In dieser Geschichte betreten wir die Praxis einer erfahrenen Psychoanalytikerin, die von ihrer Arbeit mit Maike erzählt. Es handelt sich um eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.
Maike kommt an einem jener späten Wintertage, die bereits den Frühling ankündigen. Es geht ein Wind, der die Luft mit einer beinahe unnatürlichen Milde füllt. Maike hatte über Telefon Kontakt zu mir aufgenommen. Eine Frau mit einer kindlichen Stimme bat hörbar aufgeregt um einen Termin. Nachdem wir diesen vereinbart hatten, fragte sie unsicher, ob sie noch etwas zu den Gründen ihres Anrufs sagen solle. Als ich ihr antworte, dass wir uns dafür bei unserem Termin Zeit nehmen würden, beginnt Maike sich zu entschuldigen und sich dann mehrfach in einer übertriebenen Weise für die Möglichkeit eines Treffens zu bedanken, bevor wir schließlich auflegen.
Maike kommt einige Minuten zu früh zu unserer Sitzung, die vorherige Patientin hat gerade erst meine Praxis verlassen, und ich bin nicht sicher, ob sie sich vielleicht begegnet sind. Als ich die Tür öffne, steht Maike ganz dicht davor, als hätte sie mit der Nasenspitze voran mein Praxisschild gemustert. Es kommt zu einem irritierenden Augenblick, in dem wir uns irgendwie gleich zu nahe sind und ich einen Schritt zurücktreten muss. Wir begrüßen uns, wobei Maike sich ausschließlich mit ihrem Vornamen vorstellt und damit den freundlichen, aber etwas kindlichen Eindruck verstärkt, den sie trotz der Tatsache, dass sie eine 22-jährige Frau ist, auf mich macht. Ihre braun-blonden Haare sind an den Spitzen in einem ausgewaschenen Grün gefärbt, was in Kontrast zu ihren vor Aufregung roten »Pausbacken« steht. Sie trägt eine weite und lange bunte Jacke, Jeans und durchgelaufene Turnschuhe, aus denen Socken mit Ananasmotiv herausschauen. Ihren schwer beladenen Rucksack trägt sie hoch aufgeschultert, eine Teeflasche schaut an der Seite heraus. Während der Stunde wird sie immer wieder daraus trinken.
Maike wirkt aufgeregt, als sie sagt: »Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie komme ich alleine gerade nicht mehr weiter. Ich stelle mir ständig selber ein Bein. Ich schiebe alles auf, kann nicht für meine Prüfungen im Studium lernen. Ich war bei so einer Beratungsstelle für Studierende mit Lernschwierigkeiten. Da haben wir einen Plan gemacht, wie ich besser lernen kann, wie ich meinen Alltag besser strukturiere. Das hat ein paar Wochen ganz gut geklappt, aber dann war es wieder wie vorher … Aber es geht eigentlich nicht nur um die Probleme mit dem Lernen … Es ist …« Maike gerät ins Stocken, schweigt und sieht mich an, als müsse sie Mut schöpfen, sagt dann, wobei ihr Tränen über die Wangen rollen: »Ich bin einfach so unglücklich gerade!«
»Können Sie denn sagen, warum?«, frage ich.
Maike braucht eine ganze Weile, bis sie sich die Tränen abgewischt und die Nase geputzt hat und wieder sprechen kann: »Ich habe das Gefühl, ich kriege einfach nichts hin. Egal, was ich mache, ich verbocke es immer wieder.«
Maike schildert, wie sie nahezu alle Aufgaben und alltäglichen Pflichten aufschiebe, »prokrastiniere«. Den Haushalt erledigt sie nur, wenn ihre Mitbewohnerinnen sie schon verärgert auf die Unordnung hingewiesen haben, Rechnungen bleiben wochenlang liegen. Mittlerweile habe sie schon eine »Briefkasten-Phobie« entwickelt: »Aus Angst, dass darin eine Zwangsvollstreckung liegt.«
Vor allem bringe sie mit ihrer »Aufschieberitis« aber ihr Studium in Gefahr. Seit einiger Zeit studiert sie Mathe und Biologie auf Lehramt. Gerade habe sie »ohne Grund« eine wichtige Frist verpasst, um sich für das neue Semester zurückzumelden. Daraufhin musste sie einen Anwalt einschalten, um »nicht aus dem Studium zu fliegen«. »Das war ganz schön teuer. Meine Eltern haben die Kosten dafür getragen, natürlich fühle ich mich deshalb unendlich schlecht.«
In der Beratungsstelle habe sie zwar Tipps bekommen, wie sie ein besseres »Terminmanagement« betreibe, aber sie sei offenbar ein »hoffnungsloser Fall«. Maike schildert auch weitere Symptome, die sich in der letzten Zeit vermehrt eingestellt haben. Sie hat Schlafstörungen, kommt abends nicht zur Ruhe, immerzu von dem Gedanken getrieben, nicht genug gemacht zu haben. Morgens kommt sie schwer aus dem Bett, zum Lernen kann sie sich gar nicht mehr aufraffen. »Alles fühlt sich an wie in einer schwarzen Wolke, es ist so viel Druck, von allen Seiten, vor allem Druck, den ich mir selber mache. Dabei ist eigentlich gar nichts Ungewöhnliches passiert. Klar, das Studium ist stressig, aber die anderen bekommen es ja auch hin.«
Sie nehme sich immer etwas vor, mache einen Lernplan. »Aber wenn ich mich dann hinsetze, geht überhaupt nichts mehr. Ich bin supermüde und kann mich einfach nicht konzentrieren.«
Vor einigen Wochen sei sie durch eine Prüfung gefallen. »Was ist, wenn ich das Studium nicht schaffe?« Bei diesem Gedanken habe sie letztens nachts im Bett eine Panikattacke bekommen. Das sei auch der Anlass für ihren Anruf gewesen, sie habe gemerkt, dass das Problem »tiefer liegt«, dass das so nicht weitergehen könne. Maike steht auch jetzt sichtlich unter Spannung, zupft an der Nagelhaut und spielt nervös an ihren Haaren.
»Haben Sie selbst denn eine Idee, woran das liegen könnte?«, frage ich.
»Absolut keine. Ich habe schon so viel versucht. Ich glaube, ich bin einfach unfähig. Vielleicht sollte so jemand wie ich nicht studieren.«
Maike beginnt mit einer Anklage gegen sich und ihre vermeintliche Unfähigkeit, die in einer Schimpftirade über sich selbst mündet. Sie bekomme viel Unterstützung, von ihren Freunden, aber vor allem von ihren Eltern, die sie ein ums andere Mal aus einer brenzligen Lage befreit hätten. »Und so danke ich es ihnen, indem ich ein paar Wochen später wieder in den nächsten Brunnen falle, aus dem sie mich herausziehen müssen.«
Maike erzählt noch von weiteren Schwierigkeiten. Entscheidungen jeglicher Art fielen ihr schwer, auch ganz unbedenkliche wie etwa, ob sie auf ein Treffen mit Freunden gehen wolle oder nicht. Sie zögere die Entscheidung bis kurz vor dem Treffen hinaus, könne weder zu- noch absagen, »weil ich nicht weiß, was ich will«. Zum Teil würden ihre Freunde dann schon ärgerlich, was ihr wiederum ein »Mega-Schuldgefühl« mache. Dabei halte sie Konflikte eigentlich gar nicht aus, wolle es anderen immer recht machen, passe sich deren Bedürfnissen an, auch dann, wenn sie eigentlich auf ihrem Recht beharren sollte. Sie miete zum Beispiel das kleinste Zimmer in der WG, zahle aber trotzdem denselben Preis wie ihre Mitbewohnerinnen. Mehrmals habe sie ihr Anliegen schon ansprechen wollen, aber es nicht »gebacken bekommen«.
»Was passiert denn in so einem Moment, wie kann ich mir das vorstellen?«, frage ich.
Mit einem sarkastischen Lachen holt Maike aus: »Also erst einmal zögere ich das natürlich immer wieder hinaus. Denke, es macht ja keinen Sinn, es anzusprechen, wenn nicht alle da sind. Und wenn dann alle da sind, will ich natürlich keine schlechte Stimmung reinbringen. Ich habe eigentlich immer einen guten Grund, warum jetzt gerade kein optimaler Zeitpunkt für ein klärendes Gespräch ist. Einmal hatten wir aber ein WG-Treffen, wo es genau um solche Anliegen ging, jeder sollte sagen, was ihn beschäftigt. Ich hatte mir auch eine Formulierung zurechtgelegt. Aber als ich dann an der Reihe war, habe ich nichts rausgebracht. Ich habe nur gesagt: ›Alles okay, ich habe keine Themen.‹ Es hat sich plötzlich so angefühlt, als würde ich ein Riesentamtam machen, wegen hundert Euro. Ich hatte irgendwie das Gefühl, die anderen werden sauer, wenn ich da jetzt groß Geld fordere. Wer weiß, ob die dann noch Lust gehabt hätten, mit mir zu wohnen. Obwohl das ja eigentlich Quatsch ist. Aber so hat es sich angefühlt.«
»Als wäre es verboten zu sagen, was Ihre Wünsche sind. Sie fürchten, dass dann ein Konflikt mit den anderen entsteht und das Tischtuch gleich zerschnitten sein könnte«, sage ich.
»Aber es liegt allein an mir. Meine Mitbewohnerinnen sind eigentlich gar nicht so, wahrscheinlich hat das nur keiner gemerkt mit der Miete. Ich müsste halt endlich mal den Mund aufmachen. Nur kriege ich das irgendwie nicht hin. Das Problem bin ich selbst, so viel steht fest.«
Für mich ist unklar, worin Maikes Schwierigkeiten gründen. Ich sehe nur, dass sie vor allem sich selbst die Schuld dafür gibt. Gleichzeitig spricht sie in einer Weise über sich, als steuere sie ihre Handlungen gar nicht selbst, sondern irgendein störrischer Teil in ihr, der sich dem Zugriff ihres Willens entzogen hat. Ein innerer Saboteur, der ihr die Energie entzieht, sobald sie etwas tun oder sagen möchte.
Als ich ihr diese Metapher vorschlage, muss Maike wieder sarkastisch lachen: »Das trifft es gut. Aber ich habe das Gefühl, in mir drin, da ist mittlerweile mehr Saboteur als Maike.«
Es ist fühlbar, wie sehr sie diese Tatsache zunehmend in Verzweiflung stürzt, auch ihr Sarkasmus kann darüber nicht hinwegtäuschen. Keine ihrer Maßnahmen, diesen Saboteur wieder unter Kontrolle zu bekommen, hat sich bislang als wirksam erwiesen. Er lässt sich nicht gut zureden, nicht mit guten Argumenten überzeugen, er lässt sich nicht mit Belohnungen locken oder in einen Lernplan zwingen, und selbst ein Aufgebot an Willenskraft, Disziplinierungsmaßnahmen und die Unterstützung durch andere können ihn allenfalls für eine gewisse Zeit in Schach halten.
»Vielleicht will Ihnen dieser Saboteur auch etwas sagen und lässt sich davon durch nichts abbringen«, überlege ich laut.
Maike wirkt nachdenklich: »So habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber was will er mir sagen? Und warum nicht einfach mal Klartext?«
»Das herauszufinden, darum könnte es hier gehen.«
Zwar überschneiden sich Maikes Schilderungen durchaus mit dem, was man in der klinischen Fachsprache eine depressive Episode nennt. Es scheint mir dennoch wichtig, Maikes Beschwerden nicht zu schnell einer vermeintlichen Krankheit zuzuordnen, die sie befallen hat wie ein Virus und die es mit der Therapie nun zu beseitigen gilt. Das wäre wahrscheinlich nur eine Variante des Lernplans und Terminmanagements, dieses Mal bezogen auf die eigene Psyche. Die meisten Diagnosen auf dem Feld der psychischen Erkrankungen sagen ohnehin wenig über die Ursachen aus, sie sind oft erst einmal Sammelbegriffe für bestimmte Symptome, die sehr verschiedenen Ursprungs sein können: Angststörung ist nicht gleich Angststörung, Depression nicht gleich Depression. Aus psychoanalytischer Perspektive sind die fühlbaren Symptome eines psychischen Leidens meist nicht einfach nur Anzeichen einer Krankheit, sondern bergen einen Sinn oder haben zumindest eine Funktion. Oft sind sie psychische und physische Reaktionen auf ein zugrunde liegendes Problem, wenn nicht sogar der Versuch, dieses Problem zu lösen. Wie das Fieber bei einer Erkältung bereiten sie Leid, können aber dennoch ein lebensnotwendiger Abwehrversuch sein. Ein Abwehrversuch, der allerdings zu Folgeproblemen führen kann. Ein depressiver Rückzug kann der Versuch sein, mit einer inneren Not umzugehen, zum Beispiel schmerzhaften Gefühlen in einem komplizierten Trauerprozess auszuweichen, er kann aber auch mit Selbstwertkonflikten zu tun haben oder schlicht eine Erschöpfungsreaktion sein. Wir fühlen uns nicht ohne Grund, wie wir uns fühlen, handeln nicht zufällig, auch wenn wir manchmal selbst nicht sagen können, warum. Das in gemeinsamen Gesprächen herauszufinden, ist oftmals der erste Schritt in einer Psychotherapie.
Warum betreibt Maike eine so unerbittliche Selbstsabotage, gerät sie in ein ewiges Aufschieben, Verschleppen, Verzögern, Nicht-Entscheiden — bis zu dem Punkt, an dem sie sich damit erheblich schadet und beginnt, ihre Lebensmöglichkeiten zu verstellen. Bräuchte Maike lediglich Unterstützung bei der Selbstorganisation, dann hätten ihr die Sitzungen in der Beratungsstelle sicher geholfen. Es scheint noch um etwas anderes zu gehen. Doch um was?
Vielleicht kann man sich der Antwort annähern, wenn man die Frage erweitert: Was würde passieren, wenn Maike nicht mehr aufschiebt — wenn sie sich entscheidet? Das ist noch nicht klar. Zumindest würde sie dann mit ihren eigenen Wünschen sichtbar, würde sich positionieren, vielleicht auch anecken. Womöglich würde allein diese Aussicht Maikes Schuldgefühle wecken, die Furcht, andere könnten sich angegriffen fühlen oder von ihr abwenden. So, als könne man sie nur mögen, wenn sie keine eigenen Ansprüche anmeldet. Die Szene in der WG, als Maike die überteuerte Miete ansprechen wollte, scheint mir dafür sinnbildlich. Als würde Maike immerzu vor einer Alternative stehen: Entweder sagt sie, was sie will, und verärgert damit die anderen, droht, nach ihrer Wahrnehmung, aus der WG zu fliegen. Oder sie bleibt stumm und wird gegebenenfalls benachteiligt, zahlt die überteuerte Miete. Maike hilft es dabei wenig, auf einer kognitiven Ebene zu wissen, dass ihre Mitbewohnerinnen wahrscheinlich gar nicht so drastisch reagieren würden. Auf einer emotionalen Ebene fühlt es sich für sie trotzdem so an — und das, was wir fühlen, lässt sich schwer durch Gedanken steuern.
Später erzählt mir Maike, dass sie, obwohl sie schon über ein Jahr in dieser WG wohnt, immer noch keinen Dauerauftrag für die Miete eingerichtet habe. Jeden Monat überweise sie per Hand, oft verspätet, nachdem ihre Mitbewohnerinnen schon mehrfach genervt nachgefragt haben. Warum sie es nicht schaffe, mit ein paar Mausklicks einen Dauerauftrag anzulegen, sei ihr selbst unbegreiflich.
»Weil Sie die Miete eigentlich gar nicht zahlen wollen, weil Sie mit der Höhe nicht einverstanden sind. Aber das trauen Sie sich nicht zu sagen, aus Angst vor den Konsequenzen. Deshalb hat Ihr innerer Saboteur übernommen, und der bringt den Unwillen auf seine Weise zum Ausdruck. Auf eine Weise aber, die die anderen wirklich ärgerlich macht«, sage ich.
»Hm«, macht Maike und wirkt überrascht, kommt ins Überlegen: »Also der Saboteur kommt dann zum Einsatz, wenn ich keinen Klartext spreche.«
Maike und ich vereinbaren ein weiteres Vorgespräch, sie wirkt erleichtert. Bei der Verabschiedung erzählt sie mir von ihrer Sorge, mit dem »Urteil« nach Hause geschickt zu werden, es sei alles »nicht so schlimm«, sie solle sich »einfach positivere Gedanken machen«, dann würde das schon wieder.
Als ich ihr Versichertenkärtchen einziehe, stellt sich heraus, dass Maike bei ihren Eltern mitversichert ist und ihre Meldeadresse noch nicht geändert hat. Ich bin kurz irritiert. »Ist das ein Problem?«, fragt Maike sofort, voller Angst, dass sie etwas »falsch« gemacht hat.
»Nein. Die Mitteilung der Krankenkasse wird aber an die Adresse Ihrer Eltern zugestellt werden. Nur, dass Sie Bescheid wissen …«, sage ich.
»Das macht nichts«, meint Maike. »Meine Mutter hat mir geholfen, Ihre Adresse rauszusuchen, die wissen Bescheid.«
»Also eigentlich will ich gar keine Lehrerin werden!«
Mehrere Wochen Therapie sind vergangen. Maike und ich haben vereinbart, uns zu einer wöchentlichen Sitzung zu sehen, im Rahmen einer sogenannten tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Teil dieses Settings ist, in der Therapie einen sogenannten Fokus zu wählen, unsere Arbeit auf ein oder mehrere Themen einzugrenzen. Maike und ich einigen uns darauf, einen Schwerpunkt auf ihre Probleme mit dem Aufschieben zu legen, weil sie sich dadurch besonders belastet fühlt. In der ersten Zeit geht es vor allem um Maikes Studium. Sie berichtet mir von ihren Versuchen, sich zum Lernen zu zwingen, wobei sie eine Vielzahl von Techniken zur Anwendung bringt, die sie sich in Online-Videos angeeignet hat: Belohnungssysteme für gelungene Lerneinheiten, die »Drei-Minuten-Regel« gegen Prokrastination oder die »3-P-Regel«: Pläne, Pausen, Prioritäten. Doch nichts verfängt. Sie trifft immer wieder auf jene »zähe Masse« in ihr, die sich nicht bewegen lässt, jenen, in der Sprache der Psychoanalyse, unbewussten Widerstand, der sich verlässlich einstellt, sobald sie nur irgendetwas anrührt, das mit dem Studium zu tun hat. Sie wird sofort müde, lustlos, unkonzentriert. Zu Beginn unserer Arbeit habe ich das Gefühl, Maike erhofft sich auch von mir neue, vielleicht noch effektivere Lernstrategien. Gleichzeitig lässt sie in unseren Stunden auch noch eine andere Seite von sich erkennen: eine, die ihre Lernschwierigkeiten nicht nur mithilfe von Techniken unter Kontrolle bringen, sondern den Grund dafür verstehen will, die neugierig geworden ist, was es eigentlich mit diesem inneren Saboteur auf sich hat.
»Mir fällt auf, dass Sie vor allem damit beschäftigt sind, wie Sie lernen, aber nicht, was. Sie haben mir noch gar nicht gesagt, was Sie an Ihrem Studium eigentlich interessiert«, sage ich.
Tatsächlich hat Maike noch von keiner Vorlesung oder keinem Seminar erzählt, bei dem ich den Eindruck hatte, es würde sie wirklich interessieren. Die Studieninhalte scheinen eher wie inhaltslose Hürden, über die sie springen muss.
Maike denkt eine Weile nach. Dann meint sie: »Um ehrlich zu sein, habe ich das Studium eher aus pragmatischen Gründen gewählt.«
Nach ihrem Abitur habe sie sich zunächst völlig orientierungslos gefühlt: »Ich hatte ein gutes Abi, es war also theoretisch vieles drin. Es gab schon verschiedene Bereiche, die für mich infrage gekommen sind. Eigentlich konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, Lehrerin zu werden. Meine Eltern sind ja beide Lehrer, da weiß ich, was das heißt, das fand ich nie so toll. Aber irgendwie habe ich mich nicht für ein Fach entscheiden können, ich hatte Angst, den falschen Weg zu wählen. Dann war es wieder sehr knapp mit den Einschreibungsfristen, ich war spät dran. Also habe ich gedacht: Ich mache erst einmal etwas Solides, ein Lehramtsstudium ist ja auch so eine Sicherheit, da wird man nicht ständig gefragt: ›Und was willst du damit mal machen?‹ Ich kann danach ja immer noch schauen, was ich machen will, erst mal den Bachelor. Und mit Mathe und Bio hat man auch gute Berufsaussichten, auch wenn das jetzt nicht unbedingt meine absoluten Lieblingsfächer sind …«
Ich: »Klingt fast, als wäre dann das ganze Lehramtsstudium so eine Art Prokrastination?«
»Wie meinen Sie das?«
»In dem Sinne, dass Sie Ihre Wünsche aufschieben: das zu erkunden, was Sie eigentlich machen wollen. Erst einmal etwas Solides und dann vielleicht das, was Sie wirklich interessiert?«
Für einen Menschen in Maikes Alter ist es irgendwo normal, noch keine klare Vorstellung von der eigenen Zukunft zu haben, vielleicht auch einmal Wege zu gehen, die sich als Sackgassen herausstellen. Ob ihr Studium eine solche Sackgasse ist, kann Maike nur selbst sagen. In der Zeit der sogenannten Spätadoleszenz, also einer nachgelagerten Jugend um das 20. Lebensjahr herum, geht es viel darum, herauszufinden, wer man ist, wohin man möchte. Es ist ein eigentlich sehr sensibles Übergangsfeld zwischen Jugend und Erwachsenenalter und leider auch eine Zeit, in der unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten die Daumenschrauben angezogen hat. In meinen Augen ist dieser Raum der Selbstfindung zunehmend eingeschränkt worden, damit junge Menschen schneller und vermeintlich effizienter Qualifikationen erwerben, als läge der Wert dieser Lebensphase allein darin, möglichst schnell große Stoffmengen in die Köpfe zu bekommen. Das hat psychische Folgen, die ich öfter in meiner Praxis sehe. Es ist nicht selten, dass junge Menschen in diesem Alter in eine Krise geraten. Nicht nur, weil von außen auf sie Druck ausgeübt wird, der Prüfungsstress sie überfordert — sondern, weil sie diesen Druck verinnerlicht haben, sie sich selbst behandeln wie eine Maschine, die im Räderwerk des Ausbildungssystems zu funktionieren hat, sich selbst nicht zugestehen, orientierungslos zu sein, sich noch finden zu müssen, »Fehler« machen zu dürfen, Umwege zu gehen. Oft wird dann eine Psychotherapie zu einem ersten Raum, in dem es darum geht, diese Frage nach dem Selbst zu stellen. Ein Raum, der im Übrigen auch bedroht ist, auf einen scheinbar effizienten Reparaturbetrieb zusammengekürzt zu werden. Als ginge es in einer Psychotherapie allein darum, möglichst schnell Symptome zu beseitigen, ohne sich lange mit ihren Ursachen zu beschäftigen.
Geht es bei Maike um eine solche Thematik? In mancher Hinsicht habe ich durchaus den Eindruck, dass Maike sich mit ihrer Studienwahl den vermeintlichen Vorstellungen der anderen anpasst, etwas »Vernünftiges« studiert und in diesem Studium auf die geforderte Weise zu funktionieren versucht. Und sobald ihr das nicht gelingt, gibt sie sich selbst die Schuld. Müsste sie ihrem »inneren Saboteur« nicht dankbar sein, dass er ihr ein solches Funktionieren nicht durchgehen lässt, Widerstand leistet, wenn sie sich selbst zu etwas zwingen will, das sie vielleicht gar nicht möchte? So gesehen wäre Maikes Widerstand ja beinahe ein Zeichen von »Gesundheit«. Denn dieser Widerstand bedeutet ja auch, dass es in Maike einen Teil gibt, der den eigenen Willen und die eigenen Wünsche behauptet, das Eigene nicht einfach in eine vermeintlich vernünftige Anpassung einschmelzen lässt. Das »Pathologische« an dieser Form der Selbstbehauptung besteht dann allein darin, dass sich dieser Teil nur passiv äußert, passiven Widerstand leistet, nicht aktiv wird. Er verhindert etwas, statt die eigenen Vorstellungen auszugestalten. Warum? Das ist eine entscheidende Frage für diese Therapie. Geht es darum, dass Maike keine Idee davon hat, was sie möchte, weil sie auf einer fundamentalen Ebene nicht weiß, wer sie ist? Orientiert sie sich an äußeren Vorgaben, den Bedürfnissen der anderen, weil sie innerlich keinen Kompass entwickelt hat, ihr eigenes Selbst noch gar nicht kennt? Dann könnte die Aufgabe der Therapie darin bestehen, ihr bei dieser Suche nach dem Selbst und seiner Entwicklung zu helfen. Oder hat Maike durchaus schon eine Idee, wer sie ist, aber etwas hindert sie daran, damit nach außen zu gehen? Dann ginge es darum, dieses Hemmnis zu finden und zu überwinden, mit einem besonderen Augenmerk auf jenem unbegriffenen Schuldgefühl, das Maike immer dann empfindet, wenn sie etwas von sich zu erkennen gibt.
Woher weiß man, wer man ist? Vielleicht wird das, was man in der Psychoanalyse das »wahre Selbst« nennt, fühlbar, wenn wir uns für etwas erwärmen, in emotionalen Kontakt kommen, uns lebendig fühlen. Wenn etwas unsere Lust weckt und unsere Fantasie, und wir uns darein vertiefen, ohne dass sich alle Motivation in äußere Zwecke auflöst. Üblicherweise spüren wir das auch als Gegenüber: Wir werden wach und neugierig, wenn ein anderer über etwas spricht, das ihn selbst interessiert. Wenn Maike über ihr Studium spricht, ist es, als würde ich gleichsam von ihr durch einen Lernplan geschleift, fühle ich mich gequält, innerlich abwesend. Wirklich emotional beteiligt fühle ich mich nur, wenn Maike von ihren Beziehungen erzählt. Aber auch hier eher in einem negativen Sinne: Oft fühle ich so etwas wie Ärger in mir aufsteigen, sei es über Maike, weil sie sich so leicht unterkriegen lässt oder in zermürbenden Entscheidungsambivalenzen stecken bleibt, sei es über die anderen, etwa ihre Mitbewohnerinnen, die nicht von selbst auf eine faire vertragliche Regelung achten. Maike scheint diesen Ärger nicht zu empfinden. Gegenüber anderen Menschen fehlt er nahezu vollständig, in Bezug auf sie selbst bricht er sich allenfalls in Gestalt von entwertenden Urteilen Bahn. Ärger ist ein Affekt, der Raum schafft, Platz macht, die eigenen Ansprüche markiert. Er ist vergleichbar mit dem »Nein«, mit dem schon Kinder früh die Grenze ihres Ichs behaupten. Das ist etwas ganz anderes als eine Selbstabwertung, die im Rückzug mündet.
»Wir können nicht so leicht aus unserer eigenen Haut« — dieser Satz hat seine psychologische Wahrheit. Was für einen Menschen problemlos möglich ist — etwa einen eigenen Wunsch anzusprechen —, kann für einen anderen zu einem inneren Konflikt führen. Dies hat wesentlich mit den impliziten Annahmen zu tun, mit denen wir anderen Menschen begegnen: Wenn ich das Gefühl habe, dass der andere meine Wünsche und Gedanken gut annehmen kann, fällt es mir weniger schwer, diese zu äußern, etwa: meine Mitbewohner auf eine überhöhte Miete hinzuweisen. Möglicherweise ist mein Gegenüber nicht einverstanden, gibt mir Kontra, aber unsere Beziehung wird das aushalten, es wird nichts Schlimmes geschehen. Erlebe ich den anderen als jemanden, der Differenzen nicht verkraftet, komme ich in einer solchen Situation in einen inneren Konflikt. Wenn ich unsere Beziehung schützen oder negative Reaktionen vermeiden will, muss ich meine Bedürfnisse zurückstellen — dann aber löse ich die Situation auf meine Kosten. Ist dies das Prinzip, mit dem ich alle meine Beziehungen gestalte, zahle ich in allen möglichen Lebenssituationen einen »überhöhten Mietpreis«. Dann ist es vielleicht nicht überraschend, dass sich zunehmend eine tiefe Frustration und ein Gefühl der Ohnmacht in mir breitmacht.
Diese Erwartungsmuster sind uns oftmals nicht bewusst. Wir orientieren unser Handeln wie automatisch nach ihnen, in derselben Weise, wie wir sie einmal erworben haben, nämlich als etwas, das unserer alltäglichen Erfahrung ganz unhinterfragt und unausgesprochen innegewohnt hat.
Deshalb sind solche Muster auch so hartnäckig und wiederholen sich in neuen Situationen. Aus Angst vor den Konsequenzen stellen wir sie nicht auf die Probe, weichen Situationen aus, in denen wir die Erfahrung machen könnten, dass der andere ganz anders reagiert, als wir es erwarten — oder zumindest lernen könnten, wie wir uns selbst auch gegen den Unmut von anderen behaupten können. Wie Maike aus Angst vor der Reaktion ihrer Mitbewohnerinnen gar nicht erst ausprobiert, was geschieht, wenn sie ihre Wünsche ausspricht. In der Psychoanalyse spricht man auch von den »inneren Arbeitsmodellen von Bindung«, den grundlegenden Erwartungen, wie andere auf mich und meine Äußerungen reagieren werden. Diese Erwartungen erwerben wir in frühen Bindungsbeziehungen, meist in der Kernfamilie. Sie festigen sich im Verlauf unserer Entwicklung, bleiben aber ein Leben lang veränderbar — vor allem durch neue Beziehungserfahrungen, etwa in einer Partnerschaft, aber auch in einer Psychotherapie. Man fragt in einer Psychoanalyse also nicht nach der Geschichte eines Menschen, um die vermeintlich wahre Ursache seiner Problematik zu finden oder Schuldige auszumachen, sondern, um zu erfahren, welche Beziehungserfahrungen die Person geprägt haben und bis heute noch in Form von unbewussten Erwartungen wirksam sind.
Bei Maike scheint es erst einmal gar nicht notwendig, nach ihrer Geschichte zu fragen, um etwas über ihre Familie zu erfahren. Ihre Eltern spielen in ihrem alltäglichen Leben nach wie vor eine große Rolle, obwohl sie schon einige Zeit von zu Hause ausgezogen ist, um in die weiter entfernte Universitätsstadt zu ziehen. Maike telefoniert jeden Tag »mit zu Hause«, vor allem mit ihrer Mutter, oft auch mit ihrem Vater. Sie bezeichnet das Verhältnis zu ihrer Familie als eng, »obwohl ich eigentlich gar nicht so ein Familienmensch bin, weil ich eigentlich auch gerne Dinge für mich alleine mache«. Zu ihrem älteren Bruder bestehe eine größere Distanz. Er sei erst im letzten Jahr, mit 24, von zu Hause ausgezogen, nachdem es dort viele Konflikte gegeben hatte.
»Worüber sprechen Sie denn jeden Tag am Telefon mit Ihren Eltern?«, frage ich.
»Ach, über alles Mögliche, wie es in der Uni läuft, was ich mir zu essen gemacht habe. Aber eigentlich erzähle ich gar nicht so viel. Meine Eltern haben den größten Redeanteil.« — Maike hält inne und korrigiert sich sofort: »Also ich verstehe mich mit meinen Eltern wirklich gut. Ich hatte auch eine schöne Kindheit, nicht, dass Sie jetzt denken … Meine Eltern haben uns immer alles gegeben, was wir gebraucht haben, für unsere Eltern stehen wir Kinder immer an erster Stelle.«
Ich sage: »Sie haben eben etwas erwähnt, dass Sie vielleicht an den Telefongesprächen mit Ihren Eltern stört. Ich habe den Eindruck, Sie haben sich dadurch gleich schlecht gefühlt und müssen mir jetzt versichern, dass Sie es auf keinen Fall böse gemeint haben. Geht es da nicht wieder um so ein Schuldgefühl?«
»Ja, das stimmt … ich fühle mich immer so schnell schuldig. Aber es ist so: Meine Eltern sind wirklich liebe Menschen, es sind die wichtigsten Menschen für mich auf der Welt.« Und nach einem Zögern fügt sie hinzu: »Ich wüsste nicht, was ich machen würde, wenn sie nicht mehr da wären. Aber sie sind halt auch manchmal anstrengend.«
Maike schildert, dass sie sich in den Telefongesprächen manchmal vorkommt wie »die Paartherapeutin« ihrer Eltern oder eine Art »Familiendiplomatin«. Es habe schon immer Konflikte zu Hause gegeben, aber »nichts Ungewöhnliches, wie in anderen Familien auch«. In den letzten Jahren seien daraus ernsthafte »Eheprobleme« geworden, wie Maike es nennt. Worum es gehe, sei ihren Eltern wahrscheinlich selbst nicht klar, immer um Kleinigkeiten, die den anderen gleich auf die Palme bringen.
»Und Ihre Eltern besprechen die Probleme mit Ihnen?«
»Ja, wenn sie sich gestritten haben, ruft meistens einer von beiden bei mir an. Aber auch einfach so, wenn wir miteinander telefonieren, kommt das Gespräch fast immer darauf: Jens hat dies und das gemacht, Silke war so und so. Ich höre mir das immer an, sage dann auch etwas dazu. Aber eher in dem Sinn, dass sie miteinander sprechen sollen, dass sie versuchen sollen, sich nicht so reinzusteigern. Also ich beruhige das meistens eher.«
»Und wie ist das für Sie? Wie fühlen Sie sich damit?«
»Es ist mir eigentlich schon ziemlich unangenehm. Eigentlich nervt es mich. Ich habe immer das Gefühl: Ich bin doch eure Tochter! Warum zieht ihr mich da rein? Versucht doch selbst klarzukommen. Aber dann denke ich wieder: Was stellst du dich so an, Maike. Deine Eltern tun so viel für dich, und jetzt regst du dich auf, weil sie dir ihre Sorgen mitteilen. Vielleicht macht eine Tochter das einfach, ein offenes Ohr für die Eltern haben.«
»Vielleicht haben Sie auch Angst: Was würde passieren, wenn Sie nicht mehr zwischen Ihren Eltern vermitteln?«
»Die würden wahrscheinlich aufeinander einhacken bis zur Scheidung. Ich würde mir aber wünschen, dass sie mit jemand anderem als mir darüber sprechen, einem echten Paartherapeuten. Ich habe das schon öfter vorgeschlagen, aber das hat nichts bewirkt.«
In mir verfestigt sich der Eindruck, dass bestimmte Verschiebungen im Familiensystem ein Hintergrund von Maikes Schwierigkeiten sind. Ihr Bruder ist im letzten Jahr ausgezogen. Vielleicht hatte er bislang etwas zwischen den Eltern stabilisiert, allein durch den Umstand, dass noch ein Kind zu Hause wohnte. Mit seinem Auszug ist Maike in die Rolle der »Paartherapeutin« geraten, die versucht, die Eltern zusammenzuhalten. Diese Rolle ist ambivalent. Einerseits verleiht sie Maike eine besondere Stellung: Sie wird von ihren Eltern gebraucht und in die elterlichen Belange eingeweiht, hat dadurch eine bevorzugte Beziehung zu ihnen. Andererseits bedeutet ihre Rolle, dass sie sich nicht abgrenzen, nicht von den Eltern lösen darf. Maike fühlt sich verantwortlich für das Wohlergehen der elterlichen Ehe, dadurch bleibt sie in besonderer Weise an ihre Eltern gebunden. Vielleicht ist dies ein unbewusster Grund, warum gar kein »echter Paartherapeut«, das heißt eine Person außerhalb der Familie, vonseiten der Eltern erwünscht ist — denn so bleibt die Familie, wenngleich im Zeichen des Konfliktes, eng beieinander. Es ist eine Dynamik, die man durchaus als Parentifizierung bezeichnen kann, eine Umkehrung der Rollen zwischen Eltern und Kind. Als würden Maikes Eltern auf einer emotionalen Ebene zu Kindern und sie selbst zu einer elterlichen Figur, die sich um deren Bedürfnisse kümmert und fürsorgliche Aufgaben übernimmt, etwa, indem sie die unbewältigten Gefühle ihrer Eltern nach einem Streit aufnimmt und ihnen beim Verarbeiten hilft. Manchmal, erzählt Maike, sei ihre Mutter aufgelöst, müsse von Maike getröstet und auf andere Gedanken gebracht werden. Oder ihr Vater ist wütend, will ausziehen, woraufhin Maike auf ihn einreden müsse, damit er »einen klaren Kopf bekommt«. »Meine Eltern brauchen so viel«, sagt Maike in einer Stunde zu mir.
Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer es für Maike ist, das ihrem Alter Entsprechende zu tun: ihrer eigenen Wege gehen, sich von zu Hause lösen, ihren eigenen Vorstellungen Raum geben — und damit nicht mehr alle alltäglichen Erfahrungen mit den Eltern zu teilen. Das ist für jeden jungen Menschen ein heikler Prozess, weshalb die Spätadoleszenz auch eine herausfordernde Zeit ist, in der es zu sogenannten Ablösungskonflikten aus dem Elternhaus kommen kann. Eine Zeit auch, in der häufig psychische Krisen auftreten oder sich psychische Erkrankungen zum ersten Mal manifestieren. Zu jedem Ablösungsprozess gehört auch Trennungsschmerz — ein Schmerz, den Kinder selbst empfinden, den sie aber auch ihren Eltern zufügen müssen. Eine lang bestehende Gemeinschaft kommt an ihr Ende, das Kind steht zunehmend auf eigenen Beinen, die Beziehung verändert sich auf eine grundlegende Art und Weise. Dabei gibt es für Eltern und Kind natürlich auch etwas zu gewinnen, nämlich eine gereifte Beziehung zwischen Erwachsenen. Aber diese Entwicklung bedeutet immer auch einen Verlust: Kinder müssen das umsorgende Nest verlassen, Eltern die Rolle der Versorgenden aufgeben, mit all der emotionalen Bedeutung, die beides haben kann. Das Elternhaus ist nicht mehr der Lebensmittelpunkt der Kinder, sondern ein Ort, an dem die Kinder nur mehr Besucher und Gäste sind. Vielleicht gibt es nur wenige Momente, in denen das eigene Älterwerden so fühlbar wird.
Das ist wohl ein Prozess, der in kaum einer Familie völlig konfliktfrei verläuft. Besonders schwer — oder unmöglich — wird dieser Prozess aber, wenn Kinder das Gefühl haben, ihren Eltern nicht nur einen notwendigen, sondern einen eigentlich überfordernden Schmerz zuzufügen. Die Eltern können sich nicht von ihrer bisherigen Rolle lösen, weil diese Rolle eine eminente psychische Funktion für sie hat, zum Beispiel die elterliche Beziehung zusammenhält, den elterlichen Selbstwert oder das Gefühl schützt, eine Aufgabe im Leben zu haben. Manchmal haben die Eltern eigentlich selbst noch ganz jugendliche Wünsche an das Leben, dann fällt es ihnen schwer zurückzutreten, den Kindern das Feld zu überlassen, vielleicht sind sie sogar ein wenig neidisch auf ihre Kinder. Kinder spüren, wie es Eltern im Zuge dieser Loslösung geht, und versuchen, ihnen nicht wehzutun. Aber sie können ihren Eltern den Schmerz nie ganz ersparen, denn es gibt keine Loslösung, die nicht auch ein bisschen wehtut. Es macht jedoch einen großen Unterschied, wie verletzbar Kinder ihre Eltern an dieser Stelle erleben. Manchmal gelingt es dann nur schwer, diesen Schritt zu gehen. Junge Menschen trauen sich dann etwa nicht, eine Lebensmöglichkeit zu ergreifen, die ihren Eltern verwehrt war. Oft geht es dabei um die Angst, die Eltern damit zu verletzen, ihnen das Gefühl zu geben, sie zurückzulassen.
Eltern können es ihren Kindern leichter machen, indem sie ihnen hinaushelfen über die Schwelle des Elternhauses, sie gehen lassen, vielleicht sogar selbst ein wenig nach draußen schubsen, und sei es mit Tränen in den Augen. Über diese bildliche Schwelle, so habe ich das Gefühl, kommen Maike und ihre Eltern nicht hinweg. Maike erlebt die Situation vielleicht so, als müsse ihr Elternhaus zusammenbrechen, wenn sie ihre Rolle verlässt, nicht mehr »Paartherapeutin« ist. Das bedeutet aber, ihr eigenes Gefühl zurückzuhalten, ihre eigenen Wünsche nach Abgrenzung zu unterdrücken und sich auch psychisch weiterhin eng an die Familie zu binden. Ist dies der unbewusste Grund ihres Schuldgefühls, das ihr verbietet, generell ihren eigenen Willen zu behaupten? Da sich Maikes Schuldhemmung nicht nur gegenüber ihren Eltern, sondern in allen möglichen Situationen wiederholt, verfestigt sich in mir die Annahme, dass diese Dynamik nicht erst mit dem Auszug von zu Hause begonnen, ihre Diplomatenrolle in der Familie vielmehr schon eine längere Vorgeschichte hat. Es ist, als stecken in jeder Person, der sie begegnet, unsichtbare Eltern, von denen sie sich nicht abgrenzen darf — als wäre dieses Bild der Eltern auf die Brille graviert, durch die Maike auf die Welt schaut, ein inneres Modell von Bindung, das sie in allen möglichen Beziehungen erwartet.
Über die ersten Monate unserer gemeinsamen Arbeit hinweg schildert Maike immer wieder Situationen, in denen sie genervt ist, sich aber nicht traut, etwas zu sagen, und darüber immer wieder in eine Rolle gerät, in der sie eigentlich nicht sein will. Verwirrend ist dabei, dass Maike einerseits elterliche Funktionen übernimmt, andererseits von ihren Eltern gerade in ihrer Rolle als Kind gebraucht wird. Maike bietet sich ihnen auch von selbst immer wieder in dieser Rolle an, versucht genau die zu sein, von der sie glaubt, dass sie ihre Eltern zufrieden macht: immer noch die kleine Maike, die Hilfe braucht. So bindet sie ihre Eltern nach wie vor in nahezu alle Entscheidungen ein, macht sich damit unselbstständiger, als sie eigentlich ist.
»Aus Schuldgefühl«, sagt Maike. »Manchmal frage ich meine Eltern bei Sachen um Rat, die ich eigentlich selbst weiß. Aber ich habe das Gefühl, ich darf das nicht ohne sie entscheiden, als würde ich ihnen sonst etwas vorenthalten. Nicht so, dass sie mir Sachen verbieten würden, aber irgendwie, als wäre es trotzdem wichtig, dass ich mich vorher mit ihnen austausche. Sie geben sich dann total Mühe, recherchieren, besprechen sich untereinander. Und dann kann ich mich davon nicht mehr abgrenzen, weil sie sich doch so viel Mühe gegeben haben; nicht zu machen, was sie vorgeschlagen haben, ist dann, als wollte ich ihnen sagen: Eure ganze Mühe ist mir egal. Das ist total bescheuert, ich glaube, wenn meine Eltern das wüssten, die würden das gar nicht so wollen.«
»Dann müssen Sie es ihnen vielleicht sagen.«
Doch das traut sich Maike noch nicht. Sie schildert viele Situationen, in denen eine Art Familienalltag hergestellt wird, der so tut, als wäre Maike noch gar nicht von zu Hause ausgezogen. Ihre Eltern planen sie etwa wie selbstverständlich in Freizeitaktivitäten am Wochenende oder Urlaube ein. Maike fügt sich. Ihr Bruder, der sich lange Zeit nur schwer von zu Hause lösen konnte, entzieht sich diesen Aktivitäten hingegen, meldet sich wochenlang gar nicht bei der Familie, scheint sich nur durch totale Funkstille abgrenzen zu können. Aber das macht es für Maike nur umso schwerer, nun ihrerseits eine Grenze zu ziehen. Natürlich gibt es in der Frage, wie Familien ihr Zusammenleben gestalten wollen, kein Richtig oder Falsch. In Maikes Fall entsteht das Leidvolle da, wo sie eigentlich andere Vorstellungen hat — vielleicht würde sie ihr Wochenende lieber einmal in ihrer Unistadt verbringen, Urlaube mit ihren Freunden machen statt mit ihren Eltern —, aber das kann sie nicht äußern. Vielleicht, denke ich, geht es ja auch den Eltern selbst so, finden auch sie keinen anderen Weg, die Bindung zu Maike zu halten, als den Umstand auszublenden, dass sie eine erwachsene Frau ist, die nicht mehr zu Hause lebt.
In vielen psychoanalytischen Therapien geht es darum, Patienten einen tief liegenden Konflikt aus ihrer Vergangenheit im geschützten Rahmen des Therapieraums wiedererleben zu lassen, um überhaupt an die sogenannte Grundstörung heranzukommen, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen oder die Fährte des verlorenen Selbst aufzunehmen. Maike wiederum hat durchaus ausreichend gute Beziehungserfahrungen in ihrer Familie gemacht und ein stabiles Fundament für ihre Persönlichkeit entwickelt. Deshalb geht es in ihrer Therapie weniger darum, die Vergangenheit zu bearbeiten, als vielmehr ihr erwachsenes Ich zu stärken und sie zu ermutigen, sich aus den Schlingen des Schuldgefühls zu befreien.
Maike erzählt in den Stunden meist über alltägliche Situationen, wobei ich sie immer wieder darauf aufmerksam mache, wenn sie sich in jene Kinderrolle begibt, auch dann, wenn es gar nicht um ihre Eltern geht. Das ganze Studium scheint sie auf diese Weise zu erleben: als etwas, das gar nicht ihr eigenes ist, sondern in dem sie Vorgaben von anderen erfüllen muss. Die Hochschule ist kein Raum, den sie mit ihrer Neugier füllen kann und ihrem Wunsch, zu lernen, sondern einer, der von bedrückender Enge ist, gefüllt von den Ansprüchen der Dozenten, Professoren und Kommilitonen.
Auch die Therapie erlebt sie zunächst als einen solchen Raum. Es ist wichtig für Maike, hier frei sprechen zu können, gerade nicht ein Programm absolvieren zu müssen, das ich ihr vorgebe. Auch achte ich in dieser Behandlung in besonderer Weise auf die therapeutische Abstinenz, halte mich also mit meinen eigenen Ansichten und Meinungen zurück. Dies gerade, weil Maike schnell bereit ist, ihren Raum anderen zu überlassen. Trotz meiner Zurückhaltung versucht Maike immer wieder zu erspüren, was ich zu bestimmten Fragen denke, um sich dann meinen vermeintlichen Vorstellungen anzupassen. Wenn sie das Gefühl hat, ich könnte einen ihrer Gedanken für »doof« halten, äußert sie ihn gar nicht oder wandelt ihn so sehr um, dass er kompatibel mit meinen scheinbaren Überzeugungen ist. In solchen Situationen begegnet mir dann gar nicht wirklich Maike, wie sie ist, sondern Maike, wie sie glaubt, dass ich sie gerne hätte. Darin liegt durchaus auch etwas Verführerisches, gerade, weil Maike ein gutes Gespür für ihr Gegenüber hat. Maike gibt mir in den Stunden öfter das angenehme Gefühl, mit meinen Vermutungen richtigzuliegen, mit ihr in harmonischem Einklang zu sein. Obwohl sie vielleicht in Wahrheit etwas anderes denkt. Sie neigt dazu, Fortschritte meinem therapeutischen Handeln zuzuschreiben, während sie Rückschläge auf ihre eigene Rechnung nimmt. Ihre Selbstanklage ist also auch eine Weise, ihr Gegenüber, mich, zu schonen, frei von Kritik zu halten. Es ist, als würde sie versuchen, sich unserer Bindung immer wieder dadurch zu versichern, dass sie mir ein gutes Gefühl gibt; während eine mögliche Meinungsverschiedenheit zwischen uns für sie wohl sehr beängstigend ist. Mir scheint, Maike hat diesen Modus der Beziehungsgestaltung so sehr verinnerlicht, dass sie es gar nicht bemerkt. Sie passt sich mir in gewisser Hinsicht nicht nur äußerlich mit ihren Worten an, sondern bereits mit ihren Gedanken. Deshalb nimmt ihr die Beziehung mit einem anderen auch den inneren Raum, macht es ihr beinahe unmöglich, zu erspüren, was ihr Eigenes ist. Gerade, wenn ich ein Gefühl von allzu großer Einstimmigkeit habe, muss ich also besonders aufmerksam sein, Maike nicht unabsichtlich zu vereinnahmen.
Es ist nicht verwunderlich, dass sich Maikes Beziehungsmuster auch in unserer therapeutischen Beziehung wiederholen — wir alle tragen unsere Beziehungserwartungen erst einmal in jede neue Beziehung hinein. Der Altersunterschied zwischen Maike und mir, ich könnte ihre Mutter sein, fördert zusätzlich in Maike eine sogenannte Elternübertragung, also die Neigung, mich in einer Weise zu erleben, wie sie ihre Eltern erlebt. Dem entspricht eine Eltern-Gegenübertragung auf meiner Seite: Ich fühle mich immer wieder so wie vielleicht ihre Eltern es tun und will auf eine ähnliche Weise reagieren. Spürbar wird diese Dynamik etwa auch darin, dass Maike oft das Gefühl hat, mir mit ihren Problemen etwas zuzumuten, mich zu belasten. Sie befürchtet, ich bin genervt von ihren »immer gleichen Studentensorgen« und denke bestimmt: Soll die doch endlich mal aufhören zu jammern und was an der Situation ändern, wenn sie unzufrieden ist.
Ich sage: »Wenn das so einfach wäre, dann wären Sie wahrscheinlich nicht hier«, worauf Maike traurig nickt.
Der Fortschritt in einer Psychotherapie vollzieht sich oftmals entlang scheinbar unbedeutender Details, ereignet sich meist eher am Wegesrand als auf der Hauptstraße der großen Lebensthemen. Doch in ebenjenen Details hält sich bekanntlich ja oft der entscheidende Widersacher verborgen. Einmal fällt unsere wöchentliche Sitzung auf den gleichen Tag wie die Einladung zu einem Junggesellinnenabschied von Maikes alter Schulfreundin. Die Bitte, unseren gemeinsamen Termin abzusagen oder zu verlegen, bringt Maike nicht über die Lippen. Schließlich ruft sie mich an besagtem Tag, kurz vor unserer Sitzung, an und sagt die Therapiestunde mit offensichtlicher Zerknirschung ab. Das ärgert mich nun wirklich — und für Maike bedeutet es, dass sie ein Ausfallhonorar zahlen muss, denn innerhalb so kurzer Zeit kann ich die Stunde nicht anderweitig belegen. Ein Missgeschick, das sicherlich vorkommen kann und nicht weiter schlimm ist — in diesem Fall aber gibt Maikes Verhalten doch einen Einblick in die inneren Dilemmata, in die sie sich immer wieder bringt. Aus Angst, wie sie sagt, dass ich ärgerlich auf sie werden könnte, habe sie sich nicht getraut, die Sitzung abzusagen, obwohl sie von Anfang an gerne zur Feier ihrer Freundin gehen wollte: »Ich wollte nicht, dass es so rüberkommt, dass mir ein Junggesellinnenabschied wichtiger ist als die Therapie.« Die kurzfristige Absage führt nun dazu, dass Maike selbst den Tribut entrichten muss, in Form eines Ausfallhonorars. Dieses ist letztlich nur eine Variante der überteuerten Miete, die sie metaphorisch — oder wörtlich — in vielen Lebenssituationen immer wieder zahlt.
Die Besonderheit einer therapeutischen Beziehung ist, dass man sich solcher Dynamiken bewusst werden und sie im sogenannten Hier und Jetzt aufgreifen kann. Wir sprechen darüber, was gerade zwischen ihr und mir geschieht. Das unterscheidet ein therapeutisches Gespräch von den Beziehungen im Alltag, in denen sich solche Dynamiken oft unreflektiert wiederholen. Das würde geschehen, wenn ich, psychoanalytisch ausgedrückt, meine Gegenübertragung »agierte«, mich also von meinen Gefühlen unreflektiert zu einer Handlung treiben ließe. Etwa in der Weise, dass ich Maike ins Gewissen rede, ihr Schuldgefühl verstärke. Oder aber, indem ich versuche, ihr das Schuldgefühl abzunehmen, etwa auf das eigentlich vertraglich vereinbarte Ausfallhonorar verzichte, Maike beschwichtige, als wäre an der Situation eigentlich gar nichts Ärgerliches. Das würde Maikes Gewissen zunächst entlasten, ihr aber auch die Verantwortung auf eine subtile Weise entziehen. Auch das würde nicht nur jenen Zirkel der Unselbstständigkeit verstärken, sondern auch die Gelegenheit versäumen, den eigentlich zugrunde liegenden Konflikt zum Gegenstand der Therapie zu machen. Eine psychoanalytische Herangehensweise liegt darin, weder zu verurteilen noch zu beschwichtigen, sondern zu versuchen, das Geschehen in Worte zu fassen, Maike zu helfen, sich einer bestimmten Dynamik bewusst zu werden und sie besser zu verstehen.
Ich sage: »Ausgangspunkt war Ihr Gefühl, Sie könnten mir nicht zumuten, die Stunde abzusagen. Als würden Sie mich mit dieser Absage kränken, mir damit sagen, dass ich nicht wichtig für Sie bin. Ich glaube, in diesem Moment haben Sie mich erlebt wie Ihre Eltern. Gleichzeitig haben Sie sich nicht getraut, zu dem zu stehen, was Sie eigentlich möchten. So geht es Ihnen immer wieder, in ganz verschiedenen Situationen.«
Maike: »Das Bescheuerte ist: Eigentlich war ich mir ziemlich sicher, dass Sie Verständnis für meine Situation gehabt hätten, mir das gar nicht genommen hätten. Aber in dem Moment, als ich es Ihnen sagen wollte, da fühlte es sich trotzdem ganz anders an!«
Man kann in einer Therapie vieles durchdenken und besprechen, aber bis etwas, in diesem Bild gesprochen, »vom Kopf in den Bauch« wandert, dauert es seine Zeit. Wiederholt arbeiten wir an solchen Situationen, die sich in der Therapie, aber auch in Maikes Alltag ereignen. Auch, wenn es dabei immer wieder um ihre konkrete Situation geht, um die täglichen Gespräche und Wochenendgestaltung mit den Eltern, so ist es mir doch wichtig, dass es letztlich nicht nur um die äußeren, sondern auch um die inneren Eltern geht. Die trägt Maike in jeder Lebenssituation mit sich, auch, wenn sie gerade nicht mit ihren Eltern telefoniert oder etwas mit ihnen unternimmt. Jede Abgrenzungsbewegung stößt auf diese inneren, unsichtbaren Eltern, und jedes Mal tut sie ihnen weh, wofür sie sich dann schuldig fühlt.
Je mehr Maike sich dieses Umstands bewusst wird und merkt, wie sehr sie selbst dabei untergeht, desto verzweifelter scheint sie mir, ohne Idee, wie sie sich aus diesem Teufelskreis befreien kann. Dieses Ohnmachtsgefühl betrifft vor allem auch ihr Studium, zu dem sie sich, auch bald ein halbes Jahr nach Beginn der Therapie, nicht aufraffen kann.
»Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich studiere«, sagt Maike in einer Sitzung. »Wenn ich ehrlich bin, mag ich mein Studium gar nicht. Ich glaube, ich will eigentlich gar keine Lehrerin werden! Vielleicht will ich nicht einmal studieren, sondern etwas ganz anderes machen. Aber was? Ach, keine Ahnung! Ich wollte eigentlich immer erst einmal reisen, irgendwohin, wo ich niemanden kenne, vielleicht nach Indien. Einfach mal nur von heute auf morgen leben und mich treiben lassen. Das hatte ich fest vor nach meinem Abitur. Aber irgendwie dachte ich dann: Wer weiß, ob du dann den Studienplatz bekommst, fang doch erst einmal an. Du kannst dann ja noch über ein Austauschprogramm ein Jahr ins Ausland gehen.« Maike erzählt, dass nach einem Jahr Studium die Corona-Zeit begonnen habe, mit all den Lockdowns und Beschränkungen. Statt ins Ausland zu gehen, sei sie dann beinahe ein Jahr lang wieder zu ihren Eltern gezogen, die Vorlesungen hätten ohnehin fast ausschließlich online stattgefunden.
Dieser Umstand scheint mir bedeutsam. Auch wenn Maike mittlerweile wieder in ihrer Studienstadt lebt, schickten die Coronamaßnahmen sie wie eine Art äußeres Schicksal für eine bestimmte Zeit zurück ins Elternnest. Der Ablösungsprozess, der Maike ohnehin schwerfällt, wurde hierdurch vielleicht noch einmal verkompliziert. Ein Jahr lang war es nur mit erheblichen Einschränkungen möglich für sie, ein wirkliches Studentenleben zu führen. Die Welt wurde nicht nur in Maikes Erleben, sondern in einem ganz realen Sinne »eng«.
Maike: »Wenn ich jetzt so über diese Zeit nachdenke, macht mich das richtig wütend. Wütend, dass es gerade meine Generation und mich getroffen hat. Und ich irgendwie ein Jahr meines Lebens verloren habe. Aber was mich noch wütender macht: Jetzt, wo ich könnte, bekomme ich es immer noch nicht hin. Ich hab das Gefühl, alle anderen genießen ihr Leben, so nach dem Motto: Die Studentenzeit ist die schönste Zeit. Und ich bin einfach immer unzufrieden und komme nicht aus dem Quark.« Maike berührt mich mit ihren Worten. Für junge Menschen bedeutete die Corona-Zeit wohl vor allem, dass ihnen Fesseln angelegt wurden, und das in einem Lebensabschnitt, in dem es doch eigentlich so wichtig ist, freizukommen. Aber ist nicht jede Art von psychischem Leiden letztlich das: Fesseln, die einem Menschen angelegt sind, Lebenszeit, die in einem mühsamen Ringen verloren geht? Ich glaube, dass ihre Ablösungsschwierigkeiten letztlich nicht durch die Corona-Zeit entstanden sind, sondern durch diese nur verstärkt wurden. Jetzt zumindest wohnt Maike ja wieder in der Studienstadt, könnte ein freieres Leben führen, aber sie fährt dennoch an jedem Wochenende zu ihren Eltern, kommt tatsächlich auch dann nicht »aus dem Quark«, wenn die äußeren Begebenheiten stimmen.
In der zweiten Hälfte unseres ersten Therapiejahres entwickelt sich etwas Neues. Maike berichtet nicht nur von akuten Problemen, sondern bringt ein wirklich eigenes Interesse in die Sitzungen. Ausgangspunkt ist eine Vorlesung in ihrem Biologiestudium, in der es um das Artensterben infolge des Klimawandels geht. Zum ersten Mal schildert sie eine Vorlesung nicht als ein Aufschichten von Prüfungsstoff, sondern als etwas, das sie wirklich angeht. Sie kommt empört in die Stunde, formuliert das, was sie gehört hat, beinahe wie einen Vorwurf gegen mich, als Stellvertreterin der Elterngeneration: Das macht ihr mit unserer Welt!
Bereits in der Schule habe sie sich für die verschiedenen Klimabewegungen interessiert, die zu dieser Zeit erst im Entstehen waren. Erdkunde, Gemeinschaftskunde und Ethik habe sie eigentlich immer gemocht, und an diese Themengebiete hätte die Vorlesung angeschlossen. Sie habe schon länger darüber nachgedacht, sich in der Bewegung zu engagieren, aber sich »irgendwie nicht getraut«. Besonders die Aktivistinnen an vorderster Front schüchterten sie ein: »Wie toll die reden können!« Sie habe dann jede Woche aufs Neue gedacht: »Wenn ich besser vorbereitet bin, dann mache ich mit, ich muss mich vorher nur noch besser informieren und ein paar Bücher lesen.« Wirklich etwas gelesen habe sie aber nie, auch das habe sie aufgeschoben.
Eine Mitstudierende, die Maike wegen ihres Engagements für die Klimabewegung sehr bewundert, lädt sie nach besagter Biologievorlesung ein, mit ihrer Gruppe an einer größeren Demonstration teilzunehmen. Maike geht mit. Es gefällt ihr und beim Erzählen wirkt sie auf einmal lebendig: die Energie, die rhythmische Musik, die gemeinsam deklamierten Demosprüche, das Gefühl, alle vereint ein Ziel. Sie habe interessante Menschen kennengelernt. Nach der Demo habe sich die Gruppe der Kommilitonin noch getroffen und diskutiert. Als Maike nach ihrer Meinung gefragt wurde, wollte sie etwas sagen, habe sich aber auf einmal »ganz klein und dumm« gefühlt, nur »Schwachsinn gelabert«. »Das war so ein Moment, bei dem ich mich früher zurückgezogen hätte, gedacht hätte: Überlass das lieber Leuten, die davon Ahnung haben.«
Ich: »Erwachsenen. Während Sie sich wie ein Kind fühlen.«
Maike: »Ja, aber ich habe mich dann an unsere Stunden hier erinnert. Dass das wieder so eine Situation ist, in der ich mich selbst sabotiere, mich selbst kleinrede und nicht zu mir stehe. Und ich dachte irgendwie: Ich will das jetzt aber! Mir ist das wichtig. Ich lasse mir das nicht nehmen von meinem inneren Saboteur. Wenn ich keine Ahnung habe, dann lerne ich durch solche Diskussionen jetzt halt etwas. So in die Richtung gingen meine Gedanken. Und damit ging es mir wirklich besser, also irgendwie konnte ich mir das verzeihen, dass ich nicht so schlagfertig war.«
Tatsächlich beschäftigt Maike sich weiter mit der Klimathematik, besucht auch über ihr Studium hinaus Veranstaltungen, trifft sich mit der Gruppe. Je mehr Maike sich in die Fragen der Klimakrise vertieft, desto wütender kommt sie auch in unsere Stunden. Es ist eine Wut über die zerstörte Welt, die ihrer Generation hinterlassen wird, die »Tatenlosigkeit der Politik«, die »Ignoranz der Entscheidungsträger« und über das »Versagen der älteren Generation«. Zum ersten Mal höre ich in unseren Stunden Maikes Stimme in ihrem vollen Klang, von einem starken Gefühl bewegt, dann wieder von Wut fast erstickt, wenn sie sagt: »Ich fühle mich so ohnmächtig! Man nimmt uns unsere Zukunft, aber wir können nichts dagegen tun!« Maike schwankt zwischen einer Art Aufbruchsstimmung und Ohnmachtsgefühlen, Fatalismus und dem Wunsch, sich zu engagieren, ihre Stimme zu erheben — man könnte vielleicht auch sagen: zwischen einem Moment von Resignation und einer erwachenden Aktivität. Ich will Maikes Klimaengagement nicht zu sehr psychologisieren, etwa durch ihren ungelösten »Elternkonflikt« erklären, denn ihre Wut hat ja einen ganz realen Gegenstand: die Klimakrise. Dennoch denke ich, dass sich in ihre Auseinandersetzung mit Klimafragen auch eine unbewusste persönliche Dimension einwebt. Die Wut auf die »Elterngeneration« geht bei Maike vielleicht Hand in Hand mit der Wut auf ihre Eltern, die die Zukunft mit »ihrem ganzen Müll« besetzt halten: ungelösten Konflikten, in deren Schlingen auch Maike verfangen ist, ihr auch in einem emotionalen Sinne »die Luft zum Atmen nehmen«. Sicherlich lässt sich sagen, dass Maike über ihr Engagement in der Klimabewegung die Sphäre der familiären Welt verlässt, sich in gewisser Hinsicht gedanklich von zu Hause löst, ihren Blick auf anderes richtet. Sie interessiert sich für Politik und für Fragen, die im wahrsten Sinne des Wortes die ganze Erde betreffen, nicht mehr nur die Wochenendgestaltung mit den Eltern.
Es wird immer mehr spürbar, wie Maike versucht, sich abzugrenzen, bei sich zu bleiben, was ja auch bedeutet: in bestimmten Situationen ihren Willen zu zeigen. Es zeigt sich aber auch, wie schwer ihr das immer noch fällt. Einmal kommt sie gequält in die Sitzung. Ihre Mitbewohnerin habe ihr gerade eine Nachricht geschrieben, um sich in der Boulderhalle zu verabreden. Maike weiß nicht, was sie tun soll. Eigentlich wollte sie zu einem Vortrag in einer Veranstaltungsreihe zum Klima in den verschiedenen Stadien der Erdgeschichte gehen, von der sie weiß, dass er die Freundin nicht interessiert. Dort würde sie auch einige Leute aus der Klimagruppe treffen. Eigentlich weiß sie, dass sie lieber zur Veranstaltung gehen will, andererseits hat sie das Gefühl, ihrer Mitbewohnerin nicht absagen zu können — diese habe eh schon etwas die Nase gerümpft über Maikes Engagement. »Also die ist schon für Klimaschutz, aber diese ganze Klimabewegung hält sie für übertrieben. Wir haben da schon einmal beim Abendessen darüber diskutiert, aber das hat sie eher gelangweilt. Ich mag sie wirklich gerne, aber irgendwie ist mir die Vortragsreihe gerade wichtiger.«
Ich: »Dann wissen Sie ja, was Sie heute Nachmittag machen wollen. Und jetzt geht es um die Frage: können Sie das Ihrer Mitbewohnerin auch sagen?«
Maike: »Ja, Sie haben recht. Ach, warum fällt mir das nur immer so schwer? Ich habe das Gefühl, in solchen Situationen bin ich wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken gelandet ist und die irgendjemand umdrehen muss, sonst kann ich nur mit den Füßen wedeln. Aber ja … ich werde mich wohl überwinden müssen.«
In die nächste Sitzung kommt Maike in verärgerter Stimmung. Tatsächlich hat sie sich schließlich überwunden, ihrer Mitbewohnerin abzusagen. Doch daraufhin habe diese begonnen, auf sie einzureden, und versucht, ihr den Vortrag »schlechtzumachen«. Am Ende habe Maike sich breitschlagen lassen und sei mit zum Bouldern gefahren, obwohl sie das eigentlich nicht wollte. Sie sei dann die ganze Zeit unzufrieden und ungeduldig gewesen, habe danach sogar versucht, doch noch zum Vortrag zu gehen. Aber dann war es natürlich viel zu spät.
»Was für ein verschwendeter Tag«, sagt Maike, »und wieder einmal habe ich mich überrollen lassen!«
In Maikes Worten schwingen für mich nicht nur Schuldgefühle und Selbstvorwürfe mit, sondern noch etwas anderes.
»Ich habe das Gefühl, Sie ärgern sich auch ziemlich«, sage ich.
Maike sieht auf und sagt, ungewöhnlich heftig: »Ja! Ich konnte gestern Nacht gar nicht schlafen, so sehr hat mich das aufgewühlt. Das hat mich so frustriert. Weil mir auf einmal klar wurde, was ich alles zulasse, was für einen Anspruch andere auf mich erheben können. Es reicht mir jetzt mal! Ich darf doch schließlich meine Zeit nutzen, wie ich es will.«
In der darauffolgenden Woche geht Maike zum nächsten Vortrag der Reihe, ohne sich von etwas anderem abbringen zu lassen. Maike streckt langsam die Fühler aus, verlässt den Bereich familiärer oder familienartiger Gemeinschaften. Sie sucht das Neue: geht aus, trifft sich mit Freunden, in Kneipen oder fremden WGs, wo musiziert und diskutiert wird. Sie richtet sich aber auch Zeiten ein, die sie für sich alleine hat: Sie macht lange Spaziergänge im Wald, nimmt das Tagebuchschreiben wieder auf, und vor allem beginnt sie zu lesen: Maike liest und liest und liest. Meistens Texte, Bücher und Artikel, die um die Klimakrise kreisen oder um politische Fragen, aber auch Belletristik, Poesie. Einmal sagt sie: »Seltsam, irgendwie konnte ich das sonst nie. Ich habe immer nur Sachen gelesen, wenn ich sie lesen musste.«
»Wenn Sie einen Auftrag von jemand anderem dazu bekommen haben. Vielleicht können Sie jetzt erst dazu stehen, auch vor sich selbst: dass Sie etwas lesen, weil Sie es wollen, weil es Ihr Interesse ist.«
»Ich konnte mich nie lang genug konzentrieren — wenn ich mich überhaupt einmal dazu aufraffen konnte und nicht schon lange vorher im Internet kleben geblieben bin. Jetzt geht das irgendwie, ich habe schon fast ein Verlangen danach.«
Es stellt sich heraus, dass Maike mit dem Lesen eine Art »Akt der inneren Rebellion« verbindet. Nicht nur, weil sie sich bildet und sich ihres »eigenen Verstandes« bedient; sondern vor allem, »weil es etwas ist, das man alleine tut, weil: Beim Lesen entsteht ja etwas, das ich nur in meinem Kopf habe, nur für mich«.
Auch hier gibt es immer wieder einmal Konflikte mit ihren Mitbewohnerinnen, die sich von Maikes seit Neuestem immer öfter geschlossenen Tür zurückgewiesen fühlen. Auch gegenüber den Eltern beginnt Maike sich mehr abzugrenzen. Doch diese reagieren völlig anders als die Mitbewohnerinnen — nämlich gar nicht. Maike fährt seltener nach Hause, verbringt öfter mal ein Wochenende einfach so in ihrer Studienstadt, auch wenn sie nichts Besonderes vorhat. Zuvor war sie wann immer möglich »nach Hause« gefahren. Die Eltern scheinen ihr Fernbleiben kaum zu bemerken. Maike weiß nicht, ob sie den Abgrenzungswunsch, der sich darin andeutet, stillschweigend akzeptieren, »es okay finden, dass ich die Wochenenden für mich verbringen will«, oder ob sie »das einfach ausblenden«.
Für Letzteres spricht, dass die Eltern Maike in Aktivitäten und Familientreffen wie eh und je einplanen, wie selbstverständlich davon auszugehen scheinen, dass Maike daran teilnimmt — was sie zunehmend nervt. So kommt es einmal, dass Maike erst bei einem Telefonat erfährt, dass die Eltern sie für einen bereits gebuchten gemeinsamen Wanderausflug für das kommende Wochenende eingeplant haben. Maike reagiert verärgert, schafft es dieses Mal auch zu sagen, dass sie nicht mitmöchte. Die Eltern scheinen Maike zunächst nicht verstehen zu wollen: »Okay, das heißt, du kommst dann etwas später nach?« Als Maike mit einer, wie sie mir sagt, vor lauter Aufregung zittrigen Stimme darauf beharrt, dass sie etwas anderes vorhat, kommt es zum Konflikt. Die Eltern fühlen sich »völlig überfahren« und reagieren ebenfalls verärgert: »Das haben wir doch letztes Wochenende besprochen und jetzt schon alles gebucht!« Maike: »Letztes Wochenende war ich doch gar nicht zu Besuch, woher soll ich davon wissen?! Wir haben doch gar nicht darüber gesprochen.« Die Eltern lenken überraschend ein, stimmen ihr zu, meinen, das müssten sie irgendwie »durcheinandergebracht« haben. Danach ist wieder alles, als wäre nichts gewesen. Maike fühlt sich nach diesem Telefonat, in dem sie ein wenig Zähne gezeigt hat, alles andere als erleichtert. Stattdessen wird sie wieder von Schuldgefühlen geplagt. Sie gerät in Grübelschleifen, fragt sich immer wieder, ob sie ihre Eltern auf eine tiefgreifende Weise verletzt haben könnte. Erst in unseren gemeinsamen Stunden gelingt es, diesen Knoten zu lösen.
Ich sage: »Sie fühlen sich so schuldig, weil Sie zu einem Angebot Ihrer Eltern ›Nein‹ gesagt haben. Es fühlt sich für Sie an, als hätten Sie zu Ihren Eltern als Ganzes ›Nein‹ gesagt — aber eigentlich haben Sie doch einen berechtigten Punkt angesprochen: dass Ihre Eltern Sie wie eine erwachsene Person behandeln sollen, die man nicht einfach wie ein kleines Kind ungefragt zu Ausflügen mitnimmt.«
»So ist das immer! Das nervt mich so!«, sagt Maike, nun wieder ärgerlich.
Mein Anliegen ist es nicht, Maikes Eltern zu verurteilen oder in ihnen die alleinig Schuldigen auszumachen. Es ist jedoch wichtig, dass zwischen Maike und ihren Eltern auch einmal Differenzen entstehen können, Konflikte ausgetragen werden. Dabei ist gerade die Erfahrung wichtig, dass ein Konflikt nicht den Bruch der Beziehung ankündigt, sondern eher von deren Reife zeugt: Maike und ihre Eltern teilen nicht ein gemeinsames Familien-Ich, sondern sind erwachsene Personen, die unterschiedliche Interessen haben können und ihr eigenes Leben führen. Ich glaube, Maikes Eltern versuchen zumindest unbewusst, diese Tatsache von sich fernzuhalten. Maikes Abgrenzungsversuche zu ignorieren ist eine Variante, sich dem Konflikt gerade nicht zu stellen, sondern so zu tun, als hätte sich gar nichts verändert. Vielleicht muss Maike den Konflikt deshalb auch geradewegs suchen, damit auch ein Stück Pubertät nachholen. Ein schroffes Zurückweisen der Eltern ist für viele Jugendliche etwas Notwendiges, um sich aus der engen und intensiven Bindung der Kindheit zu lösen, ihren eigenen Raum zu behaupten, ihr eigenes Ich zu finden. Das trotzige »Dagegen« zeigt an, dass man noch auf der Suche ist: »Ich weiß nicht, wer ich bin — aber auf jeden Fall bin ich nicht wie du!«
Maike wird ihren Eltern gegenüber in der nächsten Zeit tatsächlich zunehmend ablehnend, wenngleich in einer eher passiv-rückzügigen Weise. Sie weicht dem Kontakt meist aus, meldet sich seltener oder ruft nicht zurück. Warum, das kann sie ihren Eltern nicht sagen, denn sie findet selbst kaum Worte dafür. Als Maike ihren Eltern von ihrem Engagement in der Klimagruppe erzählt, reagieren diese mit Offenheit und Interesse. Als sie das nächste Mal telefonieren, haben sich die Eltern bereits ein Buch zu dem Thema gekauft, berichten Maike von ihren Erkenntnissen. In ihrer Heimatstadt gebe es auch eine Klimagruppe, ob Maike nicht mal dorthin wolle, wenn sie das nächste Mal da sei. Maike freut sich keineswegs über diese Einladung. Am Telefon entgegnet sie ausweichend: »Wahrscheinlich habe ich gar keine Zeit. Ich muss lernen.«
In unserer Sitzung aber ist Maike richtig wütend: »Das regt mich so auf, dass meine Eltern nun auch anfangen, sich damit zu beschäftigen! Das hat sie vorher noch nie interessiert!« Es entsteht eine Pause, nach der sie wieder etwas ruhiger wirkt, das Pendel ihres inneren Konflikts vom Abgrenzungswunsch wieder zum Schuldgefühl schwingt. »Ich weiß gar nicht, warum mich das so aufregt. Eigentlich ist es ja gut, wenn bei denen etwas Bewusstsein für das Klima entsteht.«
Ich denke, Maike erlebt das scheinbar freundliche Angebot ihrer Eltern wie den Versuch, ihr Engagement in der Klimabewegung wieder in die Familie einzugemeinden, zu einem Teil der Beziehung zwischen Maike und ihren Eltern zu machen. Dabei war es offenbar gerade befreiend für Maike, dass dieses Thema ein Bereich ist, den sie für sich hat, etwas, das gerade keine gemeinsame Familienunternehmung ist. Ich teile Maike meine Gedanken mit: »Und deshalb werden Sie so wütend, weil Sie das Gefühl haben, Ihre Grenzziehung wird schon wieder infrage gestellt.« Vor der Therapie hätte Maike sich in so einer Situation vielleicht zurückgezogen und ihr Interesse preisgegeben. Als müsste sie alles hergeben, worauf ein anderer deutet. Jetzt versucht Maike mehr, ihr Eigenes zu behaupten, wird sich dieser Dynamik überhaupt erst bewusst. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich von den Fesseln des Schuldgefühls bereits befreit hätte.
Maike: »Genauso fühlt sich das an, ich darf nichts für mich haben. Aber wie Sie das sagen, geht es schon wieder los, dass mir meine Eltern auch leidtun. Eigentlich wollen sie ja nur Kontakt mit mir, an meinem Leben teilhaben. Dann hab ich wieder das Gefühl: Was bist du für eine undankbare Tochter.«
Tatsächlich entsteht auch bei mir dieser Eindruck: Je mehr Maike sich abgrenzt, desto eher scheinen die Eltern wie Kinder, die verstoßen worden sind. Als wären ihre Eltern angewiesen auf die tägliche Verbundenheit mit Maike, als könnten sie sich nur so Gefühlen der Verlassenheit und Einsamkeit erwehren — zumindest erscheinen sie in Maikes Schilderungen so. Maike hat den Eindruck, als würden ihre Eltern um ihre Zuwendung werben und Maike dadurch nur umso mehr in eine Rolle geraten, in der sie nur noch durch grobe Zurückweisung etwas Distanz zu ihren Eltern schaffen kann. Doch das bereitet ihr solch ein Schuldgefühl, dass sie lieber ausweicht, Ausreden ersinnt, sich zurückzieht. Das wiederum verunsichert ihre Eltern, und sie drängen umso mehr auf Kontakt.
Eine ganze Weile verbringt Maike die Stunden beinahe schimpfend, schildert immer wieder Szenen, in denen ihre Eltern etwas machen, das sie stört. Von ihren Eltern scheint in dieser Zeit fast nur Schlechtes zu kommen. Zumindest gelingt es Maike, ihren Eltern zu sagen, dass sie nicht mehr in ihre Ehekonflikte einbezogen werden will. Ihre Eltern scheinen das zu akzeptieren: »Sag uns einfach, wenn es zu viel ist, dann erzählen wir nicht weiter.« Abermals liegt darin aber ein Moment von Parentifizierung, einer Umkehrung der Rollen. Denn eigentlich müssten die Eltern ja selbst ein Gespür dafür entwickeln, wo sie Maikes Grenzen überschreiten, nicht ihr die Verantwortung zuschieben, diese Grenze immer wieder neu herzustellen, also auch immer wieder ihr Schuldgefühl überwinden zu müssen. Über die Weihnachtsferien ist Maike nur für wenige Tage zu Hause, erlebt das gemeinsame Fest als anstrengend, sie sei die ganze Zeit müde und »gestresst« gewesen. Immerhin mit ihrem Bruder habe sie nach längerer Zeit wieder einmal ein paar gute Gespräche geführt.
Das neue Jahr bricht an, auch unser erstes Therapiejahr geht langsam auf sein Ende zu. Maike hat wesentliche Fortschritte gemacht, sich aus der Resignation und dem passiven Widerstand in vielen Situationen gelöst. Depressive Symptome schildert sie deutlich seltener, wenngleich der Konflikt mit ihren Eltern noch auf ihr lastet. Als bekäme sie ihre »Hände noch immer nicht frei«. Ich frage Maike immer wieder einmal nach der Geschichte ihrer Eltern. Doch darauf reagiert sie stets abwehrend, sie habe »keine Lust, sich schon wieder mit den Themen ihrer Eltern zu beschäftigen«. Als bedeute meine Nachfrage, dass ich ihren Eltern nun meinerseits in Maikes Therapiesitzungen Raum geben will — dabei ist die Therapie ja gerade etwas, das Maike nur für sich alleine macht. Tatsächlich scheint es auch so, dass Maike wenig über die Geschichte ihrer Eltern weiß. Beide Eltern sind in den 1970er-Jahren aufgewachsen und haben wohl keine leichte Kindheit gehabt. Die Mutter kommt aus einer Lehrerfamilie, das habe ihren Lebensweg schon früh auf eine Bahn gelenkt, etwas anderes als der Lehrerberuf sei offenbar gar nicht infrage gekommen.
Maike: »Aber ich mache es ja auch nicht besser, ich studiere auch wieder auf Lehramt.« Von der väterlichen Familie weiß sie noch weniger, nur, dass der Vater in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen ist. Der bereits verstorbene Großvater war Pfarrer. Maikes Vater sei »mit Strenge« erzogen worden, aber Genaues weiß Maike nicht.
»Interessiert Sie die Geschichte Ihrer Eltern nicht? Es ist ja auch Ihre Geschichte«, frage ich.
»Nein, das interessiert mich nicht«, sagt Maike barsch und ein wenig trotzig, um dann nach einer Weile nachzuschieben: »Na ja, eigentlich interessiert es mich schon. Aber zu Hause bei meinen Eltern ist irgendwie nie richtig Gelegenheit, um über so etwas zu sprechen. Es kommt dann immer gleich so eine seltsame Stimmung auf.«
Im Frühjahr kommt dann doch eine solche Gelegenheit. Denn es geschieht etwas Ungewöhnliches, was es seit Maikes Auszug nicht gegeben hat: Ihre Eltern wollen Maike besuchen. Seit Maikes Umzug sind sie nicht wieder in der Studienstadt ihrer Tochter gewesen. Für mich ist diese Ankündigung bemerkenswert. Der erste Besuch der Eltern bei ihren erwachsenen Kindern ist kein unwesentlicher Moment. Nicht das Kind kommt »zurück nach Hause«, ins Kinderzimmer, wenn man so will — sondern die Eltern kommen zu ihrem Kind, in sein neues Zuhause. Die Reise selbst ist vielleicht schon eine Art Anerkennung einer Welt jenseits des Elternhauses, des Umstands, dass der Lebensschwerpunkt des erwachsenen Kindes nun an einem anderen Ort liegt. Einem Ort, den die Eltern nicht kennen, wo sie nur zu Gast sind, von ihren Kindern geführt werden müssen. Vielleicht haben Maikes Abgrenzungsversuche auch in ihren Eltern etwas angestoßen, ist der jetzige Besuch nicht zufällig, sondern so etwas wie ein Versuch, Maike in ihrer Eigenständigkeit anzuerkennen. Im Vorfeld des Besuches ist Maike lustlos, fühlt sich bedrängt, nimmt die Ankündigung ihrer Eltern eher wie einen erneuten Angriff auf ihre Grenzen wahr, fürchtet ein »furchtbar anstrengendes Wochenende«.
Doch es kommt anders als erwartet. Maike berichtet, dass zum ersten Mal seit Langem ein richtiges Gespräch stattgefunden habe. »Also, wo man nicht nur Sachen aus seinem Alltag erzählt, ›dies und das habe ich gemacht‹, oder irgendetwas, was andere Leute gemacht haben. Sondern wo man sich einmal richtig über etwas austauscht. Das war irgendwie schön.« Im Besonderen einen längeren Spaziergang mit der Mutter erlebt sie in dieser Weise. Es sei gut gewesen, einmal alleine mit ihr Zeit zu verbringen, der Vater habe derweil einen Mittagsschlaf gemacht. Die Mutter lässt sich von Maike die Stadt zeigen, ist interessiert an ihrem Umfeld, fragt öfter nach, aber auf eine angenehme Weise. »Sie hat einfach mal nur nachgefragt, ohne selbst ständig Vorschläge zu machen.« Die Mutter lässt Maike Raum, woraufhin Maike Lust bekommt, etwas von sich mitzuteilen. Zum ersten Mal deutet sie ihrer Mutter gegenüber ihre Zweifel an ihrer Studienwahl an. Zunächst ist Maike besorgt. Nicht in dem Sinne, dass sie von ihrer Mutter Verbote oder Ermahnungen erwartet hätte; aber doch, dass diese enttäuscht sein, Maikes Zweifel als eine Ablehnung ihres eigenen Lehrerberufs verstehen könnte. Aber zu ihrer Überraschung reagiert ihre Mutter ganz anders. Sie hört aufmerksam zu, während Maike über ihre Schwierigkeiten spricht. Dann erzählt ihre Mutter plötzlich von ihrer eigenen Studienzeit und den eigenen Zweifeln, die sie damals hatte. Sie gesteht Maike, dass sie selbst nicht den Mut dazu hatte, einen anderen Weg einzuschlagen, obwohl sie sich manchmal »ziemlich unglücklich« mit ihrem Studium gefühlt habe. Sie habe damals gefürchtet, ihre Eltern zu enttäuschen, und dachte, dass sie deren Zeit und Geld verschwenden würde. Sie wollte keine »Bummelstudentin« sein, wie es damals hieß. Im Nachhinein bereue sie es, dass sie sich nicht getraut habe, einmal etwas anderes auszuprobieren; auch, wenn sie letztlich mit ihrem Beruf zufrieden sei. Maike fühlt sich berührt, auch ermutigt, der Mutter zu erzählen, wie schlecht es ihr mit dem Studium in Wahrheit geht — wie schuldig sie sich aber auch ihren Eltern gegenüber fühlt.
Maike wiederholt die Worte ihrer Mutter: »Du kannst dir sicher sein, das möchten weder ich noch dein Vater. Wir möchten, dass du das tust, was dich glücklich macht!« Ihre Mutter habe sie ermutigt, ehrlich zu sich selbst zu sein bei der Frage, was sie wirklich möchte — auch, wenn das einen kompletten Neuanfang bedeute. Seltsamerweise habe Maike gerade dieses Gespräch wieder ein wenig mit ihrem Studium versöhnt, zumindest habe es die Frage geöffnet, ob sie etwas von sich in diesem Studium finden kann oder nicht — als wäre das Studium in ihrem Erleben bislang nur ein fremder Zwang gewesen und erst jetzt zu einer frei zu wählenden Möglichkeit geworden.
»Vielleicht kann das ja noch offenbleiben, muss sich erst einmal in Ihnen noch weiter sortieren, bevor Sie eine Antwort darauf haben«, sage ich.
»Oder vielleicht muss ich erst einmal meine Reise nachholen. Einmal für eine Zeit alles hinter mir lassen«, antwortet Maike.
In der Folgezeit verändert sich etwas im Verhältnis zwischen Maike und ihren Eltern. Maike beginnt, sich für die Geschichte ihrer Eltern zu interessieren, stellt Fragen, auch am Telefon, wobei vor allem mit der Mutter, aber auch mit ihrem Vater, immer wieder »richtige Gespräche« entstehen, auch wenn dadurch natürlich nicht alle Konfliktfelder verschwinden. Für mich zeichnet sich das Bild von einer Familie, in der es sehr um die Sehnsucht nach Geborgenheit geht, dem Wunsch, ohne Einschränkungen geliebt und gebraucht zu werden. Beide Eltern sind in gewisser Hinsicht tatsächlich »verstoßene Kinder«, zumindest Kinder, die in ihren Familien viel Einsamkeit erfahren haben. Im Elternhaus des Vaters sei zwar viel Wert auf äußere Form gelegt worden, »nach außen sichtbare Familienharmonie«, welche die Gemeinde von einer Pfarrersfamilie erwartet hätte. Im Inneren aber habe es an Wärme gemangelt, die Familie sei eher »durch Strenge zusammengehalten worden als durch Zuneigung«, sage der Vater. Die Mutter ist in einer Familie mit fünf Geschwistern aufgewachsen, zwar bei durchaus fürsorglichen Eltern, aber sie sei auch immer wieder »untergegangen«. Als jüngere Geschwister auf die Welt kommen, wird die Mutter zwei Mal für mehrere Monate bei den Großeltern »abgegeben«, da war sie drei und fünf Jahre alt. Eine Praxis, die zu dieser Zeit zwar durchaus noch üblicher war, die aber mitunter gravierende psychische Folgen haben kann. Denn es handelt sich um Bindungsabbrüche, die ein Kind in diesem Alter nicht verstehen kann. Mit einem Mal ist alles weg, was Sicherheit gibt, kann einem irgendjemand anderes, ein kleines Geschwister, alles nehmen — was zur Verinnerlichung eines grundlegenden Gefühls von Unsicherheit beitragen kann. Im Fall von Maikes Mutter sind das starke Verlustängste. Beide Eltern haben zwar auch gute Erfahrungen gemacht, aber von diesem Guten nur gekostet, es nicht wirklich dauerhaft erfahren können. Sie »fliehen« von zu Hause, lernen sich während des Lehramtsstudiums kennen, heiraten bald nach dem Abschluss und bekommen die beiden Kinder im Abstand einiger Jahre.
Dieses Moment von Einsamkeit und Verlustangst, das die Geschichte der Eltern geprägt hat, scheint ein Schatten, der auch noch bis in Maikes Kindheit reicht. Nicht, dass Maike von ihren Eltern vernachlässigt oder mit Härte behandelt wurde. Im Gegenteil. Maike zitiert die Worte ihrer Eltern: »Wir waren uns einig, dass wir es anders machen wollen. Dass unsere Kinder nicht so aufwachsen sollen, wie wir es selbst erfahren haben.« Das gelingt ihnen auch, sie geben ihren Kindern viel Liebe und Geborgenheit mit, ein Elternhaus, das ein wirklicher Rückhalt ist, weshalb ich auch glaube, dass Maike ein Fundament an Sicherheit, man könnte sagen Urvertrauen, in sich trägt. Dafür spricht etwa auch, dass Maike mich als Therapeutin von Anfang an mit positiven Gefühlen besetzen, von der Therapie »Gebrauch machen« kann. Es fällt ihr nicht schwer, jene Zuversicht und jenes Vertrauen zu entwickeln, die in anderen Therapien erst so mühsam errungen werden müssen. Das bedeutet, in ihr gibt es eine tief verankerte Erwartung, dass der andere hilfreich ist, es gut mit ihr meint. Aber die Ängste der Eltern und ihre eigenen Verletzungen sind wie ein blinder Passagier in Maikes Leben. Die Eltern versuchen, durch ein heiles Zuhause ihr eigenes Trauma zu heilen. »Wir machen es anders, wir machen es schön! Die Familie soll ein Ort der Geborgenheit sein, wo es keine Ängste und keine Konflikte gibt, wo sich jeder wohlfühlt und niemand vor dem anderen verbergen muss.« Es gibt ein Ideal der Gemeinschaft, in der alle Familienmitglieder aufgehen und einander Sinn geben sollen. Maike beschreibt die Atmosphäre zu Hause mit ihren eigenen Worten: »Ein bisschen wie ein Nimmerland, nur ohne Captain Hook. Wo alles heil ist, keine Zeit vergeht, alle für immer zusammenbleiben.«
»Ohne Captain Hook. Also auch eine Welt, in der es gar kein Erwachsen-Sein gibt, eine Insel, auf der nur Kinder leben.«
Das funktioniert noch gut, solange Maike und ihr Bruder klein sind. Für kleine Kinder steht die Familie im Zentrum, ist eine nahe und innige Bindung zu den Eltern wichtig. Vielleicht gehört ein wenig Nimmerland in die Atmosphäre einer schönen Kindheit, ist die Realität, dass auch diese Zeit endlich ist, ein Gast, der nicht zu früh ins Haus treten sollte. Aber die Zeit steht ja doch nicht still, auch nicht in Maikes Familie. Und Situationen, in denen das fühlbar war, nämlich dann, wenn Konflikte und Abgrenzung eigentlich gut und notwendig sind, wurden zunehmend problematisch — und sind es bis zum heutigen Tag.
Eltern müssen in dieser Phase, in der Jugend und oft auch noch in der Spätadoleszenz, einiges aushalten, denn sie werden von ihren Kindern öfter einmal ungerecht oder undankbar behandelt. Aber sie sollten trotzdem versuchen, ihre Kinder zu verstehen. Diese müssen ihr eigenes Ich finden, sich den Raum jenseits der Familie erobern, und dazu kann es auch gehören, die eigenen Eltern zurückzuweisen. Kinder an diesem Punkt weder durch Schuldgefühle zu binden noch sie mit einer Gegenaggression zu strafen, das setzt voraus, dass Eltern etwas ganz Grundlegendes anerkennen können: Es ist Zeit vergangen, eine besondere Lebensphase kommt an ihr Ende. Ich glaube, dass Maike an solchen Stellen an das Trauma ihrer Eltern gerührt hat: ihre Angst, sie könnten nicht mehr geliebt, abgeschoben werden, nicht mehr wichtig sein. Es liegt auch eine gewisse Wahrheit darin: Je älter Kinder werden, desto weniger brauchen sie ihre Eltern. Aber das ist ja eigentlich das Ziel der Entwicklung, Zeichen dessen, dass etwas gelungen ist. Doch in Maikes Fall wird sichtbar, dass es ihre Eltern selbst sind, die etwas brauchen. Dass die Eltern in einer kindlich-bedürftigen Weise auf die Anerkennung und konstante Zuwendung ihrer Kinder angewiesen sind, weil in ihnen ein ungestilltes Bedürfnis ist, das vielleicht in der einfachen Formel mündet: Sie brauchen es, gebraucht zu werden. Die Realität, dass die Kinder unabhängig werden, ist für Maikes Eltern verletzend. Und so beginnen sie, eine eigene Realität aufzubauen, eine Familien-Welt, in der die Zeit scheinbar stehen geblieben ist, Maike noch mit derselben Unselbstständigkeit an ihren Eltern hängt, als wäre sie noch ein kleines Kind. Ein Nimmerland, das zunehmend zu einem Gefängnis wird. Maikes Bruder scheint sich in seiner Jugend dagegen aufgelehnt zu haben, hat versucht, die Fäden der Familienbindung durchzureißen. Maike schildert ihn als eine »schwierige Person«, er sei zwar sehr sensibel und einfühlsam, habe aber oft heftige »Ausraster« gehabt. Maike kann nun aber besser verstehen, was den Bruder bewegt hat, und auch anerkennen, dass es ihm mittlerweile gelungen ist, einen eigenen Raum für sich abzugrenzen, auch wenn er dafür viel Distanz von der Familie braucht.
Maike hingegen fügt sich seit ihrer Jugend scheinbar klaglos in die Familienharmonie. Nicht wie gegenüber autoritären Eltern, vor denen man Angst hat — »Wehe, du weichst ab, wehe, du bist anders« —, sondern aus Schuldgefühl und weil Maike spürt, wie bedürftig ihre Eltern sind und wie verletzbar. Und auch, weil sie durch ihr Verhalten eine privilegierte Position bekommt, das scheinbar »unkomplizierte Geschwister« ist, das den Eltern keinen Kummer macht. Wenn Maike in der Pubertät »trotzig« war, hätten sich ihre Eltern eher zurückgezogen, nicht mehr mit ihr gesprochen. Aussprachen von Angesicht zu Angesicht habe es kaum gegeben, wenn überhaupt, habe ein Elternteil für das andere vermittelt. »Du hast deiner Mutter sehr wehgetan« ist einer der Sätze, an die sie sich, hier aus dem Mund des Vaters, erinnert. Oder auch: »Maike, wir sind nicht wütend auf dich. Wir sind enttäuscht.«
»Das hat Ihnen das Gefühl gegeben: Wenn einmal Differenzen auftreten, damit richten Sie eine große Verletzung an, das hält Ihre Beziehung nicht aus.«
»Es war für mich klar, es gibt eine Grenze, die ich nicht übertreten darf.«
»Du sollst Kind bleiben.« Dieses Gebot hat Maike internalisiert, zu einem inneren Gebot gemacht.
Aus diesem Gebot ist Maikes innerer Konflikt entstanden, der sie schließlich auch in eine psychische Krise getrieben hat. Diese hat sich nicht zufällig gerade dann manifestiert, als von ihr jene erwachsene Verantwortlichkeit verlangt wurde, die sie zu wenig entwickelt hat — im Studium, bei den Rechnungen, im Haushalt. Maike geht nicht über die Schwelle ihres Elternhauses, zumindest in einem psychischen Sinn, hemmt sich und ihre Entwicklung. Um ihren Eltern nicht wehzutun, bleibt sie Kind und kann ihren Wunsch nach Abgrenzung nicht einmal im Stillen denken. Sicherlich wollen das ihre Eltern nicht, wären erschrocken, wenn ihnen bewusst würde, welchen Schatten ihre eigene schwierige Geschichte über das Leben ihrer Kinder breitet. Aber darin besteht gerade die Macht einer unbewältigten Verletzung: Sie wiederholt sich, wird unbewusst weitergegeben. Die Gespenster der Vergangenheit spuken auch noch durch das Kinderzimmer der nachfolgenden Generation. Sie sind nur zu erlösen, indem wir uns ihnen stellen, uns ihrer erinnernd gewahr werden. Was wir nicht an die folgenden Generationen weitergeben wollen, müssen wir in uns selbst bearbeitet und letztlich betrauert, das heißt: losgelassen haben. Dies ist die Bedeutung jener geflügelten Worte Freuds, seiner Antwort auf die Frage, wodurch in einer Psychotherapie Entwicklung möglich wird: »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten.«
Ich sage zu Maike: »Ich glaube, Sie haben lange versucht, etwas heil zu machen, das gar nicht Ihr eigenes Thema ist. Die Verletzung Ihrer Eltern. Aber Sie können das gar nicht wiedergutmachen. Weil es etwas in Ihren Eltern ist. Etwas, mit dem sich Ihre Eltern auseinandersetzen müssten.«
Maike: »Diesen Wunsch nach Geborgenheit. Eigentlich müssten die sich das selbst geben. Ich bin ja nicht aus der Welt, ich liebe meine Eltern ja auch. Aber diese tägliche Nähe kann ich ihnen gar nicht geben. Ich meine, sie führen doch eine Ehe, sie haben doch auch einander!«
Wahrscheinlich ist dies tatsächlich die entscheidende Frage für Maikes Eltern: Wie können sie in eine erfüllende Paarbeziehung miteinander finden, auch ohne Kinder, das leere Haus mit etwas füllen? Mir scheint, dass das elterliche Paar damit Schwierigkeiten hat, sie deshalb immer wieder in Streitereien geraten, die nur lösbar sind, wenn sie Maike — das Kind — wieder einbinden.
Familien sind, wie alle menschlichen Gemeinschaften, ein soziales Feld, ein »System«, in dem die einzelnen Individuen miteinander verbunden sind. Dadurch, dass sich bei Maike etwas verändert, wird auch eine Änderung bei den anderen angestoßen — eine Dynamik, die man öfter in Psychotherapien sehen kann. Maike ist beispielsweise nicht sicher, ob ihre Eltern ihr nur weniger von ihren Konflikten erzählen, wie sie es sich auch gewünscht hat, oder ob die Eltern in ihrer Ehe Konflikte nun tatsächlich besser für sich klären können, ohne Maike einzubeziehen. In Maikes Augen hat es zumindest den Anschein, die elterliche Beziehung kommt in ruhigere Gewässer. Aber eigentlich ist dies das Thema ihrer Eltern, kein Problem, das Maike lösen kann und sollte.
Unsere Gespräche über ihre Familie helfen Maike, innerlich etwas zu vollziehen, was sich durch unsere therapeutische Arbeit über ein Jahr lang vorbereitet hat. Maike löst sich von »zu Hause«, verlässt ihre Kinderrolle, löst sich auch von ihren inneren Eltern. Nicht in blindwütigen Absetzversuchen, die einen nicht selten, wie beim Strampeln im Treibsand, nur umso tiefer in den Konflikten versinken lassen. Maike hat etwas verstanden. Sie kann nachvollziehen, warum die Eltern sich verhalten, wie sie es tun. Aber gerade das trägt dazu bei, dass Maike besser unterscheiden kann: Was kommt von den Eltern, was ist deren inneres Thema — und was ist eigentlich ihr eigener, Maikes Wunsch. Verstehen ist die Kraft zur Veränderung — denn erst durch das Verstehen wissen wir überhaupt, warum wir etwas tun, und können, wenn auch eingeschränkt, Freiheit gewinnen. Eine Therapie kann einem Menschen niemals Entscheidungen für sein Leben abnehmen, ihm immer nur dabei helfen, genügend innere Freiheit zu finden, damit er selbst überhaupt Entscheidungen treffen kann. Ich glaube, Maike hat für sich eine solche Entscheidung getroffen: dass sie Abschied nehmen will von Nimmerland. Sie löscht den Kontakt zu ihren Eltern aber nicht aus, »ghostet« sie nicht, sondern tritt ihnen als die erwachsene Frau entgegen, die sie ist.
Es ist Frühsommer, unser zweites Jahr ist längst angebrochen und ich habe das Gefühl, unsere Therapie nähert sich ihrem Ende. Maike entschließt sich, ihr Studium erst einmal »zu pausieren«.
»Im Augenblick kann ich mich nicht entscheiden, was ich werden will. Ich möchte erst einmal keinen Druck durch Prüfungen haben, einfach nur mal Zeit haben für das, was mir wichtig ist«, sagt Maike.
Ihre Eltern tragen etwas zu dieser Freiheit bei, indem sie Maike weiterhin finanziell unterstützen. Maike sucht sich aber auch einen kleinen Job, um etwas Geld anzusparen. Sie unternimmt viele Aktivitäten und Ausflüge. Hin und wieder berichtet sie auch von Begegnungen mit Männern, die sie interessieren, aber bislang habe sich nichts Festes ergeben. Vor allem engagiert sie sich in der Klimabewegung. Sie besucht Seminare, nimmt an Aktionen ihrer Gruppe teil, organisiert aber auch selbst Veranstaltungen. Auch in den Therapiestunden wirkt sie anders, besonders, wenn ich es mit dem Beginn unserer Therapie vergleiche. In ihrem ganzen Körper scheint mehr Spannung, ein gewisses Moment von Forschheit, ihre Stimme und ihr Blick sind selbstbewusster. Ich habe das Gefühl, dass Maike gerade zu sich selbst findet. Nicht, dass sie alles schon wissen müsste, wer sie ist, was sie will, aber sie kann beginnen, das für sich zu entdecken.
Alles, was wir tun, ist von unserer Geschichte durchdrungen, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Wir wandeln immer in jemandes Spuren. Doch das muss nicht immer ein Unglück bedeuten. Denn unsere Geschichte ist immer auch das Fundament, auf dem wir unser Leben errichten. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat für diesen Prozess den Begriff der Generativität geprägt. Generativität meint die Fähigkeit, für etwas Verantwortung zu übernehmen, das über die Begrenztheit des eigenen Lebens hinausgeht: für das, was wir bekommen haben, und das, was wir hinterlassen werden. Jeder Mensch ist Teil einer Folge von Generationen. Andere waren vor uns, und es werden andere nach uns sein. Was wir besitzen, ist in Wahrheit nur geliehen: Wir sind nur zu Gast auf der Erde. Generativität bedeutet, die materiellen oder immateriellen Werte, die wir von den vorherigen Generationen geerbt haben, so zu behandeln, dass wir sie an die Nachkommen weitergeben können. In der Metapher des Elternhauses gesprochen: Die Eltern übergeben, wenn die Zeit gekommen ist, die Schlüssel ihren Kindern. Diese nehmen Änderungen am Haus vor, vielleicht auch solche, die den Eltern nicht gefallen hätten. Sie reißen das Haus aber auch nicht ab, löschen seine Geschichte nicht aus, weil es für den Moment gewinnbringender scheint. Gerade dadurch, dass das Haus verändert wird, bleibt es erhalten.
Wo etwas von einer Generation an die nächste weitergereicht wird, können Konflikte entstehen, sogenannte Generationenkonflikte. Das Haus weiterzugeben, im wörtlichen oder übertragenen Sinn, bedeutet für die Eltern auch anzuerkennen, dass nun andere an der Reihe sind: Es ist eine Begegnung mit der eigenen Vergänglichkeit, der Endlichkeit der eigenen Kräfte. Was aber, wenn man noch so viele offene Wünsche an das Leben hat, wenn man zu viel ungelebtes Leben in sich trägt? Für die Kinder bedeutet die Übernahme des Hauses, dass sie die Last der Verantwortung übernehmen, selbst Entscheidungen treffen und es keinen Älteren gibt, der es vermeintlich besser weiß. Es bedeutet auch, den Platz der Eltern einzunehmen, das Eigene, Neue zu behaupten. Es ist ein heikler Prozess, der leicht zu »Komplexen«, zu Verknotungen im generativen Band führen kann. Die zentralen psychischen Konflikte, welche die Psychoanalyse beschreibt, handeln von solchen Generationenkonflikten, von der Schwierigkeit der Kinder, sich zu lösen, und der Schwierigkeit der Eltern, loszulassen — in gewisser Hinsicht gilt das auch für jenen viel zitierten und oft missverstandenen »Ödipuskomplex«. Die Sage des Ödipus erzählt schließlich von einem Sohn, der von seinem Vater ausgesetzt wird, weil dieser fürchtet, er könne ihn eines Tages vom Thron stoßen — aber auch von einem Sohn, der sich nicht von der unbewussten Bindung an die Eltern lösen kann, ein Leben lang an der Seite der Mutter bleibt. Auf diesem Wege kann nichts Neues entstehen, kommt die generative Weitergabe ins Stocken.
Ich glaube, Maike und ihre Eltern haben sich in solchen Netzen des Generationenkonfliktes verfangen, zwischen Liebe und Wut, Bindung und Abgrenzung, zwischen Trauer, die das Vergangene nicht gehen lassen kann, und der Sehnsucht nach dem Neuen. Maikes Geschichte ist aber auch ein Beispiel dafür, dass sich solche Knoten lösen lassen, zumindest so weit, dass sie einem Menschen nicht den Weg ins Freie versperren. Vielleicht gilt dies ganz allgemein: Eltern können leichter loslassen, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas von ihnen in den Kindern weiterlebt, ihre Geschichte mit der nächsten Generation nicht ausgelöscht, für nichtig erklärt wird, sondern das eigene Leben einen Sinn hatte, ein Baustein war für das Haus der Nachkommenden. Kinder können sich leichter lösen, wenn sie ihr Leben gestalten dürfen, ohne sich schuldig fühlen zu müssen, dass sie ihr Eigenes haben wollen — aber auch, wenn sie mit dem, was die Eltern ihnen hinterlassen, etwas gestalten können, es wirklich Bausteine, nicht nur Trümmer sind, die sie erben. In einer gelingenden Generativität bewahrt sich eine menschliche Gemeinschaft im selben Maß, wie sie sich erneuert, in der Familie wie in der ganzen Gesellschaft.
Wieder muss ich an Maikes Engagement für den Klimaschutz denken. Geht es hier nicht, wenngleich auf einer ganz anderen Ebene, um etwas Ähnliches? Während die traditionelle Gesellschaft jahrhundertelang jenes Elternhaus in heilige Hallen verwandelt hat, an denen die Kinder nichts ändern dürfen, die Macht der Vergangenheit der Gegenwart in Gestalt von unverrückbaren Riten und Traditionen Ketten angelegt hat, droht in unserer Gesellschaft ein anderes Unheil. Wir reißen die Balken des Hauses ab, um sie für den Vorteil eines Augenblicks zu verfeuern, ohne Achtung für das Gestern und ohne Verantwortung für das Morgen — als wäre die ganze Welt ein Nimmerland, in dem immer nur »Jetzt« ist. Behandeln wir nicht alles auf diese Weise verantwortungslos, letztlich auch uns selbst, bis zur völligen Erschöpfung aller physischen und psychischen Ressourcen? Im Umgang mit der Welt veräußerlicht sich immer auch unsere innere Welt: Das, was wir mit anderen tun, tun wir am Ende auch mit uns selbst. Es gibt keinen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel ohne ein Moment der Selbstreflexion. Alle Änderungsversuche, die ohne Besinnung auf sich selbst gegen das Bestehende anrennen, sind immer schon in die Bahn des Wiederholungszwangs eingebogen.
Es gibt mir letztlich Hoffnung, Maikes Engagement zu sehen. Mit wie vielen Komplikationen und Komplexen auch immer beladen: Ihre Generation äußert doch ein fühlbares »Nein« — auch, wenn noch niemand sagen kann, ob es ihr gelingen wird, einen Weg ins Freie zu finden.
Es ist nicht die Aufgabe einer Psychotherapie, gesellschaftliche Konflikte zu lösen. Maike hat in unseren anderthalb Jahren der Zusammenarbeit eine entscheidende Entwicklung vollzogen, erst einmal ganz für sich persönlich. Was sie daraus macht, liegt nun in ihrer Hand — und es ist nicht mehr Teil unserer Therapie. Sie ist nicht mehr depressiv, sondern hat begonnen, ihr Leben aktiv zu gestalten. Nun ist es wichtig, dass sie auch mich verlassen kann, ich nicht zur nächsten Elternfigur werde, die sie bindet. Tatsächlich endet unsere gemeinsame Arbeit im Sommer des zweiten Therapiejahres. Einige Themen bleiben noch offen, etwa ihre spürbare Bindungsangst, gerade, wenn es sich um Liebesbeziehungen handelt. Aber eine Therapie entlässt einen Menschen ja auch nicht konfliktfrei, sondern, wenn man es mit diesen Worten sagen will, konfliktfähig. Ich glaube, Maike kann sich jetzt selbst an ihre Lebensfragen heranwagen, braucht dafür meine Hilfe nicht.
Sie hat sich zunächst vorgenommen, für ein halbes Jahr durch die Gegend zu reisen, per Interrail durch Europa. »Und dann mal schauen, wo ich lande. Ich will weiterstudieren, aber vielleicht wähle ich noch einmal ein anderes Fach. Geografie würde passen, das ist näher an den Themen, die mich interessieren. Vielleicht setze ich mein Lehramtsstudium auch fort, aber dann noch einmal an einem anderen Ort. Wo, das weiß ich jetzt noch nicht.«
»Sie müssen das jetzt noch nicht entscheiden«, sage ich. »Es ist offen.«