutschland ab und reiste um die Welt. Seine Reise wirkt auf mich aber nicht wie der Ausdruck einer neuen Freiheit. Er scheint mir eher wie verzweifelt, von etwas getrieben oder vor etwas auf der Flucht, das ihn durch alle Länder verfolgt. Er jobbte hier und da, blieb kaum mehr als ein paar Tage oder Wochen am selben Fleck, lebte so für Jahre.

Konrad sagt: »Ich habe so schöne Orte gesehen. Aber ich habe mich trotzdem nicht gut gefühlt. Auf der ganzen Reise nicht, obwohl es genau das war, was ich wollte: mich endlich mal gut fühlen …« Konrad schweigt eine ganze Weile, ehe er fortsetzt:

»Der schlimmste Moment, das war in Neuseeland. Ich war ja ungebunden, musste mich um niemanden mehr kümmern, die Zeit in Deutschland war vorbei. Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt zurückwill. Ich habe Lucy kennengelernt. Die war selbst Touristin, aus den USA, die war ein bisschen älter als ich. Wir haben uns auch gut verstanden, sind dann zusammen auf Tour gegangen, haben uns das Land angeschaut, die Städte, Wellington und Auckland, aber dann vor allem die Wildnis, an der Küste entlang … Ich war an den wunderschönsten Orten, die es auf dieser Welt gibt, mit der wunderschönsten Frau, die ich bislang gekannt habe. Es war Sommer, irgendwo in der Landschaft. Lucy und ich haben uns abends auf eine Decke vor unseren Camper gesetzt, sie hat sich so in meine Arme geschmiegt. Und dann hat sie mich gefragt, ob ich gerade glücklich bin« — Konrad schluckt, zum ersten Mal sehe ich so etwas wie eine wirkliche Betroffenheit in seinen Zügen. »Ich habe gesagt: ›Ja klar.‹ Aber das hat nicht gestimmt. Ich war nicht glücklich. Das Schlimmste war: Es hat sich nicht anders angefühlt als sonst, nicht anders als in Deutschland oder irgendwo sonst auf der Welt. Es hat nicht aufgehört, auch in Neuseeland nicht. Am nächsten Tag sind wir zurückgefahren, und ich hab Lucy sitzen lassen. Ich habe ihr gesagt: Ich muss dringend zurück, etwas mit meiner Familie klären, ich komme bald wieder. Ich bin zurück nach Deutschland geflogen. Aber ich habe mich nie wieder bei ihr gemeldet, nicht mehr auf ihre Nachrichten geantwortet, selbst, als sie ganz verzweifelt geschrieben hat. Ich glaube, das wird sie mir nie verzeihen.«

Ich sage: »Sie haben Lucy sehr verletzt.«

»Ja«, sagt Konrad, mit einem glasigen Blick.

»Aber Sie haben sich auch selbst verletzt«, sage ich.

Als Konrad von seiner Reise erzählt, entsteht vor meinem inneren Auge eine merkwürdige Fantasie: Ich sehe Konrad und Lucy in der neuseeländischen Sommernacht, in Decken gehüllt, über ihnen der nächtliche Himmel. Und es ist, als würde Konrad erst in dem Moment, da sich ein Mensch liebevoll an ihn schmiegt, gewahr, dass er gar nicht der Erde angehört, sondern einem fernen Planeten, ein »Alien« ist, ein Weltenfremder, der hier gestrandet ist. Wie er Lucy in den Armen hält, rührt sich etwas in ihm, das er nicht kennt — der Anflug eines menschlichen Gefühls. Es ist, als würde er, wenn er dieses Fühlen jetzt zulässt, zu einem Erdenbewohner. Doch damit würde er seine Sternenheimat verlieren und nie mehr zurückkehren können. Er will loslassen, aber ein Schmerz übermannt ihn — es geht nicht, nicht jetzt, er muss fliehen.

Trotz allem tut sich für mich ein Lichtstreifen auf: Konrad nimmt wahr, wie sehr er eigentlich etwas vermisst, wie sehr etwas fehlt, für das er noch wenig Worte hat, das sich hinter der Wendung »Bist du glücklich?« verbirgt — ich glaube, es ist die Sehnsucht nach dem anderen, ihn nicht nur in den Armen zu halten, sondern seine Gegenwart und Zuneigung wirklich fühlen zu können. Er kann es nicht. Dies ist einer der wenigen Momente, in denen etwas von seinem Schmerz im Hier und Jetzt unserer therapeutischen Begegnung fühlbar wird. Das bedeutet aber auch: etwas von seiner Lebendigkeit, denn wer einen Mangel fühlt, ist nicht tot. Gleichsam gibt es diesen Teil in Konrad, der an jenem fernen Irgendwo festhält, das ihn nicht auf der Erde heimisch werden lässt, wie eine verborgene Liebe zum Toten. Etwas in Konrad selbst ist zum Wüstenplaneten geworden und lässt die Wüste immer wieder um sich wachsen, auch in unseren Gesprächen. Konrad hält den fühlenden und lebendigen Teil in sich für die größte Bedrohung, etwas, das man nicht kontrollieren kann, das ihn in Verbindung mit all der Verletzung und all der Trauer in sich bringt. Deshalb muss er es ausschalten, muss alles, was ihn zur Lebendigkeit bringen könnte, von sich fernhalten, und sei es auf eine so plötzliche und brutale Weise wie in der Beziehung mit Lucy. Wenn er zu fühlen beginnt, gerät er in Panik — und ich glaube, seine Flucht vor Lucy war nichts anderes als eine solche Panikreaktion.

Wir arbeiten nun bereits ein Jahr zusammen. Zum ersten Mal — es ist kurz vor den Weihnachtsferien — schildert Konrad mir einen Traum, also, wenn man so will, etwas aus dem unkontrollierbaren Teil seines psychischen Lebens. Er leitet die Stunde so ein:

»Am Wochenende, Samstag auf Sonntag, da bin ich wieder einmal mit Panik aufgewacht. In der letzten Zeit war es ja etwas besser, ich hatte seit Monaten keine Attacke mehr. Keine Ahnung, warum jetzt, vielleicht, weil ich das Wochenende alleine war. Aber diesmal konnte ich mich an etwas erinnern.«

»An einen Traum?«, frage ich.

»Ja. Ich weiß nicht, es hat sich so real angefühlt. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich wieder klar im Kopf war … Ich war in Tschernobyl. Also irgendwie dreißig Jahre nach dem Unglück. Ich war ein Tourist in einer Gruppe, die mit dem Bus durch die Sperrzone fährt. Wir sind ganz nahe an den Reaktor herangekommen, also an diesen Beton-Sarkophag. Das war mir unheimlich, der hatte schon so Risse. Ich hab gesagt: ›Weg hier!‹ Dann gab es einen Blitz und ich bin geblendet — aber dann ist es, als wäre gar nichts passiert. Die Landschaft sieht aus wie immer, und auch ich bin nicht verbrannt oder so. Es ist so seltsam ruhig. Auf einmal wird mir klar, dass alles um mich herum verstrahlt ist, auch wenn man es nicht sieht. Auch ich habe zu viel Strahlung abbekommen, die ist direkt in mich rein, ohne Schutz. Im Traum weiß ich, dass ich die Strahlenkrankheit habe. Und dann bin ich aufgeschreckt und hab keine Luft bekommen. Ich musste ans Fenster, eine rauchen, es hat fast die ganze Nacht gedauert, bis dieses Gefühl weg war.«

Der Traum zeichnet ein Schreckbild. Aber dass Konrad überhaupt träumt und diese Traumgeschichte erzählen kann, ist für mich ein Zeichen dafür, dass etwas in ihm in Bewegung kommt. Träume sind aus psychoanalytischer Perspektive ein Versuch der Psyche, etwas fassbar zu machen. Manchmal enthalten sie, was Psychoanalytiker »das Verdrängte« nennen; manchmal aber auch — und das scheint mir bei Konrad der Fall zu sein — etwas, das nie bewusst war, für das es noch nie Worte gab. Bevor wir sie benennen können, erfassen wir viele Dinge träumend, das heißt, in einer bildhaften und intuitiven Weise. Sprechen können, das ist das Ende eines langen Weges, auch in einer Therapie. Vielleicht hat der Mensch sich das, was er in sich selbst wahrnimmt, viele Jahrtausende auf diese Weise angeeignet: träumerisch, in der Sprache der Bilder, lange vor dem ersten Wort. Als Psychoanalytiker bin ich weniger damit beschäftigt, vermeintlich verdrängte Erinnerungen aufzustöbern, als mit der Frage, wie überhaupt so etwas wie Gedanken, Gefühle, Worte — seelisches Land — entstehen kann. Träumen zu können, ist so etwas wie eine Vorstufe dazu, es auch denken zu können — und damit ist jeder Traum eine Insel, die sich aus einem Ozean namenloser Zustände hebt. Was sagt Konrads Traum? Ich habe natürlich kein Lexikon mit Bedeutungen, kann mich dem, worum es geht, nur im gemeinsamen Gespräch mit Konrad nähern. Beinahe die ganze Stunde lang widmen wir uns seinem Traum.

Unsere therapeutische Arbeit bringt Konrad immer näher an den bedrohlichen Kern in ihm. Aber da ist nicht nur eine leblose Wüste, sondern fortschreitende Zerstörung: der strahlende Reaktor. Wenn die Katastrophe auch »über dreißig Jahre« zurückliegt, geht von ihr weiter eine untote Macht aus. Denn nicht gesehen zu werden, sich nicht mit seinem ganzen Wesen geliebt zu fühlen, das ist in der Seele eines Menschen eine Katastrophe, welche die Zeit überdauert. Er hat einen Sarkophag um diese Zone errichtet und damit gleichsam sein fühlendes Selbst beerdigt. Der Sarkophag schützt ihn, aber er schneidet ihn auch von seinem eigenen emotionalen Leben ab. Zum ersten Mal in unserer therapeutischen Arbeit bekommt Konrad eine Ahnung davon, wie verletzt er eigentlich ist. Der Traum schenkt uns eine Metapher, die wir in der Therapie immer wieder verwenden werden: den Sarkophag.

Ich sage: »Dieser Sarkophag, das war bislang die Weise, wie Sie versucht haben, mit Ihren Gefühlen umzugehen. Und es war die beste Lösung in einer Situation, in der Sie keine andere Hilfe erwarten konnten.«

Konrad schweigt eine Weile, wobei sich dieses Mal die Stille nicht quälend anfühlt — im Gegenteil. In Konrad scheint etwas vorzugehen, fast als ringe er mit etwas in sich. Vielleicht eine Bewegung, eine Berührung, die er wieder unter Kontrolle zu bringen, in sich niederzukämpfen sucht? Mit etwas unsicherer Stimme fragt er schließlich: »Aber was ist da in diesem Sarkophag?«

Ich schweige. Darauf weiß ich keine Antwort.

Konrad: »Es ist unheimlich — die ganze Nacht lang, nach diesem Traum, hatte ich noch dieses Gefühl: Alles ist unheimlich, alles ist gefährlich.«

Konrad schildert, was ihm zum Traumbild der »Strahlenkrankheit« einfällt: ein lebender Toter zu sein, am sogenannten »Walking Dead Syndrom« zu leiden. Man sieht es der Person nicht an, sie läuft noch Tage nach dem Unfall wie alle anderen Menschen herum, vermeintlich gesund. Aber in den Zellen ihres Körpers trägt sie schon den Tod. Niemand darf sich, so fantasiert Konrad, einer »verstrahlten Person« annähern, weil man dann sonst selbst verstrahlt wird, »vor allem keine schwangeren Frauen«. — Also niemand, der Leben in sich trägt.

Ich sage: »Mir scheint es auch ein Bild dafür, wie Sie sich selbst fühlen, auch schon vor der Therapie, etwa in Neuseeland. Lebendig begraben zu sein, etwas in sich zu haben, was alle Lebendigkeit in Ihnen auslöscht und alle Beziehungen, die Ihnen wichtig sind.«

Konrad: »Man kann da nicht reingehen, in den Reaktor. Dort kann nichts überleben. Nur einen schwarzen Pilz gibt es im Innern, hab ich mal gelesen, der wuchert dort überall. Der hat sich an die Umgebung angepasst, der ernährt sich von der Strahlung. Ich glaube, es ist besser, wenn man da draußen bleibt.«

Ich: »Sie haben Angst, die anderen mit in diesen Horror zu reißen. Den anderen das zuzufügen, was Sie in sich selbst tragen: Sie machen sie nicht glücklich, sondern verletzen sie. Wie Lucy, die todunglücklich geworden ist. Vielleicht haben Sie die Angst, dass Sie auch mich schützen müssen vor dem, was in dem Sarkophag ist.«

Konrad seufzt tief, dass es sich fast wie ein Schluchzer anhört, antwortet darauf nicht.

Ich glaube, Konrad selbst sehnt sich nach meiner Hilfe, aber das ist eine ambivalente Angelegenheit. Ich bringe ihn schließlich auch in Kontakt mit dem strahlenden Kern seines emotionalen Lebens, mit der Todeslandschaft seiner Seele. Weiß ich überhaupt, ob dieser Weg gut ist, ob er nicht für Konrad eine wirkliche Bedrohung bedeutet, unsere Arbeit sein psychisches Gerüst vollends in den Abgrund reißen könnte? Die entscheidende Frage ist, ob er auf diesem Weg etwas finden kann, das ihn hält, das den Schmerz und die Angst für ihn aushaltbar macht: unsere therapeutische Beziehung. Aber wie tragfähig ist sie, wie viel Vertrauen kann er mir gegenüber empfinden? Es ist nach wie vor sehr schwierig, mit Konrad in Kontakt zu kommen. Auf eine gewisse Weise wird mir das alles auch »unheimlich«, bin ich nicht sicher, ob der therapeutische Prozess »unter Kontrolle« zu halten ist. Mir wird mulmig zumute: Was, wenn ich zwar meine Hand nach ihm ausstrecke, er aber nicht nach ihr greift, wenn er den Halt verliert. Oder er nach meiner Hand zwar greift — ich ihn aber nicht halten kann?

Zu meinen Gedanken passt der Umstand, dass mir einer der wichtigsten Aspekte seines Traums erst Tage später bewusst wird, als es schon zu spät ist, ihn darauf anzusprechen: Konrad hat diesen Traum kurz vor meinem Winterurlaub erzählt, über drei Wochen werden wir uns nicht sehen. Der Traum erzählt also auch von der Angst, was passiert, wenn er die Betonmauer öffnet — und ich bin nicht da, für Wochen abwesend, die sich für Konrad vielleicht sehr lang anfühlen. Und mit Beklommenheit muss ich mir eingestehen, dass ich bis zu dieser Stelle der Therapie noch nicht gemerkt habe, wie sehr Konrad bereits nach mir zu greifen versucht.

Das zweite Therapiejahr hat begonnen. Konrad kommt in schlechter Verfassung zurück aus den Weihnachtsferien. Er hat sich die ganzen Wochen meines Urlaubs nicht gut gefühlt und weiß nicht, warum. Er ist fast die gesamten Ferien für sich allein geblieben, auch Weihnachten, aber das habe ihm nicht viel ausgemacht, »auf den Kram gebe ich nicht so viel«. Die Einladungen seiner Freunde hat er ausgeschlagen, nur an Sylvester war er auf einer Feier, aber das sei noch viel schlimmer gewesen. Kurz vor Mitternacht, da war ihm so »mulmig zumute«, dass er es kaum mehr ausgehalten hat. »Irgendwie so eine Angst oder — ich weiß nicht —, als ob gleich das Licht ausgeht oder so etwas. Als ob ich nicht mehr richtig da bin, als ob das alles nicht wirklich real ist. Ich war froh, als ich dann nach Hause konnte und wieder allein war. Aber ich stand eigentlich die ganzen drei Wochen unter so einer Spannung.«

Ich sage: »Vielleicht war es für Sie schwer, dass keine Therapie stattgefunden hat. Dass ich nicht da war.«

Konrad greift die unpersönlichere Variante meiner Deutung auf: »Hm ja, das kann sein, irgendwie hat die Therapie schon gefehlt. Das hätte mich vielleicht wieder rausgeholt. Ich denke schon, dass mich das stabiler macht. Ich hab öfter gedacht: Mist, dass jetzt Pause ist. Es gab schon Dinge, die ich gerne hier losgeworden wäre. Irgendwie hab ich mich daran gewöhnt.«

Konrad beschreibt mich und die Therapie noch nicht als Beziehung, als zwei Menschen, zwischen denen ein emotionales Band besteht; sondern eher funktional, als »Pille Therapeut«, die man schluckt, damit es einem besser geht. Mit seinen Worten sagt er mir aber auch: Die Therapie ist wichtig geworden für ihn.

Konrad bringt weitere Träume mit in die Stunden. Ich bin überrascht, wie fantasievoll — fast müsste man sagen grausam kreativ — sein Innenleben ist. Konrad träumt von zerstörten Landschaften, von Verfolgern, die ihn durch die Straßen einer verlassenen Stadt jagen, immer wieder von der Strahlenkrankheit, von einem Raumschiff, das in die Bahn eines Neutronensterns gerät, dem strahlenden Überrest einer Sternenexplosion. Um zu entkommen, zündet Konrad in seinem Traum den Antrieb, doch die Anziehung ist zu stark, die Fluchtgeschwindigkeit zu gering, er wird aus dem Raumschiff gerissen, »klebt« auf der glatten Oberfläche des »seltsam kalten Sterns«, ohne sich rühren zu können, und wird schließlich von den ungeheuerlichen Anziehungskräften zerdrückt.

Es ist, als würde Konrads Traumleben immer wieder Bilder für eine Katastrophe finden, die ihm droht, etwas, wofür er eine Lösung sucht, aber keine findet. Wieder und wieder gibt es Fluchtversuche, die scheitern: der fehlende Antrieb, die Stadt, in der alle Türen verschlossen sind. Seine Träume kennen keinen Ausweg, keine Wendung ins Gute und auch keinen anderen Menschen, der ihm helfen könnte. Auch in seinen Träumen ist Konrad allein. Wenn Träume Auskunft über die innere Welt eines Menschen geben, dann ist es ein Land ohne Rettung, das Konrad in sich trägt, auch ein Land ohne Beziehung — er entkommt sich selbst nicht, so wie das Raumschiff nicht gegen die Anziehung des Neutronensterns ankommt. Konrad und ich nennen das, was er fürchtet, »die Katastrophe«, ein Wort, das sich in seiner Unbestimmtheit vielleicht in besonderer Weise eignet, seinem inneren »Etwas« Ausdruck zu verleihen. Was Konrad beschreibt, die seltsamen, depersonalisierten Zustände, Panikgefühle, scheinen mir von einer tiefen Angst in ihm herzurühren, die innere Struktur zu verlieren. Das mulmige Gefühl, das mich bereits vor der Weihnachtspause ergriffen hatte, manifestiert sich bei Konrads Schilderungen erneut. Ich denke, dass ich sehr behutsam und vorsichtig sein muss. Mit einem zunehmend brüchigen Betonsarkophag kommt Konrad in eine sensible Phase, denn dieser Beton hat auch sein Selbst getragen und stabilisiert. Zugleich gibt es ja nur Hoffnung, wenn es eine Öffnung gibt. »Beziehung statt Beton«, das wäre vielleicht die kürzeste Formel dessen, worum es in unserer Arbeit geht.

Manchmal gelingt es Konrad, sich mitzuteilen, mir zu sagen, was ihm durch den Kopf geht, und sei es in der Gestalt eines Traumes, den er mir schildert. Doch oftmals gelingt das nicht. Immer wieder stellt sich in den Stunden ein Zustand ein, den ich »Wegdriften« nenne. Konrad schweigt, aber nicht wie jemand, der nachdenkt, sondern so, als würde seine Aufmerksamkeit von irgendetwas in seinem Inneren abgesaugt. Für mich ist nicht fühlbar, was ihn gerade beschäftigt, ob er traurig ist oder betroffen — er ist einfach auf irgendeine Weise »weg«.

»Wo sind Sie gerade?«, frage ich dann.

Konrad kommt daraufhin stets zu sich und antwortet mit einem guten Stück psychischer Abwehr: »Was? Ach so, nein, ich hab nur gerade darüber nachgedacht, was ich mir heute Abend zum Essen mache.«

Die Tür zu seiner Innenwelt ist verschlossen, auch für ihn. Ich glaube, er hat selbst keine Antwort darauf, wo er gerade gewesen ist, füllt den in ihm entstandenen Hohlraum mit etwas Belanglosem. Mir ist in solchen Momenten unheimlich zumute, denn dann ist auch die Tür zwischen uns verschlossen, und in ihm geschieht etwas, das mir gänzlich verborgen bleibt.

Etwas in ihm ist in Unruhe, lädt die Welt des Alltags mit Bedeutungen auf, die für mich schwer nachzuvollziehen sind. Sind das Zwänge? Sind es kleine »Verrücktheiten«, die sich in sein Verhalten einschleichen, sozusagen Symptome eines Prozesses innerer Auflösung? Oder gab es diese Begebenheiten die ganze Zeit und jetzt erst berichtet er mir davon? Konrad hat auf dem Heimweg von der Arbeit den Bus verpasst. Aus unerfindlichen Gründen ist er nicht nur verärgert, sondern von irgendetwas so tief getroffen, dass er sich nicht mehr rühren kann. Er bleibt stehen, der nächste Bus kommt, er will einsteigen: Aber es geht nicht, er ist wie angewurzelt, er sieht — ohnmächtig und wütend — die Tür auf- und zugehen, den Bus abfahren. Er lässt mehrere Busse vorbeifahren, bis er sich endlich lösen kann, in einen einsteigt und nach Hause fährt. Gemeinsam bemühen wir uns, zu verstehen, was passiert sein könnte. »Ging Ihnen dabei etwas durch den Kopf, irgendein Gedanke?«, frage ich. Doch Konrad weiß es nicht, schildert sich, als wäre er selbst, sein Körper, sein Denken, »auf einen einzigen Punkt im Raum zusammengeschrumpft«. Vielleicht, überlege ich, ist der verpasste Bus wie das Leben, in das er nicht einsteigen kann, das er versäumt. Das frustriert ihn so sehr, dass er es eigenmächtig fahren lässt, auch dann nicht einsteigt, wenn er die Möglichkeit dazu hätte. Aber so recht wollen diese naheliegenden Deutungen nicht verfangen. Auch mein Denken ist in diesem Moment wie versperrt.

In solchen Situationen scheinen Innen und Außen zu verschwimmen. Man könnte sagen: Das Traumerleben webt sich in Konrads Alltag hinein, etwas kommt ihm dort so bedrohlich nahe, dass es ihm in manchen Situationen zunehmend schwerfällt, inneres Erleben und äußere Wahrnehmung voneinander zu trennen. Er erlebt die Szene mit dem Bus wie eine Variante des Traums vom Neutronenstern, von dem man sich nicht lösen kann. Aber es ist kein Gedankenspiel oder eine Metapher, auch kein Traum, sondern eine konkrete Handlung, die Konrad vollzieht.

Eine der wesentlichen Aufgaben unseres psychischen Lebens ist es, unsere Fantasie — also das Innen — und unsere Wahrnehmung — das Außen — voneinander zu trennen. Diese Trennung wird durch unser Ich gewährleistet, in der Psychoanalyse spricht man hierbei auch von der sogenannten Realitätsprüfung. Sie ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss im Kindesalter mühsam erworben werden und lässt sich wohl nie vollständig beherrschen. In jedem Menschen liegen Träumen und Wachen näher beieinander, als wir es uns eingestehen mögen. Je machtvoller und gewaltsamer die innere Welt sich mit Affekten auflädt, »strahlendem Material«, desto mehr gerät das Ich unter Druck. Das innere Erleben dringt unmittelbar nach außen, setzt sich in konkrete Handlungen um, wir verlieren die Distanz zu dem, was in uns vorgeht, können nicht mehr mit einem Abstand über uns nachdenken — und damit auch nicht mehr über uns und unser Inneres sprechen. Konrad kann nicht mehr sagen: »Ich fühle mich, als ob ich nicht von der Stelle komme, während alle anderen weiterfahren« — er kommt an der Bushaltestelle ganz konkret nicht mehr vom Fleck, er spricht mit seinen Handlungen statt mit Worten.

In einer Therapie geht es darum, Worte für das eigene Erleben zu finden, ins Denken zu kommen. Nachdenken, das bedeutet immer, einem inneren Impuls und einer Handlung etwas zwischenzuschalten, sich also bewusst zu werden, was man tut. Wenn wir dieses Dazwischen der Reflexion nicht aufrechterhalten können, sind unsere Ich-Grenzen gefährdet. Der Rückzug ins Nicht-Fühlen, gewissermaßen der Lockdown der Seele, ist in dieser Hinsicht eine Schutzmaßnahme, um das eigene Ich vor einem Zusammenbruch zu bewahren.

Droht das hier mit Konrad? Setzt die Therapie etwas in Bewegung, das ihn im wahrsten Sinne des Wortes »verrückt« macht? Ich muss daran zurückdenken, mit welcher Angst Konrad die Therapie begonnen, mit welcher Abwehr er sich gegen die Wahrnehmung seiner Gefühle gewehrt hat. Erst jetzt wird ganz offenbar, wie sehr Konrad sich schützen wollte, auch vor einem Teil in ihm, der etwas Zerstörerisches hat.

Die unheimlichste Situation entsteht in der Mitte des zweiten Therapiejahres. Konrad berichtet mir, wie er mit dem Fahrrad durch die Stadt von der Therapie nach Hause fährt. Mitten im Straßenverkehr schließt er die Augen, fährt weiter, ohne zu wissen, warum. Ich weiß nicht, ob Konrad wirklich mit geschlossenen Augen gefahren ist oder ob es sich für ihn nur so angefühlt hat, sozusagen als eine Variante des »Wegdriftens«. Doch mein Gefühl von Bedrohung ist real: Ich habe Angst, dass ihm etwas passiert, dass er in solchen Situationen sein Leben gefährdet. Konrad hingegen erzählt die Episode ganz nüchtern, mit jener merkwürdigen Teilnahmslosigkeit, die ich noch vom Anfang der Therapie kenne. Ich werde nervös, habe auf einmal den Impuls, Konrad am Arm zu packen, als ob er vor meinem inneren Auge einen Abhang hinunterstürzen könnte, wenn ich ihn jetzt nicht festhalte. Dem Impuls gebe ich nicht nach, doch die intensive Fantasie lässt mich — fast ein wenig zu laut — sagen: »Das macht mir Angst, was Sie schildern.«

Konrad blickt überrascht auf und sieht mich an. Für einen Moment habe ich das Gefühl, zu ihm durchzudringen, scheint mir, dass er durch den Schreck in meinen Augen mit einem Mal sein eigenes Erschrecken erkennt, sich ein Durchgang zwischen mir und ihm öffnet. Er schluckt, sagt: »Das tut mir leid, das wollte ich nicht.«

Es ist in jeder Therapie eine heikle Phase, wenn ein Patient in Kontakt mit dem verletzten Selbst kommt, seine Abwehr aufgibt, die Türen zu lang verschlossenen Kammern öffnet. Zugleich kann nur so etwas Neues entstehen. Denn es geht ja gerade darum, die Erfahrung zu machen, dass man die Abwehr nicht mehr braucht, dass es heute anders ist als gestern. Der Kontakt mit der eigenen emotionalen Welt kann heilsam sein — oder überwältigend. Manchmal ist es ein schmaler Grat.

Konrads »Zustände« wecken in mir den Drang, zu beschwichtigen, als wollte ich verhindern, dass er seinen Schutzwall zu schnell fallen lässt. Es steht eine unsagbare Angst im Raum, eine Angst ohne Gegenstand, ohne »wovor«, ein grauenvolles Etwas, das einfach nur da ist. Aber, und das ist wichtig: Nicht nur Konrad, auch ich kann diese Angst fühlen. In einer Stunde sage ich in das angstvoll angespannte Schweigen: »Ich glaube, jetzt sind wir beide gerade dort, vor dem Sarkophag.« Längst herrscht nicht mehr das Gefühl zerdehnter Zeit vor, das mich ehedem in den Stunden so gequält hat, vielmehr greifen nun Anspannung und Bedrohung Raum.

Konrad bekommt in den Stunden öfter eine zittrige Stimme, sagt in verschiedenen Situationen: »Es fühlt sich so unheimlich an. So kalt.«

Tatsächlich friert es Konrad, obwohl es September ist und draußen noch warm, so sehr, dass er nach der Decke greift, die neben dem Sessel liegt.

Einmal träumt Konrad von einem Jungen, der in einem Keller »tief unter der Erde« eingeschlossen ist. Es ist so dunkel, dass er nicht weiß, ob seine Augen blind sind. Er tastet an den Wänden entlang nach dem Ausgang, aber überall ist nur kalter Stein. Er gerät in Panik, schreit nach Hilfe. Er weiß, auf der anderen Seite der Wand ist jemand, aber er kann ihn nicht hören. Konrad merkt im Traum auf einmal, dass er träumt, doch er kann nicht aufwachen. Es ist, als wäre er, wie der Junge, nun selbst in seinem Traum eingemauert. Er sieht sich in seinem Bett liegen, aber es ist finster und nirgends ein Fenster — er schreit, bis er sich damit aus dem Schlaf reißt, erschrocken über seinen eigenen Ruf. Voller Angst macht er das Licht an. Konrad ist erleichtert, als er merkt, dass er sehen kann, und schläft fortan über lange Zeit nur noch mit Licht. Die Panik, mit der er schon zu Beginn der Therapie aus dem Schlaf schreckte — nun hat sie endlich ein Traumgesicht bekommen: Es ist die Angst, eingemauert zu sein, in den leeren Verliesen des Selbst, wo niemand Konrads Schreie hört, wo er hilflos ist und blind.

Trotz allem Grauen deutet sich im Traum auch etwas Neues an: Es gibt die Idee eines anderen, der helfen könnte, wenngleich noch in der unbestimmten Gestalt eines »Jemand« und unerreichbar hinter der Mauer. Noch hat Konrad keinen Therapieraum verinnerlicht, in dem es Türen und Fenster gibt, eine Durchlässigkeit zwischen Innen und Außen, wo eine Verbindung zwischen ihm und einem anderen möglich ist. Aber der Traum ist dennoch nicht resignativ, sondern zeugt von einer verzweifelten Suche, tastet an den geschlossenen Wänden nach dem Ausweg.

Wie in sich verengenden Kreisen greift Konrad in unseren Sitzungen immer wieder die Fäden seiner Biografie auf. Die Begebenheiten sind bekannt, aber jedes Mal, wenn er von seiner Geschichte erzählt, werden seine Schilderungen lebendiger, satter an Details, an die er sich eigentlich schon immer erinnert habe, die ihm aber bislang immer »bedeutungslos« schienen. In seinem Sprechen betritt der kleine Junge unseren Raum. Auch ich kann mitfühlen, werde von seiner Schilderung berührt. Konrad berichtet von einer Welt unter dem Bann der Schwermut, oder vielmehr: unter dem Bann einer psychischen Erkrankung, namentlich der von Konrads Mutter. Im Verlauf unserer Gespräche sagt Konrad, dass es vielleicht »doch nicht so normal« war zu Hause. »Aber als Kind hinterfragt man so etwas ja nicht.«

Doch bevor er über seine Erinnerungen sprechen kann, muss er das Gute beschwören, die Mutter, die nicht nur bedrückt und leblos war. Es habe auch bessere Phasen gegeben. Die Mutter habe sich vor dem Vater »zusammengerissen«. War er zu Hause, habe sie Essen gemacht, sich um Konrad und den Haushalt gekümmert, ihn etwa nicht wie sonst einfach ins Bett geschickt, sondern ihm eine Gutenachtgeschichte vorgelesen. Dann lauschte er, mit geschlossenen Augen an sie gekuschelt, ihrer Stimme und fand in den Schlaf.

Ich spüre förmlich, dass es Konrad schwerfällt, die andere Seite seiner Mutter zu beschreiben. Ich versuche ihm zu vermitteln, dass ich ihn verstehe. Es ist nicht leicht, Worte zu finden für das Dunkle aus der eigenen Geschichte. Viele Patienten haben das Bedürfnis, jeglichen Vorwurf von ihren Eltern fernzuhalten, gerade dann, wenn die gemeinsame Geschichte so viel Unglück kennt, weil es ja oft auch um unglückliche, tief verletzte Eltern geht — aber auch um das Gute, das es fast immer auch gegeben hat. Auch etwas Gutes bekommen zu haben — ohne dieses Gefühl kann kein Kind überleben, auch nicht das Kind der eigenen Erinnerung. Dennoch ist es genauso wichtig, die Dinge so auszusprechen, wie sie waren, oder zumindest, wie, in diesem Fall, Konrad sie wirklich erlebt hat. Denn ich glaube, dass sich nur so etwas von jener vergeblichen Suche verstehen lässt, die Konrad bis zum heutigen Tag nirgends heimisch werden lässt.

Wenn der Vater auf seinen Touren war, sagt Konrad, sei es der Mutter schwerer gefallen, sich »zusammenzureißen«. Tag um Tag sei die Mutter immer mehr in sich zusammengefallen. »Wie ein Ballon, aus dem langsam die Luft entweicht, bis er schlaff und leblos daliegt.«

Konrad schildert verschiedene Szenen und Erinnerungen, von denen ich hier eine besonders bezeichnende auswähle:

Konrad ist damals acht Jahre alt, der Vater gerade »mit dem Lkw auf der Straße«. Die Mutter liegt im Bett, es ist schon Mittag. Konrad kennt diese Zustände von ihr schon, doch an diesem Tag hält er ihren Anblick, das abgedunkelte Zimmer, »diese drückende Stille in der Wohnung« nicht aus. Er überlegt, was er machen kann, damit es seiner Mutter besser geht, und beschließt, ihr eine Suppe zu kochen. Der kleine Junge, der es bereits gewohnt ist, sich selbst sein Essen zuzubereiten, klappert mit den Töpfen und in einer sich steigernden Freude am Kochen summt er selbstvergessen vor sich hin. Auf einmal steht seine Mutter in der Tür. »Konny!«, ruft sie und überrascht dreht Konrad sich um. Er freut sich, als er seine Mutter sieht, glaubt, ihre Lebensgeister geweckt zu haben, und will ihr zeigen, was er für sie »gezaubert« hat. Er setzt zu sprechen an, doch die Mutter unterbricht ihn: »Konny, musst du denn immer so viel Lärm machen!« Als sie merkt, dass Konrad ihr zuliebe gekocht hat, tut es ihr leid. Sie entschuldigt sich, wird aber dadurch nur noch bedrückter. Sie sei »kein böser Mensch« gewesen. »Aber irgendwie war es immer so: Sie konnte nicht. Egal, worum es ging, sie hat es irgendwie nicht geschafft, es war ihr alles zu viel. Ich war ihr zu viel.« Die Mutter legt sich zurück ins Bett und Konrad bringt ihr die Suppe. »Stell sie dahin, Konny! Danke«, sagt die Mutter. Als er einige Stunden später nach ihr sieht, hat sie nichts angerührt. So sei das wochenlang gegangen. Und irgendwann habe sie auf einmal wieder begonnen, sich zu waschen, sich zurechtzumachen, den Haushalt anzugehen. »Irgendwann wusste ich dann: Bald ist der Papa wieder da. Für den konnte meine Mutter aufstehen. Anders als bei mir.«

Ich glaube, auch darin liegt ein tiefes Moment der Kränkung und des Ausgeschlossenseins: Warum gelingt es dem Vater, die Mutter lebendig zu machen, aber nicht ihm? Zugleich habe ich Zweifel, wie viel Lebendigkeit in der Familie letztendlich wirklich möglich war, auch in der Gegenwart des Vaters. Es scheint vor allem um ein »Funktionieren« gegangen zu sein. Konrad schildert die Atmosphäre in seiner Familie freudlos, ohne wirkliche Lust am Leben und Interesse füreinander. Auch der Vater habe nicht nach ihm gefragt, wenn er denn da war. Er saß immer nur müde vor dem Fernseher auf der Couch. In seiner Erinnerung war es schon immer so gewesen. Auf alten Fotos von Konrad als Baby und seiner Mutter sehe man bereits ihren gewohnten Blick: bemüht, aber doch irgendwie, als wäre ihr alles zu viel, als wäre sie immer erschöpft, als wäre das ganze Leben ein Morgen nach einer durchwachten Nacht, an dem man sich aus dem Bett quälen muss. Von ihm und seinem Vater gibt es bezeichnenderweise gar kein Foto aus dieser Zeit.

Konrads Welt scheint mir von einer grenzenlosen Einsamkeit gezeichnet. Es ist, als würde er stets etwas Ödes und Leeres in sich aufnehmen, wie eine Milch ohne Geschmack; etwas, das ihn am Leben hält, aber nicht zufrieden macht. Nur in seltenen Momenten erinnert er sich daran, dass es auch etwas wie Bezogenheit gibt im Leben. Das zeigt sich in einer weiteren Erinnerung aus seiner Kindheit, in der seine Eltern bezeichnenderweise nur am Rande vorkommen:

Konrad ist mit einem Freund draußen, sie spielen Fußball. Der Freund schummelt ständig, hält Konrad am T-Shirt fest oder stellt ihm immer wieder ein Bein. »Auf einmal bin ich total ausgetickt«, erzählt Konrad. »Es war völlig absurd. Ich hab geschrien und auf ihn eingehauen. Mein Freund war total baff, der hat sich nicht einmal gewehrt. Der kannte das gar nicht von mir, ich war doch sonst immer so still und hab mich allem gefügt.« Erschrocken über sich selbst rennt Konrad damals fort, versteckt sich in einer kleinen Nische in einer Mauer. Zusammengekauert und im Glauben, allein zu sein, weint Konrad dort still vor sich hin.

»Wissen Sie, was das eigentlich Merkwürdige an der ganzen Sache war?« Konrad schaut mich kurz an, senkt seinen Blick dann aber wieder: »Mein Freund kam zu mir und hat sich entschuldigt und entschuldigt. Er hat mir sogar seinen Fußball schenken wollen. Ich habe mich geweigert rauszukommen. Aber nicht, weil ich noch böse auf ihn war.«

Ich: »Sie haben sich geschämt, dass Ihr Freund Ihre Verzweiflung gesehen hat.«

Konrad nickt. »Ja. Er hat dann offenbar seine Mutter geholt, denn plötzlich stand die vor der Nische.«

Konrad dachte, er bekommt Ärger. Doch das Gegenteil war der Fall: »Sie hat dann so ganz lieb mit mir geredet. Sie wollte wissen, was los ist, warum ich so traurig bin. Die wirkte so bekümmert. Ich wusste keine Antwort. — Aber wenigstens bin ich rausgekommen.« Die Mutter des Freundes nimmt Konrad auf den Schoß und streichelt ihm über den Kopf. »Irgendwie fühlte sich das gut an. Ich weiß nicht. Aber es war auch so seltsam.«

Als Konrad nach Hause kommt, sitzt seine Mutter ausdruckslos am Tisch, grüßt ihn müde, ohne aus ihrer vergrübelten Abwesenheit aufzutauchen. Der Vater liegt auf dem Sofa vor dem Fernseher.

»Plötzlich hat sich zu Hause so fremd angefühlt. Das hat irgendwie — wehgetan«, sagt Konrad.

»Ein Schmerz«, sage ich.

»Ja, ein Schmerz«, wiederholt Konrad.

»Weil Sie fühlen konnten, was fehlt«, sage ich.

»Ja«, sagt Konrad, und wir beide schweigen.

Ich stelle mir vor, was Konrad empfunden haben muss: Es gibt das Gute, es gibt etwas Liebevolles, jemanden, der ihn in seinem Versteck sucht — aber es ist nicht bei ihm. Nicht zu Hause, sondern bei dem verständnisvollen Freund und seiner tröstenden Mutter, oder in der Ferne auf der Straße, wo der Vater ist, der das Herz der Mutter mitgenommen zu haben scheint. Warum wachen seine Eltern nicht auf, sehen ihn an? Wo sind sie nur immerzu? In der Ferne liegt das, was man eigentlich ersehnt, ein Ort voller Licht, und dazwischen nur die Traurigkeit leerer Räume.

Die Szene ist wie ein Sinnbild unserer therapeutischen Begegnung: Das Gute, das man geben will, findet nicht in seine Hand. Konrads Mutter nimmt die Suppe nicht, die er ihr kocht. Aber auch Konrad kann das, was sein Freund ihm geben will — seinen Fußball — nicht annehmen, weil er sich verbarrikadiert hat.

Jeder Mensch verwandelt seine Beziehungserfahrungen in ein Stück innere Welt, oder psychoanalytisch gesprochen: in innere Objekte. Der interessierte Blick der Eltern, die unser Tun begleiten, ihre zugewandte Stimme, wird im Verlauf der Entwicklung zu einem Selbstgefühl, einer inneren Stimme, die wir in uns tragen, auch dann, wenn die Eltern nicht mehr da sind. Wir blicken auf unser eigenes Tun mit Interesse, sind innerlich beteiligt, können unseren Handlungen Bedeutung verleihen. Was wir tun, fühlt sich sinnvoll an: Als würden, in dieser Metapher gesprochen, innere Eltern mit jener fühlbaren Beteiligung an unserem Leben teilhaben, wie wir sie einmal mit unseren wirklichen Eltern erfahren haben. Aber was, wenn wir diese Erfahrung zu selten gemacht haben? Auch diese Beziehungserfahrung wird zu einem Teil des eigenen Selbst: innere Eltern, die abwesend sind, die sich nicht interessieren — unser Tun gleitet ins Leere, wir können es nicht mit Bedeutung füllen. Aus jenem Mangel an äußerer Resonanz wird schließlich ein Mangel an innerer Resonanz: Was wir auch tun, es fühlt sich nicht sinnvoll an.

Die Seele eines Kindes ist ein Überlebenskünstler. Sie holt sich das, was sie zum Leben braucht, noch aus den widrigsten Umständen. Was sie im Elternhaus nicht findet, sucht sie an anderen Orten, in anderen Menschen: Großeltern, Nachbarn, Freunde, Erzieher, Lehrer, die für ein Kind wichtige Bindungsfiguren werden können. Mir scheint es bezeichnend für Konrad, dass ihm das nie recht gelungen ist. Als wäre in ihm ein tiefes Moment von Resignation, das schon sehr früh im Leben von ihm Besitz ergriffen hat. Als würde er sich zugleich nicht lösen können, innerlich ein Leben lang bei den leblosen Eltern bleiben, sich gegen das Draußen abschotten, wo doch eigentlich andere Erfahrungen möglich wären. Konrads Tragödie besteht darin, dass er selbst da, wo andere an seine Tür klopfen, nicht öffnen kann. Nicht in seiner Jugend, nicht bei Lucy, nicht bei Tanja.

Wie ist es hier mit mir? Ich glaube, dass auch ich für Konrad lange Zeit jene ferne ungreifbare Gestalt gewesen bin. Und trotzdem ist unser therapeutischer Raum kein leeres All. Es sind vielleicht die eher unscheinbaren Begebenheiten, an denen dies sichtbar wird. Konrad greift etwas von dem auf, was ich sage, wir beide bilden zusammen eine Metapher, die mit Bedeutung gefüllt ist. Das alles sind Fußbälle, die Konrad annimmt — und auch zurückspielt —, und damit Schritte hin auf eine neue Erfahrung.

Für mich ist es ein berührender Moment, als sich der fühlende Teil in Konrad — zaghaft, scheu, immer mit einer Hand an der Türklinke — zu zeigen beginnt; und zwar von sich aus, ohne, dass ich ihn locken müsste. Unser drittes Therapiejahr hat bereits begonnen. Konrad berichtet in einer Montagssitzung, dass er das Wochenende wie so oft alleine habe verbringen wollen. Am Samstagabend sei es ihm wieder »komisch« geworden. Anders als sonst habe er sich aber nicht zurückgezogen, sondern einen Freund angerufen. Dieser sei überrascht gewesen, dass Konrad sich meldet, habe sich aber auch gefreut. Am selben Abend haben sich die beiden noch spontan auf ein Bier getroffen und dabei gemeinsam ein Fußballspiel angeschaut.

Ich frage Konrad, ob auch ein Gespräch zwischen ihnen entstanden ist. Konrad: »Ja, das war eigentlich ganz nett. Er hat mich gefragt, was ich so mache. Wir haben ja schon länger nichts mehr voneinander gehört. Und ich hab ihm erzählt … ich weiß nicht, dass es bei mir nicht so rosig ist zur Zeit, dass ich überlege, ob ich den Job noch mal wechseln soll … Und er hat nachgefragt und erzählt, dass er auch einmal so eine Phase im Leben hatte … War ein schöner Abend. Mein Fußballteam hat zwar verloren. Aber danach ging es mir trotzdem besser, ich hab eigentlich ganz gut geschlafen in der Nacht.«

Ich überlege, ob ich etwas sagen, die Verbindung für ihn herstellen soll, die ja gewissermaßen auf der Hand liegt: Es ging ihm besser, weil er sich nicht so alleine gefühlt hat. An diesem Abend gab es in ihm die Vorstellung eines anderen Menschen, den er erreichen und mit dem er sich austauschen kann, der sich für das interessiert, was er erzählt. Dieser spontane Abend ist wie eine Alltags-Chiffre unserer therapeutischen Zusammenkunft, vielleicht erst möglich, weil er etwas in der Therapie erfahren hat, das er nun auch auf seinen Alltag überträgt, auch bei anderen Menschen zulässt.

Konrad sagt dann von selbst: »Hm, ich glaube, es hat mir gutgetan, mich mit jemandem zu treffen … ich glaube, das war so etwas gegen die Einsamkeit

Ich wiederhole dieses Wort: »Einsamkeit.«

Nach einer Weile, gedankenversunken, als würde die volle Schwere dieses Wortes erst durch das Schweigen fühlbar geworden sein, sagt Konrad: »Ja.«

Seine Schilderungen werden in der Folgezeit satter, angereichert mit eigenen Gedanken, als würde er die Welt nun stärker von einem Zentrum her erleben. Konrad beginnt, im vollen Sinne des Wortes »Ich« zu sagen, nicht mehr nur wie eine Fotokamera sein eigenes Leben in einer Außenperspektive zu begleiten. Gleichzeitig sind die Themen, mit denen wir uns in der Stunde beschäftigen, zunehmend in Konrads Lebensrealität verortet: Es ist, als würde unser seltsam zeit- und ortloser Dialog auf der Erde ankommen, wo es um die einfache Frage geht, wie man sein Wochenende verbringt. Ich denke: Ein erster Landungsversuch seines Raumschiffes. Ich habe auch zum ersten Mal das Gefühl, dass er etwas will. Aber noch ist nicht klar, was. Wenn er über Liebesbeziehungen spricht, etwa über die Frage, ob er noch einmal jemanden kennenlernen möchte, scheint er nach wie vor mit Tanja beschäftigt. Ihr Kind, dessen Bild nach wie vor in seinem Wohnzimmer steht, geht nun schon zur Schule. Konrad sieht das Foto jeden Tag. Wenn er, ohne sich von jemandem zu verabschieden, in die Arbeit geht und wenn er, ohne dass ihn jemand begrüßt, am Abend nach Hause kommt.

Umso mehr Konrad sich öffnet, umso fühlbarer wird für mich das Traurige, das ihn umgibt, wahrscheinlich schon so lange Zeit. Konrad schildert mir eine Szene aus seiner Kindheit, wie er am Fenster steht, abends, die Mutter liegt im Bett, der Vater ist unterwegs, Konrad aber blickt auf die befahrene Straße und die Lichter in der Nacht. In einer anderen Erinnerung geht er als Junge alleine in der Gegend spazieren, bis zur Autobahnbrücke am Rand der Siedlung, wo er einen guten Blick auf die Straße hat, auf der die Autos und Lkws vorbeirauschen.

»Ich konnte da stundenlang zuschauen«, sagt Konrad, »zu Hause hat ja eh niemand nach mir gefragt … Ich habe mir vorgestellt, dass ich einmal selbst mit dem Lkw fahre. In meiner Fantasie war das schön. Immer weiterfahren, immer weiter …«

Ich: »Wie Sie das erzählen … macht mich das ganz traurig.« Und nach einem Schweigen: »Ich habe mich gerade gefragt: Stehen Sie eigentlich nicht immer noch da, auch heute noch, an diesem Fenster oder an dieser Brücke und fahren in Gedanken immer weiter und weiter, ohne Ziel und ohne je irgendwo anzukommen?«

Konrad schweigt, sagt dann: »Irgendwie schon.«

Ich: »Aber ich glaube, Sie wollen eigentlich nicht, dass es so bleibt.«

Konrad: »Aber ist es nicht zu spät?«

Ich: »Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass Sie es nur herausfinden können, wenn Sie sich von diesem Ort lösen, an dem Sie schon so lange stehen.«

Was hält Konrad dort fest? Vielleicht nicht nur eine tiefe Resignation. Irgendetwas bindet ihn. Er wartet, wartet — worauf? Vielleicht ist etwas in Konrad bereit, ein ganzes Leben lang zu warten — auf jemanden, von dem er eigentlich weiß, dass er nicht kommen wird — von dem er sich aber nicht lösen kann. Wie Tanja, die längst mit ihrem Wagen an seinem Leben vorübergefahren ist, ein anderes Leben lebt, in einer unerreichbaren Ferne. Aber er steht immer noch am Fenster und sieht ihr nach: ohne Hoffnung, aber doch von den Fäden einer tiefen Bindung gefesselt. Ist die Beziehung zu Tanja nicht ein Sinnbild für das, was Konrad sein Leben lang tut?

Ich glaube, im Kern ringt Konrad mit einer Trauer. Genauer gesagt: mit einer unmöglichen Trauer. Trauer ist aus psychoanalytischer Perspektive nicht nur ein durch einen Verlust entstandener Schmerz, sondern auch so etwas wie eine Form der seelischen Arbeit. Man spricht deshalb auch von Trauerarbeit. Trauern ist der psychische Prozess, eine Bindung zu lösen, etwas auch psychisch loszulassen, das wir in der Realität verloren haben. Deshalb ist es wichtig, dass Trauer gelebt wird — nur so werden wir, am Ende, frei für etwas Neues, bleiben nicht in jener unmöglichen, toten Bindung gefangen. Trauer bedeutet, die Realität anzuerkennen, um wieder in ihr leben zu können. Durch das Trauern erst wird die Vergangenheit wirklich zu einer Vergangenheit. Der Schmerz, den das Lösen innerer Bindungen bereitet, ist letztlich Teil jedes Trauerprozesses; er kann gemeinsam ausgehalten und geteilt werden, etwa in einer guten Freundschaft oder in einer Therapie. Es gibt viele Wege, den Trauerschmerz zeitweilig zu fliehen. Aber wo wir uns wirklich lösen, können wir ihn uns nicht ersparen. Zu jedem Lösungsprozess gehört zudem auch Wut: Eine Bindung lässt sich nur durchtrennen, wenn man entschlossen ist, das Seil zu kappen, sogenannte Trennungsaggression mobilisieren kann.

Doch manchmal gibt es eine Trauer, die zu schwer, einen Schmerz, der zu groß, eine Bindung, die zu mächtig ist. Dann stockt der Trauerprozess oder er kommt zum Erliegen, die Bindung wird nicht aufgehoben, ein Teil des eigenen Selbst bleibt gefangen. Im Unbewussten wird die Person, die man verloren hat, nicht aufgegeben, sondern, wie es in psychoanalytischer Begrifflichkeit heißt, konserviert. Dies kann sich auch äußerlich manifestieren, indem etwa bestimmte Räume nicht verändert werden dürfen, Gegenstände nicht aufgegeben, als könne man damit die Person lebendig halten. Vielleicht, denke ich, ist das Foto von Tanjas Kind Ausdruck einer solchen Bewegung in Konrad: als könne er mit dem Foto das Ende der Beziehung ungeschehen machen, die Fantasie einer gemeinsamen Beziehung aufrechterhalten, die etwas Lebendiges hervorgebracht hätte: als wäre das ihr gemeinsames Kind. Natürlich weiß Konrad, dass die Beziehung gescheitert ist und dass es kein gemeinsames Kind gibt; aber in den Momenten, in denen er auf das Foto blickt, kann er das vielleicht für einen Augenblick vergessen. Hierin liegt der irreale Charakter, der für stockende Trauerprozesse so kennzeichnend ist, eine kleine Verschiebung in der Wahrnehmung der Realität, die Teil des Alltags wird. Psychisch hat Konrad nicht losgelassen, hält er unbewusst an Tanja fest mit einer unmäßigen Beharrlichkeit — aber damit bleibt auch sein emotionales Leben unter ihrem Bann.

Warum kann Konrad nach so vielen Jahren die Bindung zu Tanja immer noch nicht lösen? Ich glaube, es geht gar nicht mehr um die wirkliche Tanja oder um ihr wirkliches Kind, das Konrad gar nicht kennt, sondern um ein inneres Bild, das sich mit dem Namen Tanja überblendet. Die gescheiterte Beziehung ist Platzhalter für einen Trauerschmerz, den er schon ein Leben lang in sich trägt und von dem er sich nie wirklich befreit hat: eine tiefe Verletzung, eine Lebensenttäuschung, die sich in jeder scheiternden Beziehung nur aufs Neue zu wiederholen scheint.

Ich sage: »Sie warten auf Tanja. Aber Sie warten auch auf jene Eltern, nach denen Sie sich so gesehnt haben und die Sie nicht finden. Als wäre ein Teil von Ihnen immer noch dort, in Ihrem Kinderzimmer, und wartet.«

»Aber meine Eltern sind tot«, antwortet Konrad.

»Sind sie das wirklich?«, frage ich.

»Das Unbewusste kennt keine Zeit.« Dieser Satz Sigmund Freuds beschäftigt mich schon meine ganze berufliche Laufbahn als Psychoanalytiker. Es gibt eine Schicht unseres psychischen Erlebens, in der wir Kind bleiben, Jugendlicher, in der alles, was geschehen ist, jetzt noch ist. Es in Vergangenheit zu verwandeln, eine Erinnerung werden zu lassen, das ist eine psychische Leistung, eine der zentralen Aufgaben unseres Ichs. Es muss nicht nur Innen und Außen voneinander scheiden, Traum und Wachen, sondern auch Gestern und Heute. Wir müssen immerzu Trauerarbeit leisten, das Vergangene gehen lassen, in gewisser Hinsicht mit jeder Entscheidung, die wir im Leben treffen. Und diese Arbeit hat Konrad noch vor sich.

Meine Frage hat Konrad sehr beschäftigt, und in der nächsten Stunde kommt er noch einmal darauf zu sprechen: Sind seine Eltern wirklich tot? Wir versuchen Worte dafür zu finden, wie das, was einmal war, fortwirken kann im Hier und Jetzt. Einmal sagt Konrad:

»Sie meinen wahrscheinlich nicht wie in einem Zombiefilm, sondern dass meine Eltern noch in mir drin sind.« Konrad zeigt auf seine Brust: »Also, dass ich nicht aufhören kann, an die zu denken. Dass ich nicht aufhören kann, traurig zu sein.«

»Sie sagen: traurig sein. Ich glaube, das sind Sie wirklich. Sie sind eigentlich unendlich traurig. So traurig, dass Sie nicht wagen, eine Träne zu vergießen — aus Angst, dass dann ein Damm bricht.«

»Ich habe seit Jahrzehnten nicht mehr geweint«, sagt Konrad.

»Hinter dem Fenster hört man das Schluchzen nicht«, sage ich.

»Vielleicht würde es sogar wohltun, etwas befreien. Aber das geht ja nicht auf Knopfdruck«, sagt Konrad.

Tränen fließen tatsächlich nicht, doch etwas regt sich in Konrad. Es ist, als würde der Junge in ihm zunächst zaghaft, schließlich immer wütender gegen das Fenster trommeln. Eine Art grimmiger Trotz bricht sich Bahn, als wollte etwas in Konrad sagen: »Ich mache nicht mehr mit.« Sein Verhalten beunruhigt mich. Es ist, als käme das Leben in ihn zurück, allerdings mit negativem Vorzeichen. Statt wie bisher die Glut des Lebens auszutreten, beginnt er zu zündeln. Ich bin überrascht, als er mir in einer Sitzung mitteilt, dass er sich krankschreiben lässt: Er habe keine Lust mehr auf seine Arbeit. Sein Tonfall ist nicht gewohnt beiläufig, sondern eher provozierend, als wolle er sehen, wie ich auf sein Vorhaben reagiere. Als er meine Beunruhigung bemerkt, nickt er beinahe zufrieden. Einmal krankgeschrieben, kauft er sich Computerspiele und zockt ganze Nächte durch, dazu trinkt er Bier. Zurück auf der Arbeit wird Konrad unzuverlässig, er geht früher nach Hause und wird den Kollegen gegenüber »patzig«.

Zuerst sehe ich in seinem Verhalten einen noch tieferen Rückzug, eine völlige Resignation vor den Realitäten des Lebens. Doch mehr und mehr gibt sich etwas anderes zu erkennen.

Ich sage: »Sie wollen sich jetzt etwas zurückholen von dem, was Sie versäumt haben. Sich Platz schaffen, keiner soll Sie daran hindern.«

Und tatsächlich: In Konrad bricht sich so etwas wie ein lange unterdrückter Lebensdurst Bahn — wenngleich eher in einer verzweifelten Weise, als ob er das Ziel nicht recht fände. Es ist der Frühling unseres dritten Therapiejahres. Sein Geburtstag steht an, er wird 45. Konrad beginnt, auf Partys zu gehen. Er »aktiviert« alte Bekanntschaften, geht unter der Woche in die Kneipe, besucht Clubs, obwohl er die Musik und das Gedränge dort nicht mag. Er ist der Älteste dort, aber das ist ihm egal. Er verpasst sogar mehrere Stunden Analyse, weil er »ausschlafen« muss. Sein ohnehin etwas aus der Zeit gefallenes, jugendliches Auftreten bekommt zusätzlich etwas gewollt Lässiges, fast schon Achtloses: Er lässt sich die Haare wachsen und erscheint in zerbeulten Kapuzenpullis, löchrigen Jeans und durchgelaufenen Turnschuhen, an denen noch Matsch klebt. Er bewirbt sich auf andere Stellen, die von vornherein nicht zu ihm passen oder die ihn gar nicht wirklich interessieren. Er schreibt sich für eine Fortbildung ein, erscheint dann aber nicht zu den Terminen, obwohl er dafür zwei Wochen Analyse abgesagt hat. Mehrere Wochen geht das so; ich habe das Gefühl, dass ich ihm nicht Einhalt gebieten darf und das auch gar nicht könnte.

Konrad meldet sich schließlich bei einem Onlineportal und einer Flirt-App an und trifft Frauen, die »mindestens zehn Jahre jünger sind«. Nach einem Date kommt es zu einem One-Night-Stand, und da es ein verlängertes Wochenende ist, sehen wir uns erst in der Mitte der darauffolgenden Woche wieder. Konrad kommt bedrückt in die Stunde, er hat Augenringe, seine Haare wirken ungewaschen, und er riecht nach Rauch und alter Kleidung. Er kommt mir vor wie ein ausgebüxter Hund, der nach wochenlangem Herumstreunen zerschlagen und hungrig wieder nach Hause zurückkehrt. Konrad erzählt mir von seinem Abenteuer. Er habe die Frau online kennengelernt, und beim ersten Treffen sei »gleich etwas gelaufen«. Eigentlich habe sie ihn gar nicht interessiert — »aber irgendwie wollte ich nicht schon wieder zurückstecken«. Es sei dann schon »befriedigend« gewesen, auch sie hatte Spaß. Aber nach dem Sex und beim Abschied am nächsten Morgen, »da habe ich mich so hundeelend gefühlt. So schlecht wie noch nie.« Konrad schluckt und starrt mich aus müden Augen an. »Ich hab es den ganzen Tag nicht aus dem Bett geschafft. Ich hab zum ersten Mal seit Jahren wieder richtig geheult. Nicht, weil es schlecht war … aber es hat irgendwie trotzdem nicht gepasst. Ich weiß nicht.«

»Vielleicht haben Sie in dem Augenblick gemerkt, dass Sie wirklich 45 sind; dass Sie sich da, wo Sie die letzten Wochen waren, eigentlich gar nicht wohlfühlen.«

»Ja, verdammt!«, ruft Konrad energisch und wird heftig. »Das ist doch komplett lächerlich! Was soll ich mit meinen 45 Jahren auf irgendwelchen Partys rumspringen! Aber ich kann ja auch nicht mein verfluchtes Leben komplett auf den Müll werfen?« Sein Ausbruch überrascht mich, aber nicht nur auf eine unangenehme Weise. Endlich, so scheint es, verschafft Konrad sich Luft, lässt seiner Verzweiflung und seiner Wut freien Lauf.

»Sie können auch mit 45 auf Partys gehen, nachts Computer spielen und sich betrinken. Warum nicht? Aber es ändert nichts daran, dass Sie die Zeit nicht zurückholen können«, sage ich.

Konrad hat Tränen in den Augen, er wirkt zugleich ärgerlich und unendlich traurig. Es ist, als wäre er aus einem tiefen, traumlosen Schlaf erwacht und blickte nüchtern auf sein Leben: Ein schwarzes Loch hat ihn ausgespuckt, das ihn ein Leben lang gefangen gehalten hat, und es behält seine Jugend zurück, seine Berufswünsche, seine Beziehungen, unwiederbringliche Jahre. Die Erschütterung steht Konrad ins Gesicht geschrieben. Lange schweigt er und ich sehe, wie eine Träne, vereinzelt, still, kaum merklich, über seine Wange rinnt und sich in einer Falte zerteilt.

Nach Jahren der Zusammenarbeit glaube ich erfassen zu können, wie schmerzhaft diese Erkenntnis für Konrad ist. Was sein Leben hätte sein sollen, ist schon vergangen, rührt an ihn wie die Melancholie des Lichts, das immer nur von einem unerreichbaren Gestern zu erzählen weiß. Die Tatsache, dass es ja auch noch eine Zukunft gibt, nimmt nichts von der Wahrheit dieser Erkenntnis. Jetzt geht es darum, dass ich mit Konrad in diese Wahrheit blicke, es aushalte, mit ihm zu fühlen, und mich nicht abwende.

Ich sage: »So viele Jahre, die Sie nicht wirklich gelebt haben. Es ist viel Zeit verloren gegangen.«

»Und Tanja!«, schluchzt Konrad.

Er betrinkt sich mehrere Tage hintereinander, lässt sich erneut krankschreiben, verbringt die Nächte schlaflos vor dem Fernseher und am Computer. Auf Partys geht er nicht mehr. Konrad strauchelt — aber er fällt nicht. Er verpasst keine Therapiesitzung mehr, im Gegenteil. Er kommt zu jeder Sitzung einige Minuten zu früh, geht »zur Einstimmung« in der Gegend meiner Praxis spazieren, bleibt nach der Stunde noch eine Weile in der Umgebung, »um loszulassen«. Die Therapie, das Gefühl, nicht alleine zu sein, scheint für ihn nie so wichtig gewesen zu sein.

Während unserer ganzen Zusammenarbeit habe ich immer mit Sorge an den Moment gedacht, in dem Konrad aus der inneren Erstarrung erwacht. Würde er, angesichts der Wüste, die er um sich geschaffen hat, nicht erst recht den Lebensmut verlieren, suizidal werden, »bilanzieren«, wie es in der Fachsprache heißt?

Doch nichts davon geschieht. Der Sarkophag bricht auf, aber es entweicht ihm keine tödliche Strahlung. Trotz aller Wut und allem Schmerz: Konrad hält am Leben fest, wie er an der Therapie festhält. In dem Schmerz, den er nun herausschreit, liegt etwas Befreiendes: endlich etwas Echtes, endlich etwas Wahres, etwas schmerzhaft Lebendiges. Noch nie war so greifbar, dass in Konrad eben auch ein Lebenshunger schlummert, oder psychoanalytisch ausgedrückt: ein Trieb zum Leben. Er wirkt in dieser Phase in gewisser Weise »körperlicher« auf mich, fast ist es, als hätte seine Stimme an Tiefe gewonnen, sein Ausdruck an Farbe.

Es gibt auch einige zarte Blumen, die in der Wüste zu wachsen beginnen. Er trifft seinen Freund jetzt regelmäßig zum Fußballschauen, unternimmt auch unter der Woche gelegentlich etwas mit Bekannten, fängt an, seine Wohnung umzugestalten, fährt dazu in den Baumarkt. Auch sein Kleidungsstil verändert sich nach einer grob-kumpelhaften Bemerkung seines Freundes: »Als wolltest du die 90er zurückbringen. Und so muffelst du auch, mein Freund.« Konrad nimmt eine Dusche, er geht zum Friseur, entsorgt seine abgetragene Garderobe, wenngleich er dem sportlichen Stil treu bleibt, was ihm gut steht.

Nach den Sommerferien kommt er in veränderter Stimmung zurück in die Therapie. Konrad wirkt ruhiger, gefasster, als habe er mehr an Kontur gewonnen. Während der Sommertage sei er »nachdenklich« gewesen. Er wollte nicht verreisen, sondern lieber an der Umgestaltung seiner Wohnung arbeiten. Irgendetwas habe ihn aber nicht losgelassen. Schließlich fährt er doch für einige Tage weg, in seine Heimatstadt, die Kleinstadt in Norddeutschland, wo er aufgewachsen ist. Er mietet sich in eine Pension am Marktplatz ein. Das erste Mal seit dem Tod der Mutter ist Konrad wieder hier, nach über zwanzig Jahren. Er spaziert durch die Gegend, besucht die Orte seiner Kindheit. Der Strom der Zeit ist auch durch diese Straßen gegangen und hat das meiste mitgenommen. Der Parkplatz eines großen Unternehmens hat die Wiese, auf der er einst mit seinem Freund Fußball spielte, in eine Wüste aus Beton verwandelt. Konrad hat Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Doch er findet noch kleine Nischen, in denen sich ein Stück seiner Vergangenheit verfangen hat, kauft in derselben Bäckerei, in der er als Kind samstags Brötchen holen ging, einen Kaffee, läuft seinen alten Schulweg ab. Aber Menschen erkennt er keine wieder. Es ist, als wären die Häuser nur Fassaden und sein Leben nur eine von vielen Szenen in einem wechselnden Bühnenstück. Schließlich besucht Konrad den Friedhof. Er steht am Grab seiner Eltern, für eine lange Weile. Die Erinnerungen an die Beerdigungen seines Vaters und seiner Mutter ziehen vorüber; eine Frage formt sich in ihm. Er horcht, horcht in sich hinein, ob er ein Echo findet, die Stimme der Mutter, das Räuspern des Vaters, wenn er vom Sofa aufsteht, die Zündung, die den Lkw in Gang bringt, die Rollläden im Schlafzimmer, die herunterrattern wie fallende Bretter. Konrad sucht — sucht nach etwas. Doch die Steine schweigen.

Da fällt der Schleier der Vergangenheit von ihm ab. Er, Konrad, ein Mann von 45 Jahren, steht im Hochsommer auf dem Friedhof, und die Sonne brennt ihm auf den Wangen. Ärger steigt in ihm auf, und er ballt die Fäuste. Noch einen Augenblick steht er da, dann wendet er sich ab, schreitet mit einer Wut unter den Füßen zum Friedhofsportal, wie er sie nie in die heimatliche Erde getreten hat. Am nächsten Morgen fährt er ab.

Konrad: »Ich weiß nicht, was das war. Mir ist irgendetwas klar geworden da am Grab. Das hat mich so unendlich wütend gemacht.«

»Weil Sie keine Antwort bekommen haben«, sage ich.

Konrad: »Weil ich nie eine Antwort bekommen habe! Weil ich nie eine bekommen werde! Das war es, glaube ich, was ich in dem Moment begriffen habe. Meine Eltern sind tot nicht anders als lebendig!«

Die kommenden Monate der Therapie bewegen sich in ruhigeren Gewässern. Konrad bleibt nachdenklich, aber nicht in der gewohnt verschlossenen Weise. Er scheint in einem inneren Denkprozess begriffen, der sich nicht nur grüblerisch im Kreis dreht. Konrad beschäftigt sich mit seiner Geschichte, vor allem aber auch mit der Geschichte seiner Eltern. Gemeinsam versuchen wir, die Linien nachzuzeichnen, die sich über die Generationen hinweg mit Konrads Leben verknüpfen. Während dieser Phase besucht Konrad auch zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder regelmäßig seine Halbschwester Yvonne und spricht mit ihr über die Familie.

Das Erzählen der eigenen Geschichte ist in der Psychoanalyse kein Selbstzweck. Zum einen, weil es dabei ja nie nur um die tote, abgelebte Geschichte geht, sondern um eine Vergangenheit, die sich in der Gegenwart wiederholt, das Tor zur Zukunft verstellt. Zum anderen, weil dem Erzählen selbst eine heilsame Kraft innewohnt. Das Erzählen selbst ist therapeutisch, vielleicht ja gar die älteste Form der Psychotherapie, lange, bevor es dieses Wort gab. Zu erzählen bedeutet, sich das Geschehene zu vergegenwärtigen; aber auch, es zu bewältigen, indem man es in Worte verwandelt, ihm einen Rahmen gibt und eine Struktur, etwas, das einen Anfang hat und ein Ende. Erzählen bedeutet aber natürlich auch, das Geschehene anderen mitzuteilen. Denn zu jedem Erzähler gehört auch jemand, der zuhört — und sei es ein Zuhörer der eigenen Fantasie. Konrad hat mir von unserer ersten Begegnung an etwas mitzuteilen versucht, aber auf eine Weise, die für mich nicht verstehbar war mit seinem Schweigen, mit den labyrinthischen Wegen seiner Gedanken, denen ich nur schwer folgen konnte, mit den rätselhaften Botschaften seiner Handlungen. Nun aber spricht er in Worten, die ich begreife. Konrad erzählt, vielleicht, weil er zum ersten Mal wirklich wahrnehmen kann, was es bedeutet, auch gehört zu werden.

Wo beginnt ein Trauma? Oftmals sind die Erlebnisse, die ein Mensch in seiner Kindheit macht, nur ein Glied in einer Kette von Erfahrungen, die über die Generationen hinweg in seiner Familie weitergegeben werden. Warum waren die Eltern so, wie sie waren? Dazu ist es wichtig, etwas über die Großeltern zu wissen, denn sie haben die Eltern erzogen. Zu längeren Therapien gehört es meist, auch über die Familiengeschichte zu sprechen, über Vorkommnisse, die scheinbar nur am Rande mit den heutigen Problemen zu tun haben. Denn oft lässt sich die Gestalt eines Traumas erst erkennen, wenn man es in die Geschichte der Familie nachverfolgt.

Konrads Vater Hermann ist im Jahr 1935 geboren und während des Krieges aufgewachsen. Er wird in eine proletarische Großfamilie in einer ländlichen Region geboren, die am Rande der Armut lebt. Der Vater hat kaum über seine Geschichte gesprochen, aber aus den wenigen Mitteilungen entsteht das Bild einer freudlosen und bedrückten Kindheit, auf die der Schatten des Krieges fällt. Die Großmutter hatte Mühe, für das Überleben der Familie zu sorgen. Für die Belange der Kinder war kaum Raum, vor allem nicht, nachdem der Vater, Konrads Großvater, in den Krieg eingezogen wurde. Er kam für einige wenige Heimatbesuche noch mal nach Hause, doch ab dem Russlandfeldzug, Hermann ist da sieben Jahre alt, nicht mehr. Die Familie hört nichts mehr von ihm, er gilt als verschollen, vermutlich tot. Erst nach dem Krieg erfährt die Familie, dass er in russische Kriegsgefangenschaft geraten ist. Hermann sieht seinen Vater erst wieder, als er schon in die Pubertät kommt. Ein Mann steht plötzlich vor der Tür, den er nicht kennt und den er Vater nennen soll. Er ist ein gebrochener Mann, der sich von Krieg und Gefangenschaft nicht mehr erholt und keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn und zur Familie findet, sich schweigsam zurückzieht. Er versinkt im Alkohol und stirbt wenige Jahre später, Ende der 1950er, als Hermann ein junger Mann ist.

Ich weise Konrad auf die Gemeinsamkeiten hin, die in seiner und der Geschichte des Vaters liegen, der Schatten der Freudlosigkeit, die Vaterentbehrung und die fehlende Wärme, bis hin zu der Parallele des frühen Vaterverlusts. Konrads Vater musste schon als Kind hart arbeiten und für den Erhalt der Familie sorgen. Unbeschwertheit kennt er kaum, vielleicht auch nur wenig, was es bedeutet, geliebt zu werden. Schon früh fährt der Vater Lkw, hangelt sich von Job zu Job, lebt als Nomade, ohne festes Zuhause. In dieser Zeit kommt Konrads Halbschwester Yvonne zur Welt, »das Resultat einer Gelegenheitsbekanntschaft« — Konrads Vater ist da noch keine 20 Jahre alt. Hermann kommt für den Unterhalt auf, sieht seine Tochter regelmäßig, wenngleich nur in langen Abständen. Er lebt ein Leben »auf der Straße«, will sich nicht binden. Erst ein paar Jahre später lernt er Konrads Mutter kennen, hofft, vielleicht mit ihr etwas zu finden, das ihm bislang gefehlt hat, heiratet sie. Die Ehe zwischen den beiden »funktioniert«, seine Eltern hätten »irgendwie zusammengepasst«, wenngleich es keine Beziehung ist, in der so etwas wie wirkliche Lebensfreude entsteht. Zwischen den Eltern bleibt immerzu etwas Distanziertes.

Wie wird ein Trauma über die Generationen weitergegeben? Nicht durch magische Fernwirkung, sondern durch psychische Verinnerlichungsprozesse: Konrads Vater kennt nicht aus eigener Erfahrung, was es heißt, von einem Vater geliebt zu werden, einem Vater nahe zu sein — und kann diese Erfahrung deshalb auch nicht an seinen eigenen Sohn weitergeben. Hermann wird seinem Sohn Konrad, der Anfang der 1970er-Jahre auf die Welt kommt, selbst der ungreifbare Vater, der in der Ferne verschollen geht, während eine müde Hülle nach Hause zurückkehrt, wie der eigene Vater aus der Kriegsgefangenschaft.

Die Geschichte von Konrads Mutter weist gewisse Parallelen zu der des Vaters auf. Auch sie entstammt einer Familie, in der es wenig Liebe gibt und über der ein Schatten liegt. Helga wächst Anfang der 1940er-Jahre auf einem kleinen Hof in Mecklenburg auf, der den Eltern gehört. Der Vater erlangt in Kriegszeiten unter unklaren Umständen eine günstige Stellung in der Etappe und kehrt ohne Frontversehrung auf den Hof zurück. Immer wieder deutet sich in Konrads Erzählungen an, dass Helgas Vater Funktionär in der NSDAP war und von dorther einige Begünstigungen erfuhr. Es arbeiteten wohl auch Zwangsarbeiter auf dem Hof, auch wenn sich dies nie ganz aufklärte, nach dem Krieg zumindest keine Spuren mehr auffindbar waren. Die Eltern, insbesondere der Vater, erziehen mit Strenge und Härte. Helgas Mutter und die Kinder werden fast täglich geschlagen, damit sie lernen zu »gehorchen«. Helga lernt früh, sich nicht allzu sehr an das zu binden, was sie liebt, und allen Worten zu misstrauen. Als sie sechs Jahre alt ist, sieht sie, wie der Vater die kleinen Kätzchen, die ihre geliebte Miezi jedes Jahr wirft und mit denen sie so gerne spielt, in einen Sack packt, den er oben verschnürt. Da begreift sie, dass er das Bündel in den nahe gelegenen Fluss werfen wird, dass er dies mit jedem Wurf der Katze tut und all seine Geschichten über ihr plötzliches Verschwinden nicht wahr sind. Sie traut sich nicht, zu protestieren, zu sehr fürchtet sie den Gürtel des Vaters.

Der Hof ist wie eine Diktatur im Kleinen, die Eltern autoritär. Für eine Kindheit ist wenig Raum. Die Eltern versuchen vielmehr, ihrem »Nachwuchs« das Kindliche schnell auszutreiben, aus ihnen etwas »Brauchbares« zu machen. Helga ist schon früh eine Arbeitskraft auf dem Hof. Nach dem Krieg lebt die Familie plötzlich in unsicheren Verhältnissen. Als die Bodenreform in der neu gegründeten DDR angekündigt wird, im Zuge derer nationalsozialistischen Funktionären die Enteignung droht, plant die Familie zu fliehen, bleibt dann aber vor Ort, als nichts dergleichen geschieht. Der Hof der Eltern ist zu klein, »da hat der Russe kein Interesse dran«, heißt es fortan in der Familie. Um etwas dazuzuverdienen, arbeitet Helga schon als Jugendliche im nahe gelegenen Städtchen als Verkäuferin. Dort lernt sie 1961 Konrads Vater kennen, der sich gerade auf einer seiner Touren befindet. Wie die beiden Eltern zueinandergefunden haben, bleibt für Konrad ein Rätsel. »Vielleicht haben sie beide gemerkt, dass sie irgendwie nicht glücklich sind, dass sie zueinanderpassen. Aber zweimal Unglück ergibt leider auch kein Glück.«

Konrads Mutter entscheidet sich in einer Nacht- und Nebelaktion den elterlichen Hof zu verlassen und zu dem Mann nach Westdeutschland zu ziehen, den sie erst wenige Tage kennt. Wahrscheinlich erschien dies ihr die einzige Möglichkeit, ihrer Familie zu entkommen. Die Eltern verzeihen es ihr nie, die ganze Familie bricht mit Helga, bis auf eine Schwester, die heimlich Kontakt hält. Wie ein Sinnbild wird noch im Jahr ihrer Flucht die Mauer errichtet, die fortan West und Ost trennt, so wie auch die Mutter von ihrer Herkunft. Diese Mauer ist ihr wohl Schutz und Schmerz zugleich. Es scheint für Konrads Eltern einige »gute Jahre« gegeben zu haben, aber schon bald geht es der Mutter schlecht. Warum sie erst spät mit Konrad, ihrem einzigen Kind, schwanger wird, bleibt unklar. Ihre Eltern sieht Helga nie wieder, zur Wendezeit ist sie bereits in einem desolaten Zustand und schwer krank. Als sie Mitte der 1990er-Jahre stirbt, erscheint überraschend ihr Vater zur Beerdigung. Konrad erinnert sich an einen alten hageren, aber strammstehenden und zäh wirkenden Mann, der ihm am Grab wortlos und mit festem Griff die Hand schüttelt, ohne sich zu erkennen zu geben. Erst später erfährt Konrad, dass dieser Mann, den er nur dieses eine Mal treffen wird, sein Großvater war.

Auch die Mutter trägt ein Trauma in die Beziehung mit Konrad, ein Kind grausamer und harter Eltern, die sie an den verhassten Hof ketten wollen und vermutlich in die Verbrechen der Nazidiktatur verstrickt sind.

Ich sage zu Konrad: »Ich glaube, Ihre Mutter hat diesen Hof ein Leben lang in sich getragen. Ein Ort, von dem sie nicht losgekommen ist, der bis zum Ende Macht über sie hatte. Sie hat versucht zu fliehen, aber selbst der mutigste Sprung hat sie nicht in die Freiheit geführt.«

Vieles in Konrads Familiengeschichte bleibt dunkel, bruchstückhaft und auch mehrdeutig. In einer Psychoanalyse können wir ohnehin niemals die historische Wahrheit finden, sondern müssen immer von erzählter und erinnerter Geschichte ausgehen. Konrads innere Welt, wie das psychische Leben jedes Menschen, gründet in Geschichte. Ich denke: Auch Konrad ist an einen solchen Hof gebunden, auf dem die Mutter aufgewachsen ist. Vielleicht ist das der historische Ort, jene Mauern, die in unseren Gesprächen in Gestalt von Metaphern wieder aufgetaucht sind: der Sarkophag, der Keller. Für Konrad heißt dieser Hof, von dem er nicht loskommt: Mutter. Vielleicht hat er diese Mutter ein Leben lang in sich getragen, in einer verborgenen Kammer des Selbst.

»Es ist besser für meine Kinder, nicht auf die Welt zu kommen.« — Dieser Ausspruch Konrads fällt mir ein, als er über die Familiengeschichte seiner Eltern spricht. Ich glaube, mit »den Kindern« hat er letztlich auch sich gemeint. Aber er will all das auch nicht weitergeben, was er selbst erfahren hat, und weiß sich nicht anders zu helfen, als die Kette der Generationen selbst zu unterbrechen, keine neuen Schlingen zu knüpfen, die wieder ein Kind an das alte Trauma binden.

Die Geschichte der Familie nun zu erzählen, bedeutet für Konrad gleichsam, ein Stück seiner selbst begreifen zu können. Es gibt ihm eine Möglichkeit, seine Eltern zu verstehen, mit ihnen in einen inneren Dialog zu treten, wie er in der Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Warum seid ihr so gewesen? Lag es an mir? Verstehen bedeutet nicht verzeihen. Aber es heißt doch, dass es eine Antwort gibt auf eine Frage, die Konrad ein Leben lang mit sich herumgetragen hat. Jetzt erst, im Sprechen über seine Geschichte, setzt das Rauschen der Zeit ein, bewegt sich etwas in Konrads innerer Welt, trägt er etwas zu Grabe, das Vergangenheit werden kann.

Doch es bleibt eine Frage offen, auf die wir noch keine Antwort gefunden haben. Und ich glaube, es ist die Frage, die Konrad überhaupt erst zu einer Therapie geführt hat, die, ungesagt, unsere ganzen Jahre der Zusammenarbeit begleitet: Ist noch einmal etwas Anderes möglich?

Wie tritt man aus dem Schatten der eigenen Geschichte? Drei Jahre Therapie liegen hinter uns, in der Konrad und ich mit dieser Frage gerungen haben. Das vergangene Jahr hat uns einen Schlüssel in die Hand gegeben, Konrads Geschichte zu verstehen. Doch wie sich von den Fäden der Vergangenheit befreien, wie einen Weg finden in ein Leben, das ihn zufrieden macht?

Es hat Jahre gedauert, Konrads Neugierde zu wecken: ein Interesse an sich selbst, den Wunsch, sich selbst zu verstehen, aber auch den Wunsch, etwas Neues zu entdecken, sich auf eine neue Erfahrung überhaupt einzulassen. Dem Psychoanalytiker Wilfred Bion zufolge ist diese Neugier, der »Wisstrieb«, die Quelle aller psychischen Veränderung: der Wunsch, wissen zu wollen, dem immer auch eine andere Kraft entgegensteht: der Wunsch, nicht wissen zu wollen. Ich glaube, dass es diese Neugierde in Konrad immer gegeben hat, wenngleich sie unter meterdicken Schichten begraben lag, jener Litanei des »Ich weiß nicht«, das vom Geist der Resignation, nicht der Neugier gespeist war. Aber etwas hat ihn die Zumutungen einer jahrelangen Suche nach sich selbst auf sich nehmen lassen, hat ihn fragen und suchen lassen nach Antworten.

Doch was hält Konrad noch davon ab, den entscheidenden Schritt zu tun, sein Leben wirklich in die Hand zu nehmen, jenseits der Therapie? Ich glaube, es geht um Gefühle der Schuld. Konrad fühlt sich vielen Menschen gegenüber schuldig, die er enttäuscht, die er verletzt hat. Auch, wenn ihm ja eigentlich erst durch die Therapie ein Bewusstsein davon und damit ein Entscheidungsspielraum zugewachsen ist, er sich erst jetzt aus dem stummen Zwang der Wiederholung zu lösen fähig wird. Doch der letzte Schritt dieser Bewusstwerdung, jener Verwandlung von unbewusst in bewusst, ist vielleicht einer, den er nicht in Gedanken gehen kann, sondern nur, indem er Verantwortung für sein Leben übernimmt.

In diesem Zusammenhang kommt Konrad wieder auf die Beziehung zu Tanja zu sprechen, jene Beziehung, die unsere ganze therapeutische Arbeit schattenhaft begleitet hat.

Ich sage: »Ich habe das Gefühl, Sie möchten eigentlich einen Neuanfang machen. Aber etwas hält sie am Alten fest.«

Konrad: »Vielleicht, weil ich Tanja nicht vergessen kann.«

Konrad erzählt ihre gemeinsame Geschichte. Er hat dies auch schon zu Beginn der Therapie getan, aber damals in so verklausulierten Andeutungen, dass für mich daraus nicht wirklich etwas zu entnehmen war.

Als Tanja in Konrads Leben tritt, ist er in seinen Dreißigern. Konrad steckt zu dieser Zeit in einer tiefen Krise. Jahrelang war er umhergereist, von Stadt zu Stadt gezogen, hatte Stelle um Stelle gewechselt, rastlos bis zur Erschöpfung. »Immer weiterfahren, immer weiter …«, auf der Suche nach etwas, das er nicht sagen konnte. Je mehr Konrad versucht, es zu finden, sich zu finden, desto mehr verliert er sich. Allmählich erlahmen seine Kräfte, ein Zusammenbruch droht, Konrad weiß nicht mehr, wer, wann, wohin, Zeit und Raum verlieren ihren Sinn. Über Tage sitzt er an einem Fleck, kann sich kaum bewegen, nicht schlafen, nicht essen. »Irgendwie habe ich dann gemerkt, das ist so ein Tunnel, da geht es immer nur noch tiefer. Ich muss etwas anders machen.« Er weiß nur nicht, was. Wieder weiterziehen? Noch einmal? Er hat viele Orte gesehen in seinem Leben und ist doch nirgendwo angekommen. Es ist die Mitte seines Lebens, ohne dass jenes unbegreifliche Etwas in ihm zur Ruhe gekommen wäre. Er überlegt sich »niederzulassen«, vielleicht ist es das, was er braucht — schließlich ist es doch auch das, was alle in seinem Umfeld machen, warum nicht auch er? Also zieht er zurück in die Stadt, in der er vor seinen rastlosen Jahren gelebt hatte, und nimmt die Arbeitsstelle im Planetarium an, die etwas »Bleibendes« sein soll. Und tatsächlich: Nach ein paar Monaten geht es Konrad wieder besser, lösen sich die Kreise ziellosen Grübelns, ebenso wie das beklemmende Gefühl im Hals, das ihm seit einiger Zeit das Schlucken erschwert. Nach und nach findet Konrad wieder festen Boden unter den Füßen. Er »gönnt sich« einen großen Fernseher und eine Playstation, trifft sich wieder mit alten Freunden, geht ab und an aus.

Bei einem Theaterbesuch lernt er schließlich Tanja kennen. Theater ist »eigentlich nicht ganz mein Ding«, sagt Konrad, aber das Stück — Dürrenmatts Physiker — habe ihn dann doch »gefesselt«. »Danach sind meine Freunde mit mir hinter die Bühne, sie meinten, sie müssten mir unbedingt jemanden vorstellen. Ich dachte erst, es geht um etwas mit der Bühnentechnik. Aber dann hab ich gemerkt, die wollen mich verkuppeln.« Konrad zuckt schmunzelnd mit den Achseln: »Hat geklappt.« Tanja war die Kostümbildnerin des Theaterstücks. »Sie hat so viel Leidenschaft da reingesteckt, das hab ich irgendwie bewundert.« Sie verstehen sich gut, werden ein Paar. »Ich wollte unbedingt, dass es dieses Mal klappt, dass mir etwas gelingt im Leben. Und als sie mich ein paar Monate später fragte, ob sie bei mir einziehen kann, da hab ich sofort zugestimmt. Ich wollte nicht, dass es so endet wie mit Lucy. Tanja ist ein besonderer Mensch. Das hab ich gleich gemerkt: So jemanden trifft man nicht zweimal im Leben. Aber wie ich dann mit dieser Chance umgegangen bin …«

Eigentlich ist in Konrad der Wunsch, seinem Leben eine andere Wendung zu geben, etwas Gutes in sein Leben zu lassen, so wie das rastlose Reisen bereits ein Versuch war, gewissermaßen durch den Fahrtwind ein Gefühl von Lebendigkeit zu gewinnen, den Geistern der Vergangenheit zu entkommen. »Wenn ich Ihnen das jetzt erzähle«, sagt Konrad, »merke ich gerade, dass ich irgendwie auch das Leben meines Vaters gelebt habe. Erst durch die Welt fahren, um mich dann doch plötzlich an jemanden zu binden. Aber ich war gar nicht wirklich in der Lage dazu. An Tanja lag es nicht …«

An Tanja fesselt ihn, dass sie so viel Liebe für das hat, was sie tut. »Das kannte ich nicht, aber gerade das fand ich so reizvoll an ihr. Ich hab wohl gehofft, dass der Funken auf mich überspringt. Und ich hab das ja auch versucht. Aber in mir drin sah es anders aus.«

Vielleicht, denke ich, war die Beziehung zu Tanja ein Versuch, etwas in sich heil zu machen — durch Liebe. Und es gab ja tatsächlich Liebe zwischen den beiden. Aber eine Liebe, die in das Schwerefeld des traumatischen Wiederholungszwangs gerät, gerade, weil es Konrad nicht gelingt, sich dieser Dynamik bewusst zu werden und über sich und das, was er tut, nachzudenken. Jede Heilung beruht auf Liebe, aber in gleichen Teilen auch: auf einem Bewusstwerden.

Zu Beginn der Beziehung unternehmen die beiden noch öfter Reisen und Ausflüge. Doch kaum ist Tanja bei Konrad eingezogen, wird er wortkarg, bedrückt, zieht sich zurück. Gemeinsamen Stunden und Unternehmungen weicht er aus, er bleibt länger in der Arbeit als nötig, bekommt psychosomatische Symptome, wenn sich Tanja ihm körperlich nähert. Die beiden schlafen nur noch selten miteinander, sprechen nur noch über Belanglosigkeiten. Konrad trägt einen stummen Kummer in sich, der sich über ihre Beziehung legt wie eine Kruste aus Eis. Während sein übliches Leben funktioniert — Arbeit, Haushalt, Treffen mit Freunden —, erlahmt ihre Partnerschaft bis zu einem Zustand, den man Beziehungsdepression nennen könnte. Tanja spürt das, sie sucht immer wieder das Gespräch mit Konrad, doch der bleibt stumm. Aus ihren zugewandten Fragen werden schließlich Vorwürfe, Bitterkeit, Groll.

Manchmal bemüht Konrad sich, seinen inneren Rückzug aufzuheben, sein Leben und Fühlen mit Tanja zu teilen. Doch es gelingt ihm nicht. Sich von Tanjas Liebe wirklich berühren zu lassen, würde bedeuten, ihr Feuer an seinen Eispanzer heranzulassen und damit zu riskieren, dass all jener Schmerz auftaut, um dessen willen er diesen Panzer geschaffen hat. Jeder Annäherungsversuch mündet in einem noch tieferen Rückzug. Konrad ist in jenem tragischen Dilemma gefangen, in dem er das, wonach er sich am meisten sehnt, am meisten fürchtet. Die Beziehung mit Tanja ist eine Situation, in der ihm das Leben eine Tür zu öffnen scheint. Hier ist eine Zukunft, hier das Neue. Konrad muss nur über die Schwelle treten. Aber mit einer unbegreiflichen Macht wird er festgehalten, klammert er sich selbst an jenen Zustand, der ihn so leiden lässt. Warum? Um nach Tanja zu greifen, das Neue zu betreten, müsste er das Alte hinter sich lassen. Doch dazu müsste Konrad trauern können. Es hat Jahre der Therapie gebraucht, bis Konrad an diesen Punkt gekommen ist — auf dem Friedhof, in seiner Heimatstadt, wo er den Eltern den Rücken zukehrt. Als Tanja aber in sein Leben tritt, kann er nicht trauern, weiß noch nicht einmal, dass es Trauer ist, die ihn so sehr lähmt. Es kann kein Morgen in ihm entstehen, mit Tanja so wenig wie auf all seinen Reisen. Das Heute wird im Gestern ertränkt, seine Geschichte wiederholt sich. Denn er selbst verwandelt die Beziehung in ebenjenes Haus der Leblosigkeit, aus dem er zu entfliehen sucht. Aus Angst vor dem Feuer tritt er die Glut der Beziehung aus. Doch Tanjas Appelle und die Warnzeichen einer scheiternden Beziehung wecken in ihm auch nicht jenen Wunsch, zu wissen; ein Wunsch, der nicht mehr ruhen würde, sich nicht mehr mit Ausflüchten und Beschwichtigungen zufriedengäbe. Auch Tanja bringt Konrad nicht dazu, dass er sich wirklich Fragen stellt, auf jene Suche nach Antworten macht. Stattdessen überlässt er sich dem Geschehen, das auf das Unvermeidliche zusteuert.

Einmal entfacht sich ein Streit zwischen den beiden, nachdem Tanja von einer längeren Reise zurückkehrt. Konrad sollte sich um ihre Pflanzen kümmern, er selbst habe »keinen grünen Daumen, alle Pflanzen, die ich je hatte, sind im Müll gelandet«. Tanja instruiert ihn, legt viel Wert darauf, dass es ihren Pflanzen, in die sie viele Liebe und Mühe steckt, während ihrer Abwesenheit gut geht. Als sie zurückkommt, ist ihre Lieblingspflanze verdorrt — Konrad hat sie vergessen, auch hier eine Wüste entstehen lassen. Tanja beginnt zu weinen, was Konrad überfordert. In ihm entsteht nicht etwa der Wunsch, sich zu entschuldigen, sie in den Arm zu nehmen. Vielmehr setzt sein Fluchtinstinkt ein, will er bloß noch weg. Tanja, die das spürt, wird schließlich wütend. Konrad versteht die Welt nicht mehr: Warum regt Tanja sich so sehr über eine Pflanze auf? Schließlich bricht es aus ihr heraus: »Die Pflanze, das ist unsere Beziehung!« Konrad fährt es bei diesen Worten durch Mark und Bein, er spürt, dass Tanja etwas Wahres ausspricht. »Du bist nie wirklich da!«, sagt Tanja.

Tanja spricht diesen Satz aus, den Konrad, als ein sphinxisches Rätsel über sich selbst, noch jahrelang mit sich tragen wird. Ein Satz, dessen Bedeutung er weiß und zugleich nicht weiß, den er verstehen will und zugleich nicht verstehen will.

Jetzt, ein Jahrzehnt später, sagt Konrad: »Ich glaube, Tanja hat recht gehabt. Tanja hat etwas gesehen, das ich nicht sehen wollte. Diesen Vorwurf hat sie mir eigentlich gemacht, weil ihr die Beziehung wichtig war, weil ich ihr wichtig war. Aber ich hatte nur das Gefühl: Sie bedrängt mich, will immer etwas. Ich habe nicht verstanden, worum es eigentlich geht.«

Ein Teufelskreis entspinnt sich: Je mehr Aufmerksamkeit Tanja fordert, Konrad bedrängt, desto mehr zieht er sich zurück. Was von ihrer Seite als ein werbender oder wütender Verstehensversuch gemeint ist, erlebt er als ein Verfolgen. Tanja wird immer unglücklicher, verzweifelter. Konrad auf der anderen Seite wünscht sich nichts sehnlicher als Ruhe und allein zu sein. Obwohl er Tanja liebt. Er fühlt sich schuldig, gibt Tanja vermeintlich, was sie will, räumt ihr äußerlich mehr gemeinsame Zeit ein, unternimmt regelmäßig etwas mit ihr, legt die Playstation beiseite, wenn sie abends nach Hause kommt und von ihrem Tag erzählt. In Wahrheit fühlt er sich innerlich bis zum Zerreißen angespannt. Manchmal gibt er vor, abends mit Freunden etwas zu unternehmen.

»Um einfach mal wegzukommen. In die Stadt konnte ich nicht, ich hätte ja jemandem begegnen können. Oft bin ich dann bis in die frühen Morgenstunden durch den Wald gelaufen, selbst im Winter.«

»Da waren Sie wieder auf ihrer einsamen Reise durch das All«, sage ich.

»Ja. Es hat sich nicht wirklich erholsam angefühlt, eher rastlos. Dazu kam, dass ich ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte. Es war alles unendlich anstrengend.«

»Und in Ihnen hat sich Schuldgefühl auf Schuldgefühl gehäuft«, sage ich. »Dass Sie Tanja nicht das geben, was Sie eigentlich verdient hätte. Dass Sie Tanja sogar täuschen — ihr etwas vorspielen, was Sie nicht fühlen können. Ich stelle mir vor: Das hat es noch schwerer gemacht, ihr in die Augen zu schauen, Nähe zuzulassen.«

Eine lange Zeit bemüht Tanja sich, zu Konrad vorzudringen. Sie will verstehen, was in ihm vorgeht, steht wie damals die Mutter des Freundes vor Konrads Nische. So wie ich für lange Zeit in unserer Therapie.

»Ich meinte immer zu ihr: ›Ich denk mal drüber nach. Wir reden morgen weiter.‹ Immer morgen, immer weiter. Ich hatte wirklich das Gefühl, ich brauche nur mal einen Tag Abstand, dann packe ich es an. Aber so richtig geglaubt habe ich auch nicht daran.«

Irgendwann habe Tanja sich dann verändert. »Wie eine Furie« sei sie geworden. Sie sei schnell »ausgeflippt«, der kleinste Anlass habe gereicht, dass sie herumschrie, mit den Füßen stampfte, die Türen knallte. Einmal habe Tanja ihn im Eifer des Gefechts geschubst, ein anderes Mal ihr Handy nach ihm geschmissen.

Die Trennung habe ständig im Raum gestanden. Irgendwann aber sei mehr und mehr Ruhe eingekehrt.

»Ich weiß gar nicht, wie es dazu kam. Plötzlich war es still.« Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden schon mehrere Jahre zusammen. Eigentlich war nur das erste Jahr gut, trotzdem hat die beiden etwas aneinandergebunden.

Ich: »Es war Ihnen beiden auf Ihre Weise ernst. Tanja hat versucht, Einlass bei Ihnen zu finden, am Schluss mit Wutgeschrei und Trommeln an der Tür. Aber auch Sie wollten Tanja eigentlich nicht verlieren, haben an etwas festgehalten, was irgendwie immer morgen sein sollte, einen Schritt entfernt, den Sie noch gehen müssen. Bis Sie vielleicht resigniert haben, Tanja und Sie.«

Konrad nickt betroffen. Doch damals ist er zunächst vor allem erleichtert, dass es ruhiger wird. Bis ihm Tanja einige Monate später mit verweintem Gesicht die Tür öffnet:

»Ich dachte: Jetzt trennt sie sich.« Doch — Tanja ist schwanger. Es stellt sich heraus, dass sie sich eigentlich über die Schwangerschaft freut, aber Angst hat vor Konrads Reaktion, fürchtet, dass er das Kind nicht haben will.

Obwohl Konrad es zunächst kaum wirklich fassen kann, fühlt er bald doch einen Funken Freude in sich. Ihm kommt es vor, als kündige sich etwas Neues an, unverhofft: In ihrer Beziehung kann wirklich etwas Lebendiges entstehen, er selbst kann im wörtlichen Sinn Leben schenken, jemand kommt in die Welt, den er vielleicht endlich aus vollem Herzen lieben kann — und der ihn aus vollem Herzen liebt. In Konrad glimmt neuer Lebensmut, auch die Beziehung zwischen ihm und Tanja wird besser, »unbeschwerter«, wie er sagt.

Konrad schweigt, dann sagt er: »Es vergingen ein paar Wochen, bis Tanja mich eines Nachts wach gerüttelt hat. Mit so riesigen, runden Augen hat sie mich angestarrt. Das ganze Bett war voller Blut.«

»Das muss ein Schock gewesen sein. Wieder kommt etwas nicht ins Leben, das doch eigentlich leben will, wieder stirbt eine Hoffnung, ein Kind — diesmal wirklich Ihr Kind«, sage ich.

Aber Konrad wiegelt ab: »So habe ich das nicht empfunden. Vielleicht ganz kurz, Sie wissen schon, dieser unheimliche Blick von Tanja, das viele Blut. Aber fast im nächsten Moment schon hatte ich eher das Gefühl, es ist doch eigentlich alles wie immer.«

Und nach einer kurzen Pause fügt er wie entschuldigend hinzu: »Die Schwangerschaft war ja noch nicht so weit fortgeschritten.«

Tatsächlich lebt Konrad danach weiter, als wäre nichts passiert, als würde ihn das alles nur wenig angehen. Tanja hingegen ist traurig, möchte ihre Trauer auch mit Konrad teilen. Doch sie trifft auf Konrads Mauer. Nicht, weil Konrad gleichgültig wäre. Er bemüht sich, Tanja zuzuhören, ihr Leid zu verstehen. Doch es gelingt ihm nicht.

»Es war, als wolle sie mich weinen sehen, das fand ich unangenehm. Was ich wirklich dachte, war: Was man nicht kennt, das kann man nicht vermissen. Warum da so einen Stress machen.«

Ich: »Sie haben ganz schnell die Glut in sich wieder ausgetreten, bevor sich ein Feuer entfacht, das Sie verbrennen könnte.«

Schließlich erlischt ihre Beziehung ganz. Konrad ist es, der sie beendet, und Tanja protestiert nicht.

Konrad: »Ich habe lange nicht begriffen, was das für ein Fehler war. Jetzt darüber zu sprechen: Das tut richtig weh. Ich war so ein Trottel!«

Als Tanja ausgezogen ist, denkt Konrad, er sei vielleicht frei für etwas anderes, es könne etwas Neues beginnen. Doch je länger er alleine in der Wohnung ist, desto mehr Raum nimmt in seinen Gedanken die vergangene Beziehung ein. Er unternimmt keinen Versuch, Tanja zurückzugewinnen, hängt aber zugleich innerlich geradezu suchtartig an ihr. Mehr als zu Zeiten der lebendigen Beziehung, als könne er nur lieben, wenn sich die Konstellation der Unmöglichkeit einstellt, als wäre Tanja erst jetzt ganz zur unerreichbaren Mutter geworden, dem fernen Vater, dem Glück, das immer anderswo ist. Bis zum heutigen Tag geht er keine neue Beziehung ein. Es ist, als würde Konrad sich nicht vom Sterbebett dieser vergangenen Beziehung lösen können, ein Leben lang eine trostlose Leichenwache halten. So nimmt er Tanja in seine innere Welt auf, beinahe möchte ich sagen, in seine innere Krypta, in den Kreis der toten Beziehungen seines Lebens, die er nicht sterben lässt.

Erst jetzt, so viele Jahre später, scheint Konrad zu begreifen, was er mit Tanja verloren hat. Doch im Unterschied zu früher geht es in unseren Stunden nicht um den grausamen Schmerz eines sich sinnlos wiederholenden Scheiterns. Jetzt ist Raum für den Schmerz der Trauerarbeit: »Tanja kommt nicht zurück.«

Zu jeder Trauer gehört auch anzuerkennen, was man selbst versäumt hat. Die wütende Abwehr von Verantwortung hingegen ist immer auch ein Versuch, den Trauerschmerz von sich zu weisen. Das Kind Konrad war seinen Eltern gegenüber ohnmächtig, aber in der Beziehung zu Tanja war er es zu einem wesentlichen Teil selbst, der das Scheitern herbeigeführt hat.

»Es tut mir so leid!«, sagt Konrad in einer Stunde. Sein Blick schweift ins Zimmer und ich bin nicht sicher: Sagt er es mir oder richtet er seine Worte an einen anderen, den er als unsichtbare Gestalt seiner Erinnerung in den Raum zitiert. Es sind keine leeren Worte, sein Gefühl, seine Traurigkeit sind wirklich fühlbar.

Es ist gerade darum eine lebendige, wenn man so will konstruktive Trauer, weil Konrad nicht in Schuld erstickt, sich im Gehäuse der Melancholie einschließt. Mit dem Warum in der Hand und mit meiner Begleitung kann Konrad sich seiner Geschichte stellen, sich selbst verstehen, sich selbst auch verzeihen.

Ich: »Vor einigen Monaten, als es Ihnen so schlecht ging, als Sie auch wütend auf mich waren, da sind Sie weiter hierhergekommen, haben an der Therapie festgehalten. Sie haben sich nicht zurückgezogen, sondern weiter über das gesprochen, was Sie bewegt. Sie haben mir einen Zugang zu sich gewährt.«

Konrad: »Ja. Hierzubleiben, nicht weiterzuziehen. Das war für mich sehr wichtig. Und ich bin froh, dass ich das geschafft habe. Ich bin Ihnen aber auch dankbar, dass Sie so viel Geduld mit mir hatten.«

Noch eine ganze Weile beschäftigen wir uns mit diesem Thema. Konrad kommt immer wieder voller Trauer in die Sitzungen — und trotzdem fühlen sich die Stunden leichter an, ist unsere gemeinsame Arbeit erfüllend und produktiv. Auf irgendeine Weise wirkt Konrad sogar jünger auf mich und — anders. Als ich zum Quartalswechsel einmal sein Krankenkärtchen einziehe und darauf sein altes Foto sehe, bin ich überrascht: »Wer ist dieser fremde Mann?«, denke ich. Ich erkenne Konrad auf dem Foto kaum mehr als dieselbe Person, die mir nun zunickt und die Karte in den Geldbeutel steckt, freundlich wie immer, aber irgendwie auch vertraut, mit mir in Kontakt.

In einer Stunde sage ich zu Konrad: »Ich glaube, ich weiß jetzt, was das Bild bedeutet, das Sie jeden Tag ansehen.«

Konrad: »Welches Bild?«

Ich: »Das, auf dem Tanjas Kind zu sehen ist.«

Konrad blickt mich ein wenig betroffen an: »Ja, das sehe ich jeden Tag. Es steht immer noch im Regal in meinem Wohnzimmer.«

»Ich glaube, das ist das Kind, von dem Sie einmal sagten, es wäre am besten nicht geboren worden, das auch wirklich nicht auf die Welt gekommen ist. Das Kind, zu dem Sie immer fürchteten, keinen Kontakt zu finden, auf das Sie zugleich so gehofft haben. Ein Kind, das Ihnen fern ist, obwohl Sie doch eigentlich sein Vater hätten sein können. Sie sind froh, dass es in guten Händen ist, bei Tanja und ihrem Mann. Aber Sie sind auch unendlich traurig, dass es nicht bei Ihnen sein kann, nicht Ihr Kind sein kann.«

Konrad schluckt, blickt mich an.

Ich sage: »Aber vielleicht haben Sie noch andere Kinder, die Sie ins Leben bringen können. Von denen Sie noch gar nicht wissen, wer oder was das ist.«

Konrad: »Aber wer weiß, ob es dann anders laufen wird? Ob sich nicht doch alles wiederholen wird?«

Ich denke: Vielleicht war dieses Foto zugleich ein Versteck. Ein Ort, an dem er für Jahre sein fühlendes Herz verborgen hat, der einzige Gegenstand, der wirklich für ihn Bedeutung hatte.

Zu dieser Zeit hat Konrad einen Traum: »Ich bin auf einem Anwesen, in einem großen, schön angelegten Park mit einem riesigen Swimmingpool. Ich lasse mich auf dem Wasser treiben und von der Sonne wärmen. Dann laufe ich durch den Park und treffe einen Freund, er sagt: ›Wo ist er denn, der Konstantin?‹ Im Traum weiß ich, dass er meinen kleinen Sohn meint. Ich erschrecke furchtbar, weil ich da erst merke, dass ich ihn einfach vergessen und verloren habe. Ich bekomme furchtbare Angst, dass er im Pool ertrunken sein könnte. Ich tauche und tauche nach ihm, aber finde ihn nicht. Dann gab es einen Sprung im Traum, wie wenn jemand einen neuen Film einlegt. Das war gar kein Bild mehr, das ich im Traum gesehen hab, eher so ein Wissen. Unten im Pool geht es noch weiter, da gibt es eine Kammer, in der ist Luft, das war wie eine Grotte, in der es behaglich ist. Da wird der Junge gelandet sein. Von dort geht es nach draußen, in einen anderen Teil des Parks, in den ich ihm nicht folgen kann. Aber da gibt es auch Leute, die auf ihn aufpassen. Ich wusste: Er ist nicht tot. Ich muss nicht weiter nach ihm tauchen.«

Konrad kommt noch über zwei Jahre zu mir in Therapie. Die Kassenstunden sind ausgelaufen, er finanziert sich selbst zwei regelmäßige Wochenstunden. Es geht immer weniger um die Bewältigung von akuten Krisen, sondern um das, was man vielleicht eine grundlegende Aufbauarbeit in seinem Leben nennen könnte. Konrad ist kein neuer Mensch. Seine Konflikte und Ängste begleiten ihn, auch die Neigung zum Rückzug in schwierigen Situationen. Aber er beginnt doch, erst mit vorsichtiger Hand, dann immer kräftiger zupackend, sein Leben zu gestalten. Konrad geht wieder auf Reisen, unternimmt etwa eine Schifffahrt in die Arktis, bricht aber auch mit Rucksack und auf eigene Faust zu Unternehmungen auf. Er behält seine Stelle im Planetarium, beginnt aber, sie mit seiner eigenen Kreativität auszufüllen, Gestaltungsspielräume zu nutzen. Er setzt sich etwa für eine neue Technik ein, die eine bessere Projektion der Filme im Planetarium erlaubt: »Viel dreidimensionaler«, sagt Konrad, »dass man das Gefühl hat, man ist richtig mit dabei.« Gemeinsam mit seinem Chef gelingt es ihm schließlich, die Geldgeber zu überzeugen. Die Anlage wird überarbeitet, das Publikum bekommt modernere Filme zu sehen. Konrad ist stolz darauf, dass er zu diesem Projekt beigetragen hat, und beobachtet heimlich während der Vorführungen aus dem Technikraum die staunenden Gesichter der Besucher, die den Blick auf die Kuppel gerichtet haben.

Mit noch etwas überrascht mich Konrad. Er hat über den ganzen Verlauf der Therapie eine Sache vor mir verborgen: nämlich, dass er hervorragend zeichnen kann. Schon seit seiner Jugend entwirft er Comics, hat dafür früher viel Anerkennung bekommen. Diese Leidenschaft sei irgendwann eingeschlafen, aber schon seit einiger Zeit, etwa um den Beginn der Therapie herum, habe er wieder damit angefangen. Er habe mir nichts davon erzählt, weil es ihm zunächst erst gar nicht in den Sinn kam, später dann irgendwie peinlich war. Tatsächlich arbeitet er seit einiger Zeit an einer Graphic Novel, in der er eine Science-Fiction-Geschichte in Szene setzt. Es gehört für mich zu den berührendsten Momenten unserer gemeinsamen Arbeit, als mir Konrad einmal ein kleines Paket mit in die Stunde bringt: eine Kopie seiner fertigen Bildergeschichte. Die Geschichte selbst scheint mir wie eine Variante einer modernen Odyssee, zugleich eine Parabel auf sein eigenes Leben, aber auch auf unsere gemeinsame Arbeit. Sie geht so:

In einer fernen Zukunft fährt ein Astronaut mit seinem Raumschiff auf eine einsame Mission. Er soll Vermessungsarbeiten in einem Bereich der Galaxie vornehmen, der bislang noch nicht erforscht ist. Tatsächlich ist er des Lebens auf der Erde überdrüssig geworden, kann keinen Frieden finden, seitdem er seine Frau verloren hat, hofft auf sein Glück in der Ferne. Am anderen Ende der Galaxie angekommen, beginnt er mit der Arbeit — als die technischen Systeme seines Bordcomputers ausfallen. Er kann sie nicht reparieren, was auch bedeutet, dass er kein Navigationssystem mehr besitzt, das ihn nach Hause leiten könnte. Unter Milliarden von Sternen findet er die heimatliche Sonne nicht mehr.

Er irrt durch Raum und Zeit, erlebt Abenteuer, wobei er auf subtile Weise gewissen Reminiszenzen berühmter Science-Fiction-Motive begegnet, etwa einem Supercomputer, der ihm auf seine Fragen nur kryptische Antworten gibt, oder einem Planeten, der von einem einzigen rätselhaften Bewohner bewohnt wird: einem intelligenten Ozean, der mit Radiowellen die verborgenen Winkel seines Gehirns ertastet. Erst jetzt, in unerreichbarer Ferne, geht ihm auf, wie kostbar eine Heimat ist — und nach nichts sehnt er sich mehr, als einmal noch den Boden der Erde zu betreten. Endlich trifft er auf die Besatzung eines anderen Raumschiffes, eine unbekannte Zivilisation, die sich selbst gerade auf der Mission zu einem entfernten Planeten befindet. Sie haben ein Signal erhalten, das darauf hindeutet, dass es dort Leben gibt. Sie nehmen den Astronauten in ihre Mannschaft auf und versprechen, ihm bei der Heimreise zu helfen. Als sie auf dem unbekannten Planeten eintreffen, stoßen sie auf ein totes Wüstenreich. Beim Erkunden der Gegend findet der Astronaut heraus, dass es die eigene heimatliche Erde ist: Er erkennt ein Flusstal wieder, durch das er einst als junger Mann mit seiner Liebe spaziert ist. Nun liegt es trocken und kahl. Durch die Verschiebung der Zeit auf seinen Reisen sind auf der Erde Jahrtausende vergangen, das Signal, das von dort ausging — ein Rettungsruf —, wurde vor einem Zeitalter abgesetzt. Der Planet ist unbewohnt, die Menschheit hat die Erde verlassen. Sein Wunsch, die Heimat noch einmal zu betreten, hat sich auf traurige Weise erfüllt. Der Astronaut fühlt sich alt, aber auch erleichtert. Das Angebot der außerirdischen Crew, ihn mitzunehmen, damit er eine neue Heimat finden kann, lehnt er ab. Die Crew hinterlässt ihm genügend Nahrung und Wasser sowie einige Körner eines besonderen Saatguts. Die Geschichte endet, als das außerirdische Raumschiff von der wüstengrauen Erde abhebt, der Astronaut ihm nachsieht, wie es zu einem leuchtenden Punkt wird am Himmel, ein Stern unter den Sternen.

Ich sage zu Konrad: »Es ist ein einsames Ende, das Sie ausgesucht haben. Ich frage mich, ob das jene Einsamkeit ist — die Sie hier beschrieben haben —, die Sie so lange in sich getragen haben.«

Konrad aber sagt: »Mein Gefühl war eher: Mit dieser Geschichte lasse ich etwas von mir zurück. Etwas muss auf der Wüstenerde zurückbleiben. Der Astronaut aus der Geschichte ist nicht unglücklich. Er hat seinen Frieden gefunden, weil er nicht mehr weitersuchen muss. Er kann bei seiner Geliebten sein, die er verloren hat. Aber dieser Blick in die Sterne, das Raumschiff, das abreist, das steht für die Zukunft.«

Ich: »Und das sind auch Sie.«

Konrad nickt.

Konrad ist 47 Jahre alt, als unsere gemeinsame Arbeit an ein Ende kommt. Zuletzt haben wir uns nur noch in unregelmäßigen Abständen gesehen. Zwischen uns ist ein tiefes Band entstanden, das wir nur langsam aufgelöst haben. Für eine lange Weile war ich ein Begleiter an Konrads Seite. Aber jede Therapie ist eine Beziehung auf Zeit, ein endliches Stück Weg des eigenen Lebens. Das letzte Kapitel der therapeutischen Reise wird vielleicht gar nicht mehr in unserem Therapieraum geschrieben. Konrad erzählt mir, wenige Monate vor Therapieende, dass er jemanden kennengelernt hat: Sophia. Sie ist fast zehn Jahre jünger als er und hat zwei Kinder. Anders als bei den »Liebeleien«, die er vorher eingegangen war, fühlt es sich für ihn diesmal ernst an. Die beiden verstehen sich gut, teilen ihr Interesse an Science-Fiction-Geschichten und dem Weltall, aber auch die Lust am Reisen. In dieser Zeit erzählt mir Konrad, dass er das Foto von Tanjas Tochter vom Wohnzimmerregal genommen hat. Er hat es nicht weggeschmissen, aber doch an einen Ort getan, wo er es nicht mehr jeden Tag sieht. »Kommt ja irgendwie auch komisch, wenn Sophia zu Besuch ist.«

Ich sage: »Sie wollen das nicht aus Ihrem Leben tilgen, als hätte es das nie gegeben. Es ist ein Teil Ihrer Geschichte. Aber es muss trotzdem Platz für etwas Neues sein.«

Ich weiß nicht, was aus der Beziehung von Konrad und Sophia geworden ist. In den letzten Monaten unserer Therapie hatte ich das Gefühl, dass Konrad nun Halt gefunden hat, einen Kontakt, der echt ist und ihn trägt, der ihm Lust macht auf das Leben. Er braucht mich nicht mehr dafür. Ob die beiden wirklich noch einmal ein Kind bekommen haben — eine Fantasie, die mir Konrad in einer Stunde verschämt mitgeteilt hat —, auch davon weiß ich nichts. In gewisser Hinsicht ist er vielleicht ja doch noch Vater geworden, wenn die Beziehung der beiden gehalten hat, ein Stiefvater für Sophias beide Kinder. Möglich, dass Konrad sich noch einmal bei mir melden wird. Möglich aber auch, dass er seiner Wege gehen, mich hinter sich lassen wird als einen Teil seiner Vergangenheit.

»Ich danke Ihnen. Für alles«, sagt Konrad, als wir uns das letzte Mal die Hand geben — und ich kann fühlen, dass er es so meint.

Es ist ein Nachmittag im November, dunkel und regnerisch, aber auch von einer gewissen Magie. Die Laternen auf der Straße sind schon eingeschaltet und werfen ihre Spiegelung auf den nassen Asphalt. Ich sehe Konrad aus dem Fenster meiner Praxis nach, eine ganze Weile noch, ehe seine Gestalt zwischen den Lichtern der Laternen verschwindet.