Die Geschichte führt uns in die Praxis einer Kinderanalytikerin, die über ihre Arbeit mit dem sechsjährigen Shadi und seiner Mutter Aliya berichtet. Kinderanalysen sind eine Spezialisierung innerhalb der psychoanalytischen Therapieverfahren und bedürfen einer eigenen therapeutischen Ausbildung. Kinderanalytiker behandeln Kinder vom Säuglingsalter bis in die Spätadoleszenz, wobei es gerade bei jüngeren Kindern üblich ist, dass sie von einem Elternteil begleitet werden.
Mein Telefon klingelt. Einen Moment zögere ich, abzuheben, denn meine Sprechstunde ist fast vorbei, in nur wenigen Minuten beginnt die nächste Sitzung. Eine Frau mit einer kehligen, aber unverkennbar jungen Stimme ist in der Leitung. Sie hat einen Akzent, den ich nicht recht zuordnen kann, auch, weil sie sich zu bemühen scheint, ihn durch eine besonders betonte Aussprache zu überdecken. Die Frau sagt, sie rufe ihres Sohnes wegen an, es gebe »Probleme«. Eine Pädagogin sei in den Kindergarten bestellt worden, um sich ihren Sohn einmal »anzusehen«. Daraufhin habe man ihr in einem Elterngespräch mitgeteilt, dass »der Fall zu schwierig« für die Einrichtung sei und sie sich »therapeutische Hilfe« holen solle. Sie mache sich große Sorgen, ihr Sohn sei sechs Jahre alt, die Einschulung stehe kurz bevor. Die Empfehlung laute Förderschule, das aber wolle sie nicht. Sie klingt aufgebracht, als sie das sagt, redet nun schnell und schnauft laut, als sei sie außer Atem. Obwohl mich ihre Schilderung aufhorchen lässt, bleibe ich angesichts der Zeitknappheit kurz angebunden. Weil sie aber immer weiterredet, muss ich sie unterbrechen. Wir vereinbaren schließlich ein Vorgespräch. Die Terminfindung gestaltet sich allerdings so kompliziert, dass ich am Ende beinahe ärgerlich werde: Will sie etwas von mir oder ich von ihr? »Wie heißt Ihr Sohn denn?«, will ich noch wissen, bevor wir auflegen. Doch ich verstehe sie nicht mehr, ein störendes Rauschen unterbricht sie immer wieder. Plötzlich höre ich einen lauten Kinderruf — oder ist es eher ein Schrei? Kurz darauf meldet sich die Frau wieder und beendet hektisch das Telefonat, als ob sie von etwas bedrängt würde. Das abrupte Ende des Gesprächs hat etwas diffus Bedrohliches und lässt mich irritiert zurück. Doch dann geht schon die Türklingel, und ich muss mich meinem nächsten Patienten widmen.
Knapp eine Woche später lerne ich Shadi und seine Mutter Aliya kennen. Es ist ein kalter Januartag. Die beiden kommen in dicke Winterkleidung gehüllt in meine Praxis. Nachdem sie an der Garderobe abgelegt und den Therapieraum betreten haben, bin ich beinahe etwas überrascht, so blass und schmal wirkt Shadi ohne seine Jacke, ein zarter Junge, der an der Hand seiner Mutter ins Zimmer kommt. Er hat große dunkle Augen und kurzes, schwarzes Haar, das strubbelig von seinem Kopf absteht, als wäre er gerade erst aus dem Bett aufgestanden. In seiner rechten Hand hält er eine Actionfigur. Eigentlich ist Shadi ein hübsches Kind, aber die dreckigen Finger, sein leerer Blick, der getrocknete Speichel am Kinn — seine ganze Erscheinung löst in mir ein Gefühl von Befremdung aus. Ich empfinde fast ein wenig Berührungsangst, als wäre etwas an Shadi, von dem ich auf eine intuitive Weise Abstand nehmen will. Ein unwillkürliches Gefühl, das mich selbst verwundert, das mir auch unangenehm ist, denn natürlich möchte ich allen Menschen in meiner Praxis mit der gleichen Offenheit begegnen. Doch in einer Psychoanalyse bedeutet Offenheit auch, sich für alle Gefühle zu öffnen, die im Raum entstehen, nicht nur für solche, die man gerne hat. Auch in einer Kinderanalyse beginnt die therapeutische Arbeit bei meinen eigenen Gefühlen, dem, was in mir selbst scheinbar unbegründet und unverständlich entsteht.
Shadis Mutter Aliya wirkt äußerst gepflegt. Mit ihr kommt der Duft eines Parfüms in den Raum, fast ein wenig zu viel, aber nicht unangenehm. Sie trägt ihr dunkelbraunes Haar offen, ihre dunklen Augen sind von einer eckigen Brille gerahmt, alles an ihrem Gesicht wirkt glatt und makellos. Zugleich ist da etwas Hartes, Abweisendes an ihr — als würde sie ihren aufmerksamen Blick nur nach außen richten, wie aus einem Visier, und auf ein Ziel zustreben.
Shadi bleibt genau an der Stelle stehen, zu der ihn seine Mutter geführt hat. Sie zieht ihm seinen Pulli zurecht, der etwas nach oben verrutscht ist, was der Junge ohne Regung hinnimmt. Wie eine Wachsfigur, denke ich beklommen. »Komm, Shadi«, sagt sie, »setz dich doch«, eine Aufforderung, die der Junge marionettenhaft befolgt. Auch auf dem Stuhl sitzt Shadi fast bewegungslos, den Blick wie in eine abgründige Ferne gerichtet. Er wirkt so unbezogen, dass ich mich frage, ob es sich bei Shadi vielleicht um ein autistisches Kind handelt. Ist das der Grund, weshalb die Pädagogin die Mutter zu einer Konsultation zu mir geschickt hat? Auf meine Versuche, ihn zu begrüßen, ihn nach seinem Namen zu fragen, einen ersten Kontakt herzustellen, reagiert Shadi nicht. Nur seine Augen geben Auskunft davon, dass er meine Worte überhaupt wahrgenommen hat, und beobachten mich vorsichtig.
»Ich weiß nicht mehr weiter«, eröffnet Aliya ohne größere Umschweife die Sitzung. Die Sorge steht ihr ins Gesicht geschrieben, sowie der Schatten einer zunehmenden Verzweiflung. Aliya erzählt, dass es mit Shadi »nur noch Probleme« gebe. Er sei eigentlich immer »ein fröhlicher Junge« gewesen, der den ganzen Tag habe spielen können, der gerne Lieder gesungen habe, auch sehr neugierig gewesen sei, immer habe er alles ganz genau wissen wollen: »Mama, warum dies, Mama, warum das.« Aber in letzter Zeit sei das »alles weg«. Im Kindergarten gebe es Schwierigkeiten. Die Erzieherin berichte, er habe vor Kurzem angefangen, sich in die Hose zu machen, sei sonst viel alleine, spiele am liebsten für sich, sei anderen Kindern gegenüber abweisend. »Als hätten wir nicht schon genug Sorgen«, meint sie. Es ist spürbar, dass Aliya einiges auf dem Herzen hat. Sie spricht so schnell und viel, dass ich kaum zu Wort komme.
Sie seien vor zweieinhalb Jahren nach Deutschland gekommen, und ihre Muttersprache sei Arabisch. »Aber wir alle bemühen uns, immer Deutsch zu sprechen«, sagt sie, als müsse sie sich vor mir rechtfertigen. »Und das schaffen wir auch. Ich habe schon angefangen, Deutsch zu lernen, da waren wir noch drüben. Wir hatten schon vor dem Krieg Verwandtschaft in Deutschland, zu der Zeit war ich auch für ein Jahr als Au-pair hier. Das hat es leichter gemacht. Mir war so wichtig, dass wir hier wieder möglichst schnell zu einer Normalität finden. Ich wollte, dass unser Leben hier endlich wieder ein wirkliches Leben ist, die Kinder eine Zukunft haben, anders als in Syrien, verstehen Sie?«
Syrien — das Wort lässt etwas in mir aufschrecken. Sofort habe ich Bilder von Krieg und Zerstörung vor meinem inneren Auge. Ich habe zwar einige Erfahrung, auch mit Therapien, in denen es um die Behandlung von Traumafolgestörungen geht. Ich habe aber noch keine Menschen behandelt, die vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen sind. Was mir Kollegen aus ihren Therapien erzählen, ist mitunter so grauenvoll, dass es nur schwer zu ertragen ist.
Dann erzählt Aliya mir, dass sie tatsächlich mit ihren drei Kindern wegen des syrischen Bürgerkriegs nach Deutschland geflohen ist. Shadi war da kaum vier Jahre alt, seine älteren Schwestern acht und vierzehn. Die Flucht sei kompliziert gewesen, sie hätten aber auch Glück gehabt. Bevor der Krieg ihre Heimatstadt erreichte, flohen sie zunächst in den Libanon. Dort sei es ihnen nach vielen Mühen gelungen, eine Einreisegenehmigung nach Europa zu erhalten, vor allem durch die Hilfe ihres Onkels, der bereits seit einigen Jahren mit seiner Familie in Deutschland lebe. Über einige Umwege seien sie mit dem Flugzeug nach Europa und schließlich nach Deutschland gekommen. Sie wisse, dass sie das alleine den »guten Verbindungen der Familie« verdanke. Andere Fluchtwege habe sie immer ausgeschlossen, denn die Geschichten, die sie darüber höre, seien »Horror«.
Von Shadis Vater berichtet Aliya nichts. Am Anfang wohnt die kleine Familie bei Aliyas Onkel, mit seiner Unterstützung gelingt es ihr, Fuß zu fassen. Aliya kann schon bald an einem Integrationskurs teilnehmen und arbeitet inzwischen aushilfsweise als Dozentin an der Volkshochschule, wo sie arabischsprachige Immigranten unterrichtet. Am Wochenende arbeitet sie zudem in einem Restaurant. In Syrien war sie Lehrerin für Englisch. Sie muss viel Kraft und Zeit aufwenden, um über die Runden zu kommen. Die Einliegerwohnung im Haus des Onkels, die sie mit ihren Kindern bewohnt, befindet sich in einer Kleinstadt in der Provinz. Aliya kommt abends oft erst spät nach Hause, meist schläft Shadi dann schon. Ich denke: Shadi bekommt wenig von seiner Mutter mit, lebt in einer Atmosphäre, die sehr von dem Kampf um die ökonomische Existenz der Familie geprägt ist. Aliya bleibt wohl kaum etwas anderes übrig, als den Alltag auf diese Weise zu bewältigen. Ein wenig fühle ich mich nun schuldig, dass ich Aliya terminlich nicht mehr entgegengekommen bin. Doch von diesen Schwierigkeiten hat sie am Telefon nichts gesagt. Ich ahne, wie wichtig es Aliya ist, hier einen gewissen Status erlangt zu haben, etwas aus eigener Kraft geschafft zu haben und nicht abhängig zu sein.
»Sie haben eine unvorstellbare Zeit durchlebt«, sage ich.
»Ja«, bestätigt Aliya. Für einen Moment ist eine Stille im Raum, und Aliya wirkt auf mich zunehmend angespannt. Ich will etwas sagen oder etwas fragen: Was haben Sie in Syrien erlebt? Was ist mit Shadis Vater? Aber etwas hält mich davon ab, ich fühle mich innerlich blockiert.
»Wie geht es Ihnen selbst damit?«, sage ich schließlich.
Aliya sieht mich fragend an, dann ist es, als würden sich ihre Züge verhärten: »Das ist nicht wichtig.«
Ich sage: »Ich glaube, Sie haben viel die Zähne zusammengebissen in den letzten Jahren. Sie tun alles, was Sie können, damit die Familie über die Runden kommt.«
Aliya: »Das ist mir auch gelungen. Wissen Sie, was mir dabei geholfen hat?«
Aliya zitiert ein arabisches Sprichwort auf Deutsch, das sinngemäß besagt: Wer sich über sein Unglück beklagt, den überkommt ein noch schlimmeres.
»Ich habe mich nie beklagt«, sagt sie, »was hilft es, zurückzuschauen. Wenn ich alle Dinge zähle, die wir verloren haben, dann würde ich den ganzen Tag damit verbringen. Aber das hilft nicht weiter. Wir müssen nach vorne schauen. So haben wir es geschafft.«
Ich bin nicht sicher, wen genau Aliya mit »wir« meint: Shadi, ihre Familie, ihr ganzes Land, das ein gemeinsames Schicksal teilt?
Aliya erzählt von Samira, ihrer ältesten Tochter. Nachdem sie in Deutschland angekommen waren, habe sie ihre Tochter in einem Intensiv-Sprachkurs angemeldet. Samira habe schnell Deutsch gelernt, so schnell, dass sie innerhalb eines Jahres den Anschluss an das deutsche Schulsystem geschafft habe. Inzwischen besuche sie ein technisches Gymnasium. Sie sei sehr stolz auf ihre Tochter. Am Vorabend des ersten Tages an ihrer neuen Schule aber sei Samira nicht aus dem Bett gekommen, sie habe nur geweint, gesagt, sie wolle das alles nicht, wolle nicht in die Schule.
»Ich habe ihr gesagt: ›Einen Tag kannst du im Bett bleiben, ich lasse dich. Aber morgen stehst du auf und gehst in die Schule. Würde dein Vater das wollen, dass du liegen bleibst? Weinen macht dich schwach, aber du musst stark sein, mein Schatz!‹ Das habe ich ihr gesagt, und es hat funktioniert. Sie ist am nächsten Tag aufgestanden, noch vor mir war sie wach und hat sich angezogen. Ohne eine Träne ist sie in die Schule.«
Ich kann Aliyas Vorgehen verstehen. Es mag hart klingen, wie sie zu ihrer Tochter gesprochen hat, aber nicht herzlos. Aliya versucht ihren Kindern das zu geben, was sie ihrer Meinung nach brauchen. Traurig zu sein, zu klagen, zurückzublicken — das muss man sich leisten können. Für Aliyas Familie geht es zunächst darum, Boden unter den Füßen zu gewinnen. Aliya sorgt dafür, dass die Kinder nicht ins Leere fallen, besteht auf dem Schulbesuch, drängt sie dazu, die neue Sprache zu lernen, mit einer Kraft und Vehemenz, die ich bewundere.
Doch all das hat einen Preis. Denn wo bleibt Raum für den Schmerz, Zeit, all das zu verdauen, was geschehen ist? Aliya hat die Überzeugung: »Weinen macht dich schwach.« Vielleicht muss sie auch etwas in sich unterdrücken, einen Teil von sich selbst abspalten, dem durchaus zum Weinen zumute ist. Wie gut ihr das wirklich gelingt, wie sehr sie selbst eigentlich leidet, ist für mich noch nicht einzuschätzen. Sicher scheint mir aber, dass es Shadi nicht gelingt. Seine kindliche Seele kommt nicht mit. Wieder fällt mein Blick auf ihn seine kleinen, verschmierten Hände und die Actionfigur, die er festhält. So verloren wirkt er auf mich und abwesend. »Wo bist du?«, frage ich ihn in Gedanken.
Aliya erzählt weiter: »Als wir in Deutschland waren, dachte ich: Endlich wird es ruhig. Endlich wieder ein Leben. Und dann gingen die Probleme los mit Shadi.« Direkt nach der Ankunft — »Oder war es doch schon früher? Ich erinnere mich nicht mehr« — beginnt er Auffälligkeiten zu entwickeln. Früher sei Shadi »ein ganz normaler Junge« gewesen, aber hier sei es, als ob er … Aliya sucht ein passendes Wort, sagt dann: »Hier spinnt er.« Anfangs glaubt Aliya, Shadi sei nur erschöpft und müde, müsse sich von den Strapazen der Flucht erholen, das fremde Land, die neue Situation kennenlernen: »Weil er fast nichts mehr gesprochen hat.« Nach und nach seien aber seltsame Verhaltensweisen hinzugekommen: »Manchmal sitzt er stundenlang an einem Fleck, ich begreife das nicht.« Gebe man ihm dann etwas, zum Beispiel Schokolade, reagiere er durchaus: Er packe die Süßigkeit aus, schiebe sie sich in den Mund, lutsche »gedankenverloren« daran herum — nur um anschließend wieder in sich zu versinken. »Das ist doch nicht normal.« Aliya sieht mich fragend an.
Ihre Worte beunruhigen mich in der Tat, ein solches Verhalten ist für ein Kind seines Alters ungewöhnlich. Sich nicht mehr zu bewegen, nicht mehr zu sprechen, ein sogenannter kindlicher Mutismus: Das sind ohne Zweifel Symptome, die darauf hindeuten, dass etwas auf eine gravierende Weise nicht stimmt. Als hätte Aliya meine Gedanken erraten, meint sie: »Aber Shadi ist nicht immer so.« Es gebe Zeiten, in denen komme es ihr vor, »als wäre nichts gewesen«. Shadi renne umher, spiele mit seinen Schwestern, zeige Interesse an der Welt, vor allem in der Natur sei er gerne, gehe etwa gerne mit der Tante und ihrem Hund spazieren. Shadi spreche auch gelegentlich, allerdings — anders als früher — nur noch mit den engsten Familienmitgliedern, und auch dann nur flüsternd.
»Spricht er mit Ihnen?«, frage ich.
»Mit mir und seinen Schwestern spricht er noch am meisten. Aber auch nicht immer«, meint Aliya. Gesungen habe er allerdings seit Langem gar nicht mehr. Er wehre sich geradezu dagegen, wenn Aliya ihn ermuntere: »Obwohl er früher Musik doch so geliebt hat.«
Im Kindergarten habe Shadi sich anfänglich gut integriert, »die deutschen Kinder haben ihn angenommen«. Die fremde Sprache habe ihn zwar zunächst verwirrt, aber nur für kurze Zeit. »Kinder lernen ja so schnell«, sagt Aliya. Aber dann habe er »Probleme gemacht«, deshalb hätten sich auch die anderen Kinder von ihm zurückgezogen. »Ich hoffe, Sie können mir sagen, was wir tun sollen, damit wir das wieder in den Griff bekommen.«
»Gibt es denn noch weitere Dinge, die Ihnen aufgefallen sind?«
Aliya überlegt eine Weile: »Manchmal hat Shadi Albträume.« Er wache schreiend und weinend auf, dabei wirke er gar nicht richtig wach, er sei dann kaum zu beruhigen, schlafe aber nach einer Viertelstunde meistens von alleine wieder ein. Wenn Aliya ihn am nächsten Morgen frage, was er geträumt habe, schüttele Shadi nur den Kopf, er könne sich an nichts erinnern, nicht einmal daran, dass er überhaupt aufgewacht sei. Was Aliya schildert, nennt man einen pavor nocturnus, ein nächtliches Aufschrecken, während dessen Kinder nicht ansprechbar sind, desorientiert und ihre Umgebung nicht erkennen. Im Gegensatz zu einem Albtraum können sich die Kinder nicht an das erinnern, was sie geträumt haben, sie werden von einer scheinbar gestaltlosen, rein körperlichen Angst durchflutet. Die Ursachen können harmloser Natur sein. Bei Shadi aber, habe ich den Eindruck, reiht sich dieses Symptom in jenes unsagbare Etwas, das ihn im Klammergriff hält, das er weder sagen noch träumen kann: Nur Schrecken ist da.
Aliya berichtet zudem von »seltsamen Bewegungen«, die Shadi manchmal ausführe, etwa seine Augen zu schließen und minutenlang den Kopf rhythmisch hin und her zu wiegen, sogenannte Stereotypien, mit denen manche Kinder versuchen, sich selbst zu beruhigen, große innere Anspannung abzubauen. Aliya berichtet von ihrer Sorge, dass Shadi an einem Autismus leiden könnte. Inzwischen glaube ich selbst das nicht mehr, auch wenn ich es noch nicht völlig ausschließen kann. Zwar können Sprachverlust, Stereotypien, emotionale Unbezogenheit Symptome des autistischen Spektrums sein — doch nach allem, was Aliya erzählt, scheinen diese Verhaltensweisen bei Shadi immer reversibel. Fühlt er sich sicher, zeigt sich auch noch ein anderer Shadi, der durchaus sprechen kann, zu anderen Kontakt aufnimmt, mit anderen Kindern spielt. Diagnostisch bedeutsam ist, dass die besagten Symptome bei ihm erst seit der Flucht nach Deutschland aufgetreten sind, zumindest haben sie sich seither verstärkt.
Erneut fällt mir Shadis Vater ein. Ich fühle eine Hemmung, nach ihm zu fragen, überwinde mich dann aber trotzdem, gegen den inneren Widerstand, der auch noch anhält, als ich zu sprechen beginne. Kaum habe ich die ersten Worte gesprochen, ereignet sich etwas Seltsames: Für einen kurzen Moment scheint die Situation in meinem Praxisraum wie eingefroren. Als hätte etwas die Zeit angehalten und ich säße den erstarrten Figuren einer Fotografie gegenüber, nicht lebendigen Menschen. Noch ehe Aliya etwas sagen kann, befreie ich mich durch ein Räuspern aus dem Zustand.
»Er ist nicht mitgekommen«, sagt Aliya.
»Das heißt, er lebt noch in Syrien?«, frage ich zögernd.
»Nein. Er ist nicht mehr unter uns. Das hat auch den Ausschlag gegeben, dass wir weggegangen sind.«
Es ist schwer zu sagen, was Aliya fühlt. Spürbar wird in der Weise, wie sie spricht, nur die stillschweigende Aufforderung: Frag nicht weiter! Das Thema darf nicht berührt werden! Aliya sieht mich aus glasigen Augen an. Ich habe das Gefühl: Wenn ich noch weiterfrage, bricht sie in Tränen aus. Aber, so ist mein Eindruck, es wäre kein befreiendes Weinen, sondern gleichsam ein innerer Dammbruch, ein Zusammenbruch ihrer psychischen Abwehr, mit der sie sich im Gleichgewicht hält. Aber wie sollte sie dann meinen Praxisraum verlassen und ihren Alltag bewältigen? Und eigentlich geht es doch um Shadi und wie ich ihm helfen kann. Schon an dieser Stelle ahne ich, wie sehr auch Aliya zu einem Teil der Behandlung wird, wie sehr, was ich später merken werde, Shadis und Aliyas Gefühle in Verbindung miteinander stehen, ich auch Aliya helfen muss, um Shadi helfen zu können. Ich beschließe, es zunächst dabei bewenden zu lassen, wenngleich sich in mir viele Fragen auftun: Wann ist der Vater gestorben? Wie ist er gestorben? Wie hat Shadi davon erfahren? Wie geht es Aliya damit, den Kindern?
Die Stunde neigt sich dem Ende zu. Im Verlauf der Sitzung habe ich auch immer wieder einmal das Wort an Shadi gerichtet, versucht, mit ihm in Kontakt zu kommen, habe ihm etwas von dem Spielzeug angeboten, das hier in meiner Praxis ist. Nicht, dass ich eine Antwort oder Reaktion erwartet hätte. Aber ich will ihn von Anfang an einbeziehen, ihm vermitteln, dass es seine Therapie ist, dass die Erwachsenen nicht einfach über seinen Kopf hinweg für ihn entscheiden, auch, wenn er sich erst einmal nicht aktiv am Gespräch beteiligen kann. Shadi bleibt stumm. Wenn möglich, versuche ich in der ersten Sitzung auch einmal mit den Kindern alleine zu sprechen, während die Eltern eine Weile im Wartezimmer Platz nehmen. Bei Shadi scheint mir das in der ersten Stunde zu viel. Ich spüre, wie ängstlich und angespannt Aliya ist, und Shadi hat noch kein Wort gesprochen. Beide müssen vielleicht erst einmal ankommen, Boden unter den Füßen gewinnen, auch hier in meiner Praxis. Doch trotz Shadis Apathie ist mir eine Sache an ihm nicht entgangen: ein kurzer Funke in seinen Augen, der immer wieder aufgeblitzt ist — vor allem, wenn er nach dem Haus mit meinen Spielpuppen geschaut hat.
Ich sage zu Aliya: »Es ist spürbar, wie sehr Sie die Situation belastet. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns noch etwas Zeit nehmen, um alles besser zu verstehen. Vielleicht kann ich in der nächsten Woche auch einmal eine Weile mit Shadi alleine sprechen.«
Aliya und ich vereinbaren ein weiteres Gespräch. Als sie sich zum Gehen fertig macht, steckt Shadi seine Actionfigur in den Mund und kaut auf ihr herum. Spontan wende ich mich an ihn: »Das ist aber eine tolle Figur, Shadi. Hat sie einen Namen?« Beim Klang seines eigenen Namens durchzuckt es Shadi, er blickt mich kurz an, dann sofort wieder weg und kaut heftiger auf der Figur. Aliya antwortet für ihren Sohn »Das ist Iron Man.« Er habe die Figur von seinem Vater geschenkt bekommen und aus Syrien mitgenommen. Er gebe sie »niemals aus der Hand«, selbst dann nicht, wenn sie ihm neues Spielzeug kaufe, er nehme sie sogar mit ins Bett.
Aliya geht zur Tür, doch Shadi bleibt an Ort und Stelle stehen. Sie ruft ihn. »Kommst du, habibi?« — Habibi, das arabische Kosewort, klingt in mir nach. Wie Aliya es ausgesprochen hat, klingt es weich, liebevoll, nah. Auf einmal habe ich das Gefühl, neben der zielstrebigen Aliya noch eine andere Aliya vor mir zu sehen.
Ich frage: »Wie ist das eigentlich: Hier haben Sie die ganze Zeit auf Deutsch mit Shadi gesprochen. Sprechen Sie mit ihm zu Hause Arabisch?« Aliya winkt ab, verneint: In der Familie sprächen alle Arabisch, und Shadi verstehe jedes Wort. Sie selbst habe nach der Ankunft in Deutschland beschlossen, so schnell wie möglich Deutsch mit ihren Kindern zu sprechen. Damit sie später keine Nachteile hätten. »Shadi versteht Deutsch mittlerweile besser als Arabisch«, sagt sie.
Als die beiden gehen, dreht sich Aliya noch einmal um und sagt: »Ich danke Ihnen sehr, Frau Doktor, dass Sie Shadi helfen.«
Die Stunde hinterlässt mich mit zwiespältigen Gefühlen. Irgendwie fühlt es sich an, als ob ich die beiden auf gewisse Weise bereits »adoptiert« habe, gar nicht mehr fortschicken kann, obwohl ich mir nicht sicher bin, was ich für Shadi tun kann. Doch seine Geschichte berührt mich, ich will ihn nicht abweisen. In der ersten Stunde hat vor allem seine Mutter gesprochen, und ich habe das Gefühl, auch sie ist eigentlich auf der Suche nach einem Ort, an dem sie etwas loswerden kann. Wenngleich es auch große Ängste gibt, ihre Weisung »Nicht zurückschauen« durchaus auch eine Aufforderung an mich ist.
Für mich ist noch nicht absehbar, worum es in der Behandlung gehen könnte. Was hat Shadi genau erlebt? Er wirkt auf mich wie eingekapselt, in sich zurückgezogen. Das kann auf eine traumatische Angst hindeuten, auf eine tiefe Verstörung in seinem psychischen Leben, auch auf eine kindliche Trauer. Ohne Zweifel gibt es bedeutende Verluste in seinem Leben. Jeder für sich hätte schon das Potenzial, seine kindliche Seele zu überfordern. Er hat den Vater verloren, seine vertraute Umgebung, die Heimat, die Sprache. Nun ist er in ein Umfeld geworfen, in dem alles fremd ist, die Mutter viel arbeiten muss, die Familie belastet ist. Aliya leistet viel, schafft für ihre Kinder eine ökonomische Basis, damit sie eine Zukunft haben, den Anschluss finden. Aber was ist mit der emotionalen Basis? Shadi wirkt auf mich verloren, wie ein Kind, das im wahrsten Sinne kein Zuhause hat, einen Ort, an dem es sich geborgen fühlt, an dem es, auf eine kindliche Weise, all seinen Schmerz und seine Angst ausdrücken kann. Hat Shadi nicht in gewisser Hinsicht auch die Mutter verloren? Eine Mutter, die ihr Herz angesichts der Anforderungen des Alltags verhärten muss, die mit ihm nicht mehr auf die vertraute Weise umgeht, in einer fremden Sprache zu ihm spricht?
Aliyas Überlebensprinzip scheint mir geradewegs darauf zu beruhen, schmerzhafte Gefühle auszublenden, um ihre Hände freizubekommen, sich nicht in den Netzen der Vergangenheit zu verfangen. Sie versucht, vom Gestern loszukommen, sinnbildlich dafür scheint mir der Umstand, dass sie ihre eigene Muttersprache quasi abgelegt hat und auch mit den Kindern nicht mehr Arabisch spricht. Aliya hat dafür sicherlich gute Gründe, doch es ist zugleich ein radikaler Schritt. Ich frage mich, ob es nicht doch auch emotionale Motive sind, nicht nur praktische, die sie zu dieser Entscheidung bewogen haben: sich vom Alten lösen, in der neuen Welt funktionieren müssen, das heißt auch, jene unsichtbaren Fäden zu durchtrennen, die das emotionale Leben der Familie an die verlorene Heimat binden. Ist Shadis Symptom, sein Verstummen, damit nicht ein sinnfälliger Ausdruck dessen, dass er auch ganz real seine Sprache verloren hat, seine Mutter-Sprache? In psychoanalytischer Hinsicht ist die Sprache niemals nur Mittel des Informationsaustauschs, sozusagen ein Kommunikationsmedium mit beliebig austauschbaren Zeichen. Worte haben immer auch eine emotionale Qualität, sind Träger von Gefühlen und Erinnerungen. Als seine Mutter Shadi kurz »habibi« nannte, da war es mir, als würde für einen Moment etwas in ihm aufleben. Als wäre in diesem Wort etwas von dem geborgen, was er verloren hat.
Was kann ich für Shadi tun? Ich glaube, um das rauszufinden, ist es wichtig, noch besser zu verstehen, was Shadi erlebt hat — und was hinter seiner stummen Maske in ihm geschieht. Doch dazu muss ich etwas tun, wovor sich seine Mutter — und vielleicht auch er selbst — am meisten fürchtet: den Blick zurückrichten.
Mich beschäftigt meine Berührungsangst zu Beginn der Stunde. Sie hat vielleicht etwas mit dem Unaussprechlichen zu tun, das Shadi umgibt. Es geht um Ängste, aber auch um jenes Gefühl der Schuld, das nach meiner Einschätzung in vielen aktuellen Debatten um das Thema der Migration eine untergründige Rolle spielt. Schuldgefühle können in vielerlei Weise folgenreich sein. Sie können wütend machen — denn kaum etwas stachelt die Wut so sehr an wie ein Schuldgefühl. Sie können zu einer besonderen Befangenheit beitragen; aber auch in jene forcierte Gutmütigkeit umschlagen, die für den anderen nicht wirklich hilfreich ist, weil sie in Wahrheit nur ein eigenes inneres Thema beschwichtigen soll. Es ist Teil des psychoanalytischen Arbeitens, sich solcher Gefühle bewusst zu werden, denn man kann sich nicht einfach von ihnen freisprechen. Im Gegenteil wächst ihnen gerade dann jene Macht des Unbewussten zu, wenn man sie beiseitezudrängen versucht. Sie können auf diese Weise zu einem Hemmnis in der Beziehung werden, auch und gerade in einer therapeutischen Beziehung.
Wo ist Shadi in dem Ganzen? Was fühlt er? Oder besser: Wo ist der Teil in ihm, der lebendig ist und fühlen kann und der heute in meiner Praxis so wenig sichtbar war? Diese Fragen beschäftigen mich noch am Abend nach unserer ersten Sitzung. Shadis Stummheit lässt eine Lücke in unserem Kontakt entstehen, die in mir viele Fantasien weckt. Im Dämmerschlaf spät am Abend, als ich schon im Bett liege, ziehen vor meinem inneren Auge Bilder vorbei. Ich sehe Shadi in den Straßen einer zerstörten Stadt. Die Angreifer sind überall, unsichtbar, Shadi aber rührt sich nicht. Er ist ganz alleine. Vom Himmel fallen Bomben, der Junge steht da, starrt sie an, während sie auf eine unheimliche Weise langsam, wie Luftballons, auf die Erde schweben.
Was bedeutet es, seine Heimat zu verlieren? In meiner Arbeit mit Shadi wird mich diese Frage immer wieder beschäftigen. Hilfreich sind für mich die Schriften des israelischen Kinderanalytikers Joshua Durban, der mit schwer traumatisierten Geflüchteten des Nahostkonfliktes und des Libanesischen Bürgerkriegs gearbeitet hat. Heimatverlust hat dabei immer auch eine psychische Dimension, die auch dann nachwirkt, wenn man sich an einen sicheren Ort retten konnte. Der Heimatverlust bezeichnet einen Verlust von Beziehungen, Eigentum, Zugehörigkeitsgefühl, Vertrautheit, Verwurzelung, Identität — etwas, das auf einer emotionalen Ebene vor allem an Gefühle der Trauer, aber auch der Wut und Ohnmacht rührt. Ich meine, bei Aliya eine solche Form des Heimatverlustes zu erkennen, sowie den Versuch, diesen Trauerschmerz zu unterdrücken.
Bei Shadi hat der Heimatverlust aber eine noch tiefere, existenzielle Dimension, die Durban als das »Nirgendwosein« bezeichnet. Hierbei steht Heimat nicht nur für einen Wohnort oder die Zugehörigkeit zu einer Nation, sondern für ein ganz grundlegendes Beheimatetsein im Leben: das Gefühl, »da« zu sein, mit der Welt verbunden, einen Ort zu haben, an dem man sicher und geborgen ist, oftmals auf einer ganz sinnlichen Ebene. Das kann die Vertrautheit von Gerüchen, von Stimmen, von der Atmosphäre einer Umgebung, vor allem aber die emotionale Verbindung zu anderen Personen sein, in deren Gegenwart man sich zu Hause, von denen man sich gehalten fühlt. Erwachsene Menschen können eine solche Heimat in sich tragen, auch dann, wenn sie ihr Zuhause verlassen. Sie haben das, was man in der Psychoanalyse eine »internalisierte sichere Basis« nennt. Ein kleines Kind wie Shadi hat dieses Sicherheitsgefühl noch nicht verinnerlicht, ist darauf angewiesen, es jeden Tag aufs Neue zu erfahren. Der Heimatverlust bedeutet für ihn nicht nur einen Verlust von Bindungen, sondern einen Riss im Gefühl des eigenen Daseins. Ich glaube, für Shadi haben die Worte Krieg und Flucht keine konkrete Bedeutung, für ihn stehen sie für das unbegreifliche Widerfahrnis einer Katastrophe, die ihn isoliert hat von allem, was ihm vertraut war, das Zerbrechen der eigenen Welt. Traumatisch sind für ein Kind nicht nur die schrecklichen Ereignisse an sich, sondern vor allem auch dieses Zerbrechen des Weltgefühls. Shadi ist nicht in Deutschland angekommen. Er ist auch nicht mehr in Syrien. Shadi ist, in den Worten Durbans, im »Nirgendwo«.
In unserer zweiten Sitzung in der darauffolgenden Woche bitte ich Aliya, für eine Weile ins Wartezimmer zu gehen, damit ich mit Shadi alleine sprechen kann. Sie versichert mir nochmals, dass er gut Deutsch versteht, befürchtet aber, dass er nicht antworten wird, dann geht sie mit offensichtlichem Unbehagen hinaus. Shadi sieht seiner Mutter nach, als sie den Raum verlässt, aber er rührt sich nicht, sagt nichts, bleibt stumm auf seinem Stuhl sitzen. Shadi hat in dieser Stunde wieder seine Actionfigur dabei, Iron Man, einen »Eisenmann«, der von Kopf bis Fuß mit einer roten Rüstung gepanzert ist. Als wir alleine sind, sage ich zu Shadi: »Möchtest du etwas spielen?«, und zeige auf die Spielsachen, die in meiner Praxis sind. Mit den Kindern zu spielen, ist für meine Arbeit von zentraler Bedeutung. Anders als mit Erwachsenen, geschieht das Entscheidende in der Therapie mit Kindern weniger im direkten sprachlichen Austausch als beim gemeinsamen Spielen. Shadi folgt zwar meinem Blick, antwortet jedoch nicht. Ich stehe auf und hole zwei Puppen aus einer Spielkiste: »Hier ist eine Mama, schau her, die hat einen roten Pulli an. Und da ist ein kleiner Junge«, ich stelle die Puppen nebeneinander, »der steht hier neben der Mama. Wer ist denn dieser kleine Junge? Magst du ihm einen Namen geben?« Shadi rutscht langsam auf die Kante seines Stuhls, sodass seine Zehenspitzen den Boden berühren. Ich lasse die Puppen miteinander sprechen. Erst denke ich, Shadis Interesse ist geweckt, aber als ich irgendwann aufblicke, sitzt er immer noch auf der Stuhlkante und rührt sich nicht. Seine Actionfigur hält er fest umklammert, während sein Blick zwar in Richtung der Puppen geht, er innerlich aber woanders zu sein scheint.
So verloren wirkt Shadi auf mich — für einen Moment verfliegt meine anfängliche Befangenheit ganz, am liebsten würde ich ihn in die Arme nehmen. Ich lasse die eine Puppe zu der anderen sprechen, wie mit einem ganz kleinen Kind, mit einer Melodie in der Stimme: »Hier ist Shadi. Er ist bei dieser neuen Frau, die er noch gar nicht kennt. Alles ist fremd und unbekannt hier. Shadi kennt sich gar nicht aus … Was soll Shadi tun? Er weiß es nicht. Shadi fühlt sich so verloren.« Es ist schwer für mich, zu deuten, wo Shadi sich innerlich befindet, aber ich habe das Gefühl, er nimmt meine Worte auf. Er wirkt zumindest etwas aufmerksamer. Nach einer Weile lässt er sich von der Stuhlkante gleiten und setzt sich an Ort und Stelle auf den Boden. Er hält den Kopf gesenkt, aber ich sehe, wie er aus den Augenwinkeln hinüber zu den Puppen blinzelt. Shadis Körperhaltung verrät, dass er mit sich ringt, nach ihnen zu greifen. Stattdessen nimmt er seinen Iron Man in beide Hände, hält ihn vor sich wie einen Schild.
Ich: »Wer ist das? Das ist Iron Man. Shadi hat ihn von Papa bekommen. Der ist so stark und hat eine dicke Rüstung. So stark wie Shadis Papa. Aber wo ist Shadis Papa? Shadi weiß es nicht. Sein Papa ist nicht mehr da. Dabei wünscht Shadi sich so sehr, dass er kommt und ihn in den Arm nimmt. Dann würde sich Shadi stark fühlen.«
Meine Intervention ist direkt, greift ein wahrscheinlich zentrales Thema unmittelbar auf. Doch ich habe in meiner Arbeit die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, dem Unaussprechlichen, wenn es möglich ist, gleich einen Namen zu geben, gerade bei so weit in sich zurückgezogenen Kindern wie Shadi. Vielleicht kann Shadi auf diese Weise auch meine Bereitschaft fühlen, das schwer Erträgliche hier im Therapieraum zu thematisieren, es nicht von Anfang an gleich auszusperren.
Irgendwann steht Shadi auf, geht zum Tisch und stellt seine Figur an die Kante. Ist es Absicht oder ein Missgeschick? Auf einmal fällt Iron Man auf den Boden. Shadi wirkt überrascht. Mit weit aufgerissenen Augen blickt er auf die Figur, macht aber keine Anstalten, sie wieder aufzuheben, wie angewurzelt steht er da. Es liegt eine große Spannung in der Luft. »Shadi hat Angst. Er hat seinen Papa verloren. Was soll er jetzt machen? Er kann ihn nicht zurückbringen. Aber Shadi hätte seinen Papa doch so gerne bei sich.« Shadi bückt sich über die Figur, ohne sie anzufassen. Er bewegt die Lippen, aber kein Ton kommt heraus. Dann hebt er die Figur mit einer Hand auf. Er rutscht unter den Tisch, legt seinen Arm über seine Augen und schüttelt seinen Kopf.
»Shadi will sich verstecken. Sein Papa ist nicht mehr hier. Aber Shadi will stark sein, wie Iron Man. Aber er ist so traurig. Doch es kommen keine Tränen. Shadi versteckt seine Tränen hinter seinem Arm. Auch seine Mama sieht nicht, wie traurig Shadi ist. Am liebsten wäre Shadi gar nicht da.«
Nach einer Weile nimmt Shadi den Arm herunter. Er blickt mich aus wachen Augen an. Dann nimmt er seine Figur, setzt sich mit ihr vor den Stuhl, wo noch meine beiden Puppen liegen, und beginnt, die Figur über den Boden laufen zu lassen, an Mama- und Kindpuppe vorbei. Wieder bewegt Shadi stumm seine Lippen, erzählt er sich etwas? Oder singt er ein Lied, ohne Töne und ohne Worte? Ich kann ihn nicht hören.
Es ist Zeit, die Stunde neigt sich dem Ende zu. Ein wenig ist es mir gelungen, in einen ersten Kontakt mit Shadi zu kommen, die ängstliche Anspannung, die im Raum lag, etwas zu mildern. Aber Shadi wirkt weiter tief in sich zurückgezogen, viele seiner Handlungen verstehe ich noch nicht. Wie Shadi sich in meinem Therapieraum präsentiert, kann ich mir schwer vorstellen, dass er in anderen Situationen gelöst ist, spielen, sprechen und in einen unbefangeneren Austausch treten kann.
Ich spreche Aliya in dieser Woche noch einmal alleine, Samira ist dabei und passt währenddessen im Wartebereich auf Shadi auf.
Aliya wirkt irritiert, als ich ihr sage, dass nach meiner Einschätzung Shadis Problematik etwas mit der Flucht und dem Verlust des Vaters zu tun haben könnte.
»Das ist doch schon über zwei Jahre her.«
»Vermisst er seinen Vater nicht?«
Aliya wirkt nachdenklich, überlegt, ehe sie sagt: »Am Anfang hat er schon öfter nach ihm gefragt: ›Wann kommt baba?‹«
Das sei auch noch in Deutschland so gewesen. Aber irgendwann habe er aufgehört zu fragen. »Ich glaube, er hat ihn vergessen. Er ist doch noch so klein, er erinnert sich an vieles nicht mehr. Aber ich weiß es nicht genau … vielleicht vermisst er ihn auch noch.«
»Was haben Sie ihm denn gesagt, als er nach seinem Papa gefragt hat?«
Aliya wirkt von der Frage betroffen, streicht sich über die Augen, obwohl da keine Tränen sind, sagt: »Erst habe ich ihm gesagt: Er kommt bald wieder. Dann: Er ist zu Hause geblieben, habibi, wir müssen jetzt alleine klarkommen … ich konnte es irgendwie nicht sagen, ich habe es nicht übers Herz gebracht.«
»Das heißt, er weiß gar nicht, dass sein Papa gestorben ist?«
»Doch … Samira hat es ihm gesagt. Sie hat viel bessere Worte als ich. Sie kann sprechen, ich weiß nicht, woher sie die Kraft hat. Sie hat gesagt: ›Baba hatte einen Unfall. Der ist jetzt auf dem maqbara, wie Opa, auf dem Friedhof. Du kannst aber beten, wenn du mit baba sprechen willst, dann wird er dich hören.‹ Aber ich weiß nicht, ob Shadi das verstanden hat. Er fragt nicht mehr nach ihm.«
Aliya wirkt sehr angespannt. Es fällt mir schwer, weiter nachzufragen, denn es fühlt sich an, als ob ich sie in die Zange genommen hätte, in ein Verhör mit Fragen, die ihr wehtun, die etwas aufwühlen, was doch gerade erst ein wenig in ihr zur Ruhe gekommen scheint. Ich sage ihr, dass es für mich wichtig ist zu wissen, was Shadi erlebt hat. Was hat er vom Krieg und vom Tod des Vaters mitbekommen?
Aliya erzählt, dass der Vater in der Verwaltung ihrer Stadt gearbeitet hat. Zu der Zeit habe es in der Region Schießereien gegeben, und es seien immer wieder Flugzeuge und Helikopter über ihre Stadt geflogen. Größere Angriffe und Zerstörungen gab es noch nicht.
An einem Tag sei der Vater mit dem Auto und zwei Mitarbeitern in die mehrere Stunden entfernte Provinzhauptstadt gefahren, um dort etwas zu erledigen. Auf dem Weg habe es einen Unfall gegeben, alle seien gestorben. Was genau passiert ist, weiß Aliya nicht, auch nicht, ob es vielleicht doch etwas mit dem Krieg zu tun hatte, der bereits in der Provinzhauptstadt angekommen war. Erst mehrere Tage nach dem Unfall melden sich Mitarbeiter und Freunde der Familie mit der Nachricht vom Tod ihres Mannes.
»Ich habe nicht gefragt«, sagt sie, »ich wollte ihn holen, in unserer Stadt beerdigen. Aber die Bekannten am Telefon sagten, sie hätten ihn gleich beerdigt. Wir sollten nicht kommen. Es sei zu gefährlich auf den Straßen. Sie sagten auch: Geht fort, weg aus der Stadt, am besten aufs Land oder in den Libanon. Der Krieg wird bald auch zu euch kommen, es ist nicht sicher für die Kinder, es geschehen schlimme Dinge.«
Da habe sie verstanden, dass sie nicht mehr bleiben könnten. Auch ihre Familie in Deutschland habe ihr geraten: »Kommt raus, ihr müsst da weg … Und wir sind noch rechtzeitig rausgekommen. Wir hatten Glück, wir hatten auch genügend Geld. Nachdem wir gegangen sind, kam der Krieg auch in unsere Stadt. Ich weiß nicht, wie es dort aussieht, ich kann das nicht anschauen. Ich habe auch meinen Verwandten gesagt, die dortgeblieben sind: Erzählt mir nichts, schickt mir keine Bilder. Ob unser Haus noch steht, meine Schule, ich möchte das nicht wissen. Ich weiß nur, dass es Luftangriffe gab. Aber Shadi hat davon nichts mitbekommen. Nur, als wir mit dem Bus aus Syrien geflohen sind, bis wir im Libanon waren. Da haben wir gesehen, wie Bomben fallen. Nicht auf uns, aber in der Nähe, auf eine Stadt. Alle haben geschrien, als sie gesehen haben, wie etwas aus dem Hubschrauber fällt …«
Aliya kann nicht weitersprechen, sie winkt ab, jetzt hat sie wirklich Tränen in den Augen.
»Das sind schwere Erinnerungen«, sage ich.
Aliya nickt, wirkt erschöpft, abwesend. »Alles, was man will, ist doch seine Kinder beschützen …« Sie lenkt das Thema auf etwas anderes, und ich lasse sie.
Ich fühle, wie belastend diese Gespräche für Aliya sind. Dennoch ist es für mich wichtig, zu wissen, was geschehen ist, auch, um Shadi besser zu verstehen. Shadi hat zwar, wie Aliya es formuliert, »keine Leichen gesehen«, war also in diesem Sinne nicht unmittelbarer Zeuge von Mord und Gewalt. Das heißt jedoch nicht, dass die Erfahrungen von Flucht und Krieg nicht doch verheerend auf seine kindliche Seele gewirkt haben können.
Ich habe das Gefühl, dass Shadi all das Erlebte noch nicht wirklich verdauen konnte. Etwas scheint in ihm festzustecken, so wie ihm kein Ton über die Lippen kommt. Ist es die Trauer über den Vater? Der Verlust der Heimat? Vielleicht sind es aber auch Gefühle, die keinen Namen haben, ein überwältigendes Chaos, für das Shadi keine andere Lösung weiß, als es an einem unsichtbaren Ort im eigenen Selbst zu verschließen. Verstummen heißt auch: sich zurückziehen, keinen Kontakt mehr mit der Welt aufnehmen, sein emotionales Leben in einer Kapsel einsperren, wo es von anderen nicht getroffen werden kann. Inwieweit es möglich sein wird, Shadi aus seiner Verkapselung zu befreien, ist für mich noch nicht absehbar.
Ich bespreche mit Aliya, dass sie Shadi in den nächsten Monaten drei Mal pro Woche zur Therapie bringen soll. Aliya ist einverstanden. Es bedeutet einen enormen Aufwand für sie, aber sowohl Aliya als auch ich bemühen uns, eine Lösung zu finden. Als ich meinen Terminkalender weglege, schaut Aliya mich fragend an: »Wir müssen doch noch einen Termin für mich finden«, sagt sie.
Ich bin überrascht. »Sie meinen einen Termin für Gespräche, in denen es um Sie und Ihre Anliegen geht?«
Aliya nickt: »So, wie wir das bis jetzt doch auch schon machen!« Aliya nimmt mein Zögern wahr, wirkt aber entschlossen, als sie sagt: »Ich habe noch mit niemandem über diese Dinge gesprochen … mit Ihnen kann ich reden. Ich möchte hierbleiben. Ich kann mich nicht noch einmal jemand anderem anvertrauen, das geht nicht.«
Ein regelmäßiges Elterngespräch ist Bestandteil jeder Kinderanalyse. Es ist jedoch unüblich, dass derselbe Analytiker beide, das Kind und einen Elternteil, in Therapie nimmt, weil sich daraus oft komplizierte Verwicklungen ergeben, die den therapeutischen Fortschritt behindern können.
Nach einer Bedenkzeit entscheide ich mich dafür, diese Regel für Shadis Behandlung aufzuweichen. Ich habe das Gefühl, dass Shadis Entwicklung wesentlich davon abhängt, wie Aliya mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer umgeht. Auch sie braucht einen Raum, in dem sie einen Weg aus dem Dilemma »Zusammenbrechen oder Funktionieren« finden kann. Nur, wenn Aliya für sich einen solchen Raum findet, kann sie ihn auch Shadi bieten. Ich könnte Aliya natürlich auch an eine Kollegin überweisen. Aber etwas sagt mir, dass ich die beiden nicht trennen darf, beide mit ihren Anliegen zu dieser Behandlung und in diesen Raum gehören. Als würde ich in der Übertragung zu jenem väterlichen Dritten in der Beziehung zwischen den beiden, der verloren gegangen ist, der den Raum öffnet, in dem sich Mutter und Sohn wiederfinden können, ohne vor Schmerz zu erstarren.
Unser Therapiesetting wird auch deshalb möglich, weil Aliya von ihrer Familie größtenteils Unterstützung erfährt, vor allem von der Tante, die auf Shadi aufpasst.
Die nächsten Sitzungen verlaufen ähnlich wie die ersten. Eine Weile sind wir zu dritt, dann sehe ich Shadi alleine. Ich lasse die Puppen miteinander sprechen, versuche auf diese Weise, mit Shadi in Kontakt zu kommen, aber auch einen Ausdruck für seine Gefühle zu finden, etwas ins Spiel zu bringen, was noch nicht gesagt werden kann. Spielen ist viel mehr als ein kindlicher Zeitvertreib oder ein Medium, um Lernerfahrungen für die spätere Schullaufbahn zu sammeln. Spielen ist die Weise, wie Kinder sich mit der Welt auseinandersetzen. Über das Spielen ordnen Kinder ihre Gefühle, verarbeiten ihre Erfahrungen, teilen sich anderen mit. Das Spielen ist die kindliche Weise, seelisches Land zu gewinnen. Das Spiel verwandelt Geschehnisse, die zunächst unbegreiflich sind, in etwas, das sich darstellen lässt, in eine kleine Szene oder Handlung, die Kinder meist wieder und wieder nachspielen, wie um sie dadurch endlich zu verstehen. Kinder denken und sprechen, wenn man so will, mit dem Stift oder der Spielfigur in der Hand. Das Spielen eröffnet aber immer auch wieder eine neue Perspektive, ist ein Versuch, ein inneres Problem auf eine kreative Weise zu bearbeiten. Durch das Spielen kann etwas Neues entstehen. Somit gilt für Kinderanalysen: Das Spielen ist Therapie.
Es ist bezeichnend, dass Shadi kaum ins Spielen findet, als wäre genau dieser Prozess in ihm gehemmt. In den Stunden führe ich ihm eher ein Spiel mit den Puppen vor, als dass wir in etwas Gemeinsames kommen. Aber vielleicht ist das ja auch der passende Einstieg in unsere Arbeit: Shadi kann erst einmal Beobachter eines Geschehens sein, in dem es um ihn und seine Gefühle geht, muss also nicht gleich aus seinem Versteck kommen. Vielleicht weckt das ja ein wenig seine Neugierde.
Ich führe bald auch eine Puppe mit dem Namen Miriam ein — das bin ich, die Therapeutin, die Puppe mit der schwarzen Brille. Shadi beobachtet mein Spiel. Immer wieder merke ich, dass in ihm etwas vorgeht, er etwas sagen will, es aber nicht über seine Lippen kommt. In einer Sitzung gebe ich Shadi ein Papier mit Wachsmalstiften. Shadi wählt den schwarzen Stift und beginnt, Kreise auf das Papier zu malen, die sich wie in Spiralen überblenden und in der Mitte immer dichter werden. Für mich sieht es aus wie große, aufgerissene Augen, die ziellos durch den Raum blicken.
»Sind das Augen?« — Shadi blickt mich kurz an, malt dann weiter. »Was haben denn diese Augen gesehen? Etwas, das ihnen Angst macht?« Immer noch antwortet Shadi nicht. Er nimmt einen roten Stift und malt Striche in die Augen, es sieht aus wie Blut — die Augen bluten, denke ich.
In den Gesprächen mit Aliya steht neben ihrer Sorge um Shadi in den ersten Monaten die Bewältigung des Alltags im Vordergrund, ihre Arbeit, ihre Zeitplanung. Meistens geht es dabei um praktische Fragen, bei denen ich ihr beinahe etwas beratend zur Seite stehe. Ihr Alltag sei anstrengend, doch im Vergleich mit anderen Geflüchteten befinde sie sich in einer guten Situation. Sie lebe aus eigener Kraft, habe ein eigenes Dach über dem Kopf, schlafe »nicht in Turnhallen oder im Heim«. Aliya bekommt die öffentlichen Debatten um die »Flüchtlingskrise« und ihre Folgen durchaus mit. Ich habe den Eindruck, das erhöht in ihr noch den Druck. Zu beweisen, dass sie auf keinen Fall zu den »Menschenströmen« gehört, die nichts haben; dass sie nicht faul ist und nicht ungebildet und rückständig. In Syrien gehörte die Familie zur gehobenen Mittelschicht, besaß ein gewisses Klassenbewusstsein. Die Flucht nach Europa bedeutete den schamvollen Verlust des sozialen Status. Aliya spürt die Skepsis und sogar Ablehnung gegenüber Geflüchteten in manchen Teilen der Bevölkerung, auch wenn sie selbst überwiegend freundlichen Menschen begegnet sei. Aber auch das Gegenteil, allzu viel Fürsorge und mitfühlend verständnisvolle Blicke, sind für Aliya mitunter kränkend. Solche Reaktionen markieren ihre vermeintliche Bedürftigkeit, einen Eindruck, den sie gerade nicht erwecken will. Aliya kämpft nicht nur für das Überleben der Familie, sondern, das scheint mir psychologisch wichtig, auch um Anerkennung. Auch aus diesem Grund ist es für sie schwer zu ertragen, wie Shadi auf andere wirkt, als würde durch ihn offenbar, dass ihre Familie eben doch auf irgendeine Weise »beschädigt« und auf fremde Hilfe angewiesen ist. Wie erlebt sie mich vor diesem Hintergrund?
»Es war bestimmt nicht einfach, mich um Hilfe zu bitten«, sage ich.
»Für Shadi«, sagt Aliya.
»Aber auch für Sie selbst.« Aliya sagt, es sei gut, dass ich eine Frau bin. Unter Frauen habe man in ihrer alten Nachbarschaft offen gesprochen, habe man sich sagen können, was man auf dem Herzen hat. Also erlebt sie mich als eine Person, mit der sie vertraut sein kann, im Sinne einer weiblichen Solidarität, denke ich. Vielleicht verbirgt sich hier ja die Gestalt einer positiven Übertragung, die vielleicht noch unbewusste Idee, dass sie in mir etwas finden kann, was sie verloren hat, was sie aber braucht, damit es ihr besser geht. Trotzdem wirkt sie auf mich in vielen Situationen unnahbar. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre Shadi, dann scheint mir das Tempo zu hoch, der Druck zu groß. Nicht, dass ich kein Verständnis für Aliya hätte — aber aus Shadis Perspektive ist ihre innere Bedrängnis ja kaum zu begreifen, er kann ja noch nicht erfassen, was Migration und der Aufbau eines neuen Lebens bedeuten. Für ihn muss es so wirken, als wäre nach allem, was er verloren hat, nun auch seine Mutter nicht mehr wirklich für ihn da: weil sie keine Zeit mehr hat, aber auch, weil er sie mit seinen Gefühlen nur schwer erreichen kann — denn die berühren vielleicht ja gerade einen Punkt in Aliya, den sie in sich verschließen muss, stoßen auf ihr abweisendes: »Tränen machen schwach«. Ich frage mich, ob es zwischen den beiden überhaupt noch Raum für eine zärtliche Mutter-Kind-Beziehung gibt, Momente, in denen die drückenden Umstände außen vor bleiben.
»Wissen Sie schon, was mit Shadi ist?«, fragt mich Aliya im Verlauf der Sitzung.
Ich spreche mit ihr über meinen Eindruck: Shadis Symptome haben viel mit einem inneren Rückzug zu tun. Da er früher gesprochen hat und in bestimmten Situationen sprechen kann, gehe ich nicht davon aus, dass es sich um eine grundlegende Unfähigkeit zu sprechen handelt, sondern er in Situationen nicht sprechen kann, in denen er sich überfordert oder nicht sicher fühlt. Shadi befindet sich nach meiner Einschätzung in einer dauerhaften inneren Anspannung, findet nur wenige Augenblicke, in denen er sich wirklich gehalten fühlt. Die Folgen dessen, was er erlebt hat, werden vielleicht jetzt erst sichtbar. Aber ihm fehlt auch ein Moment von Sicherheit in der aktuellen Lebenssituation, wobei ich auch Aliyas Rolle anspreche.
»Früher war er so anders. Ein fröhliches Kind«, sagt Aliya, sie klingt traurig, spricht nicht weiter.
»Aber Sie waren vielleicht auch anders«, sage ich.
»Ja …«, meint Aliya nachdenklich, kommt dann wieder auf Shadi zu sprechen, »bevor das alles angefangen hat, vor dem Krieg. Da war Shadi ja noch ganz klein. Aber so aufmerksam, er hat sich für alles interessiert. Ich bin viel mit ihm herumgelaufen, wir haben alles angeschaut. Blumen, Tiere … am liebsten Katzen.« Auch damals sei Shadi schon schüchtern gewesen. Im Kontakt mit bekannten Menschen habe er aber immer sofort mit dem »Plappern« begonnen. In Aliyas Schilderungen entsteht für mich das Bild eines sozialen Umfeldes, in dem Familie und Nachbarschaft eine große Rolle spielen, für Shadi, aber auch für Aliya. Der Vater hingegen scheint meistens den ganzen Tag auf der Arbeit gewesen zu sein. Er habe Shadi oft nur am Abend gesehen, sagt Aliya, dann aber immer etwas vorgelesen oder Lieder mit ihm gesungen. »Shadi hat das geliebt. Mit seinem Vater, sein Ein und Alles.« Shadi sei seinem Vater sehr ähnlich, nicht nur äußerlich. Beide hätten Musik geliebt. »Als Shadi klein war, hat er beim Spielen immer so vor sich hin gesummt.« Manchmal habe er sich in kindlicher Weise selbst Lieder ausgedacht, am liebsten seien ihm aber die Lieder des Vaters gewesen. »Faris« — zum ersten Mal nennt Aliya Shadis Vater, ihren Mann, beim Namen. »Er hatte eine schöne Stimme, er konnte gut singen.« Als ich mich dafür interessiere, holt Aliya ihr Smartphone hervor und spielt mir einige arabische Lieder vor, die von bekannten Sängern vorgetragen werden: »Das sind die Lieder, die er gesungen hat. Damit Sie wissen, wovon ich rede.« Während das Smartphone die Lieder abspielt, lauscht Aliya ganz reglos und still. Ich habe das Gefühl, sie lässt mich an etwas Bedeutsamem teilhaben: an einem Stück ihrer verlorenen Heimat, die etwas blechern, wie aus weiter Ferne, aus dem Apparat tönt.
»Ich frage mich, wie es Ihnen geht, wenn Sie diese Lieder hören.«
»Es weckt viele Erinnerungen«, sagt Aliya bedrückt, schweigt eine Weile in Gedanken versunken, sagt dann: »Aber was hilft es mir, an früher zu denken. Es bringt nur Unglück.«
»Es tut weh«, sage ich.
Aliya nickt.
»Weil es Sie an Ihre Heimat erinnert und an Faris.«
Aliya nickt wieder.
»Einmal …«, sagt sie, unterbricht sich, ehe sie fortsetzen kann, »es war bloß einmal … früher in Syrien, da haben Faris und ich — wir haben morgens immer gemeinsam Kaffee getrunken. Wissen Sie, bevor er das Haus verlassen hat. Das war unser Ritual. Und in Deutschland, irgendwann … Ich habe eines Morgens Kaffee gemacht, es war noch sehr früh, draußen dunkel, ich war müde. Auf einmal habe ich gemerkt, dass ich zwei Tassen eingeschenkt habe: eine für mich — eine für Faris. Aus alter Gewohnheit. Aber …« Aliya stockt, das Sprechen fällt ihr schwer.
Ich sage: »Für einen Augenblick hat es sich angefühlt wie früher.«
Aliya nickt, fährt schließlich fort: »Ich habe angefangen, mit ihm zu sprechen. So, als wäre er noch da. So wie früher. Auf einmal stand Shadi im Zimmer. Er war wach geworden und muss mich reden gehört haben … Seine Augen, Frau Doktor! Seine Augen waren voller Hoffnung und Freude. Er muss gedacht haben, sein baba ist zurück.«
Aliya erkennt in diesem Augenblick die Sehnsucht in den Augen ihres Sohnes, er dringt zu ihr durch, doch sie erträgt es nicht, sie wird, wie sie mir schildert, in dieser Situation abweisend, ihm gegenüber sogar barsch. Sie schickt ihn weg, er soll sich anziehen, damit sie sich fassen kann. Als Shadi wieder an den Tisch kommt, ist die zweite Tasse weggeräumt.
»Sie haben es nicht ausgehalten, ihn so traurig zu sehen«, sage ich.
»Und er sollte auch mich nicht so traurig sehen. Da würde er nur eine Mama sehen, die weint. Aber er braucht doch eine starke Mama«, sagt Aliya.
Für mich wird in dieser Szene das Dilemma sichtbar, in dem sich Aliya befindet. Sie wehrt ihren Schmerz ab, der sie überkommt, wenn sie ihrer Trauer Raum gibt. Vielleicht wäre der Schmerz wirklich überwältigend, wehrt sie tatsächlich auch eine Depression ab, in die sie zu fallen droht, wenn sie diese psychische Abwehr aufgibt: Vielleicht könnte sie dann nicht einmal weinen, sondern würde erstarren, wie Shadi. Deswegen kann sie ihrem Sohn, der dieselbe Traurigkeit in sich trägt, nicht in die Augen sehen, seine Tränen und seinen Kummer nicht aufnehmen.
Über drei Monate Therapie sind vergangen. Shadi redet zwar noch immer nicht mit mir, aber er hat sich inzwischen so weit an die Therapiesituation gewöhnt, dass er nicht mehr ganz so passiv ist. Er traut sich nach einer Weile, die Actionfigur, die er in jeder Stunde dabeihat, auch einmal beiseitezulegen. Er bewegt sich durch den Raum, verharrt nicht immer nur an einer Stelle, greift auch selbstständig nach meinen Spielsachen, um — stets alleine, stumm — mit ihnen zu spielen. Mich involviert er fast gar nicht, aber immerhin: Ich störe ihn auch nicht. Im Gegenteil habe ich das Gefühl, dass er es eigentlich ganz gerne hat, dass ich da bin. Auf mich wirkt es oft, als warte er sogar geradezu darauf, dass ich auch einmal etwas sage, das Spielgeschehen in Worte fasse und meine Ideen einbringe. Nie kann ich wissen, ob ich mit dem, was ich sage, wirklich erfasse, was ihn beschäftigt. Manchmal kommt es mir vor, als wäre Shadi gar kein bald siebenjähriges Kind, sondern ein Säugling und ich eine Mutter, die sich auf ihr intuitives Fühlen verlässt, um zu erraten, was in ihm vorgeht. In der Psychoanalyse spricht man auch von einem »träumerischen Ahnungsvermögen«, ein Sich-Hineinfühlen und -Fantasieren in den anderen, eine Art wortloser Verbundenheit. Doch dass ich in den Stunden überhaupt fantasieren kann, mir Ideen kommen, ich nicht völlig ratlos dasitze, ist für mich ein Hinweis, dass das Tor zu Shadis innerer Welt nicht völlig verschlossen ist, auch wenn er selbst keine Worte dafür hat, was dort geschieht.
Manchmal kommt mir Shadi auch vor wie ein älteres Kind, das schon sehr wohl weiß, was es denkt und fühlt, aber möchte, dass ich es errate, und sich dann zufrieden und verstanden fühlt, wenn ich richtigliege — gewissermaßen ein Kind, das sich versteckt und gefunden werden will. Wir entwickeln nach einer Weile daraus ein Spiel. Shadi nimmt eine Puppe und zeigt sie mir, während ich versuche zu erraten, was in ihr vorgeht. »Bin ich heute müde? Heute habe ich richtig Lust, etwas zu spielen!« Shadi antwortet mir nicht, aber wirkt jedes Mal zufrieden, wenn ich einige Ideen entwickelt habe, als hätte er sich dadurch versichert: Ich mache mir Gedanken um ihn. Manchmal schüttelt er den Kopf, zeigt auf etwas, nickt, spricht mit Gesten — aber was ist mit den Worten?
In einer Sitzung nimmt Shadi eine meiner Puppen und legt sie auf den Boden. Es ist eine Puppe, die weder er noch ich bislang benutzt haben. Eine Handpuppe, die einen großen, weiten Mund hat, den man mit den Händen von innen auf- und zuklappen kann, und die mich mit ihrem Wuschelbart und ihrer Flickenkleidung an einen Räuber erinnert. Shadi holt ein Tuch, das er zu Beginn der Stunde über den Stuhl gehängt hat, und legt es der Puppe über den Mund.
»Ist das Shadis Mund? Etwas verschließt den Mund, es kann nichts herauskommen.«
Shadi ist eine Weile beschäftigt, scheint aber irgendwie nicht ganz zufrieden. Er nimmt das Tuch und versucht, es der Puppe in den Mund zu stopfen, wickelt den Rest des Tuches so um die Puppe, dass sie wie geknebelt aussieht. »Er möchte gerne etwas sagen, aber er weiß nicht, ob Miriam ihn versteht. Miriam versteht nicht die Worte, wie sie Shadis Papa gesprochen hat und seine Mama, als sie noch die weiche Stimme hatte.«
Shadi lauscht meinen Worten, wirkt unentschlossen, als suche er etwas. Er schleift die Puppe noch eine kurze Weile unruhig durchs Zimmer.
Dann bleibt er stehen und zieht das Tuch langsam aus dem Mund der Puppe.
In einer der nächsten Stunden, es ist der vierte Monat unserer Therapie, beginnt Shadi zu sprechen. Es geschieht wie beiläufig, und obwohl ich um den bedeutsamen Moment weiß, bemühe ich mich, ihn wie etwas ganz Natürliches zu behandeln, um Shadi nicht gleich wieder zu verschrecken. Es ist in einer vergleichsweise lebendigen Stunde, Shadi ist gut aufgelegt. Wir spielen eine Szene mit der Räuber-Puppe, die das Tuch geklaut und versteckt hat. Ich sage: »Was sollen wir tun? Shadis Tuch ist weg! Wer kann uns helfen?« — »Iron Man«, flüstert Shadi mit einer kratzigen Stimme, steht auf, holt seine Actionpuppe und reicht sie mir.
Ich: »Iron Man ist stark. Er kann das Tuch bestimmt zurückholen!«
»Ja«, krächzt Shadi leise, ganz ins Spiel vertieft.
»Aber er braucht einen Helfer«, sage ich, »der ihm sagen kann, wo das Tuch ist.« Shadi geht zum Sessel, unter dem er kurz zuvor den Räuber seine Beute hat verstecken lassen.
»Iron Man«, flüstert Shadi, »da sind sie.«
Was Shadi mit »sie« meint, weiß ich nicht.
Shadi hat in unserem Therapieraum seine Stimme gefunden — und er wird sie nicht wieder verlieren. Ich glaube, er hat so viel Sicherheit gewonnen, schenkt mir so viel Vertrauen, dass er es wagt, mir etwas von sich zu zeigen. Zwischen uns ist eine Verbindung entstanden — und wir werden sie brauchen für das, was noch kommt.
In den nächsten Wochen hat Shadi eigentlich nur ein Thema: die Stärke von Iron Man, seine harte Rüstung, durch die nichts dringt. Shadi erklärt mir, wie die Rüstung aufgebaut ist, wie sie Iron Man vor jedem Angriff schützt. Iron Man ist stark. Iron Man besiegt alles. Immer wieder inszeniert er Spiele, in denen Iron Man angegriffen wird. Kanonenkugeln fallen auf ihn oder Felsen bersten über seinem Kopf — alles prallt an Iron Man ab.
Ich denke, Iron Mans Rüstung ist für Shadi so etwas wie die Vorstellung von Unangreifbarkeit, das Gegengift zu all der Verzweiflung und den Ohnmachtsgefühlen, die ihn beherrschen. Iron Man ist vielleicht jemand, nach dem er sich sehnt: ein Vater, der ihn beschützt, der auch ihn, seinen Sohn, stark macht. Tatsächlich hat ihm ja Faris einst diese Figur geschenkt, und seither legt Shadi sie nicht zur Seite, nimmt sie überallhin mit. Es ist, als würde er damit die Bindung zu seinem Vater aufrechterhalten. Im Spiel erschafft er einen Vater, der nicht sterben kann, einen Iron Man, der nicht verwundbar ist, ganz anders als der wirkliche Faris. Es ist ein Vater, wie ihn Kinder sich oft erträumen, ein Garant dafür, dass die Welt sicher ist, in der man lebt. Die eigenen Eltern unverwundbar zu glauben, das gehört vielleicht zu den schützenden Illusionen der Kindheit, von denen es wichtig ist, dass sie nicht zu früh entzaubert werden.
Iron Man ist aber auch eine Figur, mit der Shadi sich identifiziert, zu der er selbst zu werden versucht. Er will sich einen Panzer anlegen, wie sein Schweigen es war: Alles prallt daran ab, nichts kann hinaus, nichts hinein, nichts ihn verletzen. Iron Mans Panzer richtet sich nicht nur gegen die Gefahren von außen, sondern auch gegen den Schmerz im Innern. Aber in diesem Panzer ist zugleich auch sein fühlendes Selbst eingeschlossen.
In einer der folgenden Sitzungen sage ich zu Shadi: »Weißt du, dass Iron Man auch eine Verletzung hat?«
Shadi sagt: »Niemand kann Iron Man wehtun.«
Ich sage: »Das stimmt. Aber früher hat jemand Iron Man einmal wehgetan, als er noch ein kleiner Junge war.«
»Wer war das?«, fragt Shadi.
»Leute, denen egal ist, wie es kleinen Jungen geht. Damals hatte er noch keine Rüstung. Er ist getroffen worden, in seinem Herzen. Und dort steckt ein Splitter, auch jetzt noch. Aber man sieht die Verletzung nicht, denn Iron Man hat jetzt seine Rüstung.«
Shadi wirkt auf meine Worte hin gebannt, nachdenklich, hält seine Actionfigur in der Hand und betrachtet sie schweigend.
Aliya ist gerührt, als ich ihr von den Fortschritten in Shadis Therapie berichte. »Es gibt also Hoffnung!«, sagt sie. Sie habe das in den letzten Wochen auch schon gespürt. Er sei immer noch verschlossen, aber aufmerksamer, mehr am Geschehen beteiligt, auch vom Kindergarten habe sie diese Rückmeldung erhalten. Das mache ihr Mut, auch wenn es noch nicht so sei wie früher. »Aber das wird doch alles wieder, Frau Doktor?«
Über ein halbes Jahr Therapie ist vergangen. Die Entscheidung über die Einschulung steht an. Aliya entschließt sich, auch auf meinen Rat hin, Shadi nicht in einer Förderschule anzumelden, sondern noch ein Jahr länger im Kindergarten zu behalten, ihm und der Therapie noch Zeit zu geben, auch wenn er dann deutlich älter als die anderen Kinder in der Gruppe ist.
Auch Aliya ist in der letzten Zeit zugänglicher geworden. Immer wieder gibt es in unseren gemeinsamen Sitzungen Momente, in denen sie mir von Syrien erzählt, das bringt sie mehrmals an den Rand der Tränen. Mithilfe unserer Gespräche bekommt sie Zugang zu ihren Gefühlen. Sie schildert »schöne Erinnerungen«, die, so sagt Aliya, eigentlich noch mehr wehtun als die schlechten. Sie erzählt auch zum ersten Mal von Shadis Großeltern. Die Großeltern väterlicherseits, die in einem anderen Landesteil lebten, sind beide schon gestorben. Der Großvater vor dem Krieg, die Großmutter während des Krieges; nicht durch unmittelbare Kriegsereignisse, aber, wie Aliya sagt, vor Kummer. Ihre eigenen Eltern sind in Syrien geblieben, leben dort bei Aliyas Schwester. Sie habe versucht, die Familie nach Deutschland nachzuholen, aber das sei immer wieder an bürokratischen Hürden gescheitert.
»Das ist sicher nicht leicht, dass Sie einen Teil Ihrer Familie zurücklassen mussten«, sage ich.
Aliya stimmt mir zu, sagt, dass ihr das Schuldgefühle bereite. Sie führe regelmäßig Videotelefonate mit ihren Eltern. Ihre Mutter weine fast immer, manchmal bitte sie Aliya, zurückzukommen, sie vermisse ihre Tochter und Enkelkinder so sehr, wolle sie endlich wieder in die Arme schließen. Aliya sagt, sie wisse, das sei nur die Art ihrer Mutter, zu klagen, sie möchte, dass die Familie in Sicherheit ist. Aber: »Es fühlt sich für mich an wie ein Vorwurf. Nach einem solchen Telefonat fühle ich mich erdrückt von Schuld. Ich habe sie im Stich gelassen, was für eine Tochter bin ich! Hätte ich wirklich gehen dürfen? Aber wer weiß, was dann aus uns geworden wäre?« Ihr großer Wunsch sei es, beide Eltern noch einmal wiederzusehen, »irgendwann, vielleicht, in Syrien oder an einem anderen Ort«.
Shadi wolle meist nicht mit seinen Großeltern telefonieren, weiche dem Kontakt aus. Obwohl er eigentlich ein gutes Verhältnis zu seinen Großeltern hatte, an den Feiertagen seien sie immer wieder in ihrem Haus gewesen, die ganze Familie mit allen Kindern habe sich da getroffen, vom Morgen bis zum Abend. Der Krieg hat Freundschaften und die Familie zerrissen und in alle Winkel der Erde verteilt. Manche sind in Syrien geblieben, manche in den Libanon und die Türkei emigriert, andere nach Europa, ihr Bruder sei mit seiner Familie sogar mittlerweile in den Vereinigten Staaten gelandet. Gab es in der ersten Zeit noch eine vage Hoffnung, dass all die Trennungen und Verluste nur vorübergehend seien, so habe die Realität längst ein anderes Urteil gesprochen. Je länger der Krieg andauert und kein Frieden kommt, desto größer wird die Gewissheit: Es wird keine Rückkehr geben. Vielleicht werden einmal neue Häuser gebaut auf den Trümmern der zerstörten Heimat, aber die Trümmer ihres alten Lebens werden sich nicht wieder zusammenfügen.
Auch auf Faris kommt unser Gespräch.
»Was war er eigentlich für ein Mensch?«
»Ein guter Mann«, sagt Aliya etwas kurz angebunden, und nach einem Zögern: »Aber auch streng. Faris wusste, wo es langgeht, das hat er immer auch gesagt. Er hatte trotzdem ein gutes Herz. Er hat zu viel gearbeitet, aber immer für die Familie. Er hatte ein hartes Leben, schon als Kind. Er konnte auch hart mit seinen Kindern sein. Aber er hat sie geliebt, wie ein Löwe.«
»Ich kann mir vorstellen, dass auch Shadi seinen Papa geliebt hat.«
»Er hat zu ihm aufgeschaut. Er konnte kaum laufen, da hat ihn sein Vater schon mitgenommen. Wenn es etwas zu reparieren gab oder zu Besorgungen in der Stadt. Er hat immer gesagt: ›Shadi, ich brauch deine Hilfe. Wir müssen etwas für die Mama und deine Schwestern holen.‹ Shadi war immer stolz, dass er mitdurfte. Er ist auch schon immer früh aufgewacht, ich glaube, um seinen baba vor der Arbeit noch zu sehen. Ich hab dann gesagt: ›Lass baba schlafen, ihr habt noch genug Zeit zusammen!‹« — wieder kämpft Aliya mit den Tränen. Aber sie wechselt nicht das Thema, so wie in den Stunden zuvor, sondern fasst sich und sagt:
»Shadi war ja noch klein. Aber Faris, das war sein Held. Es tut mir so leid, dass er ohne baba aufwachsen muss … wollen Sie einmal etwas sehen?« Aliya steht auf und holt ihre Tasche, die sie an die Garderobe im Behandlungszimmer gehängt hat. Sie holt Fotos aus ihrem Geldbeutel und reicht mir das erste.
Das Bild zeigt Faris mit Shadi auf dem Schoß, er ist da kaum anderthalb Jahre alt. Das Foto hält den Moment fest, da Shadi sich zu seinem Vater umgedreht hat und ihn anlächelt, den Mund halb geöffnet, als wollte er etwas sagen, »baba« vielleicht. Faris, ein großer Mann mit einem schmalen Gesicht und dunklem Haar, das bereits etwas schütter ist, blickt seinen Sohn an, aber er lächelt nicht, sondern wirkt auf eine schwer deutbare Weise ernst und nachdenklich.
»Das Bild habe ich bei mir, zusammen mit den Fotos von Samira und Anisa und meinen Eltern und einem Foto von unserem Hochzeitstag«, Aliya reicht mir die Bilder der Reihe nach, zeigt auf ihr Herz: »An keinem Tag hab ich sie weggelegt. Das sind meine Mala’ika, meine Engel.«
Ich halte die Fotos eine längere Zeit in der Hand, vertiefe mich insbesondere in das Bild von Shadi und seinem Vater.
Das ist eigentlich noch gar nicht so lange her, muss ich denken. Das Foto ist vielleicht vor fünf Jahren aufgenommen worden. Dennoch ist es wie ein Blick in eine andere Welt. Keine zwei Jahre hat Faris von diesem fotografierten Augenblick an mehr zu leben; und mir ist, als wäre seinem rätselhaft ernsten Blick eine Ahnung der Katastrophe eingeschrieben, die sich vor ihm — wie vor einem ganzen Land — aufzutürmen beginnt. Auch Shadi scheint ein anderer. Ich erkenne seine Gesichtszüge, aber es fehlt das Verschlossene und der Schatten jenes Ernstes, den seine Augen heute tragen.
Unser erstes Therapiejahr neigt sich dem Ende zu, als sich ein abermaliger Wandel ankündigt. Die Therapie hat etwas in Bewegung gesetzt, in Shadi, in Aliya und in der Beziehung zwischen den beiden. Doch das bedeutet auch, dass jenes Unaussprechliche den Raum betritt, das bislang von der psychischen Abwehr der beiden ferngehalten wurde.
»Etwas stimmt nicht mit Shadi«, sagt Aliya in einer Stunde kurz vor den Weihnachtsferien.
Auch ich habe bereits bemerkt, dass etwas mit Shadi vorgeht. Zwar spricht und spielt er in den Therapiestunden und hat einige Symptome abgelegt. Dafür sind in letzter Zeit neue Schwierigkeiten hinzugekommen. Insbesondere Trennungssituationen sind für Shadi nicht leicht zu ertragen, obwohl er damit bislang kein Problem zu haben schien. Hat er lange kaum eine Reaktion gezeigt, wenn seine Mutter das Zimmer verließ, so hat er es sich nun zu fast jeder Sitzung zum Ritual gemacht, sie zu fragen: »Wohin gehst du?«, worauf Aliya stets antwortet: »Wie immer: ins Wartezimmer.«
Ein paar Male kommt es während unserer Sitzung vor, dass Shadi sein Spiel unterbricht, aus der Tür lugt, um sich der Anwesenheit seiner Mutter zu versichern. Aliya reagiert darauf zunehmend genervt, verdreht auf Shadis Nachfragen die Augen, ohne weiter auf ihn einzugehen, schimpft ihn manchmal: »Shadi, du bist ein großer Junge, jetzt hör auf, mich jedes Mal zu fragen. Du weißt doch, wo ich bin!« Aliya erzählt, dass es morgens mit Shadi geradezu »Kämpfe« gebe, weil er nicht in den Kindergarten gehen, sondern bei Aliya bleiben wolle. Aliya wirkt verärgert über Shadi, aber vor allem erschöpft.
Auch mir gegenüber zeigt sich Shadi in zunehmendem Maße ängstlich anhänglich. Zu Stundenanfang oder -ende zeigt er mitunter seltsame bis hin zu bizarre Verhaltensweisen. Wenn Shadi sich freut, mich zu sehen, wirft er sich manchmal in einer Art Gebetshaltung auf den Boden, kippt zur Seite, dann steht er auf, als wäre nichts gewesen. Bevor er geht, nimmt er mit der rechten Hand seinen linken Arm und schüttelt ihn heftig, sodass sich ein abstrus aussehendes Winken ergibt — ein wenig, wie man es bei kleinen Babys manchmal macht. Andere Male grimassiert er auf eine übertriebene Weise, mit einem Ausdruck, der mich an eine Momentaufnahme eines weinenden Säuglings erinnert, nur um im nächsten Moment mit einem »Okay, tschüss!« und ohne einen weiteren Blick aus der Tür zu verschwinden.
Insbesondere meine Urlaube machen Shadi zu schaffen. »Kommst du wieder?«, fragt er verunsichert, als ich ihm erkläre, dass bald eine Therapiepause ansteht. Ich nutze die verbleibenden Stunden, um mit ihm an seiner Angst zu arbeiten, aber Shadi bleibt bis zuletzt sichtlich skeptisch. Aliya erzählt später, dass Shadi während der Urlaubspause »unaufhörlich« nach mir gefragt habe, immer mit dem Unterton einer ängstlichen Überzeugung, dass ich »verschwunden« sei und er »nie wieder« zu mir kommen dürfe. Er denkt sich dazu dramatische Geschichten aus: Ich sei entführt worden oder bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, manchmal mit der Wendung, dass ich mich jetzt um andere Kinder kümmern müsse, in New York, also ganz weit weg. Dann fantasiert er von Spider-Man, der sich durch die Stadt schwingt, um Kinder zu retten — neben Iron Man sein Lieblings-Superheld.
Shadi wird auch von intensiven Albträumen heimgesucht. Wo vorher nur jener gestaltlose Schrecken der Nacht war, pavor nocturnus, kann Shadi sich nun an seine Träume erinnern: Shadi träumt von schwebenden Augen, auf die geschossen wird, von einem Himmel, der wie die Decke eines Hauses einstürzt, von Schatten, die ihn jagen, um ihn ebenfalls zu einem Schatten zu machen.
Aliya erzählt, dass Shadi auf einmal eine große Angst vor der Dunkelheit entwickelt habe, verlangt, dass immer ein Licht anbleibt. Er fürchte sich vor dem Einschlafen, vor den Albträumen, aber auch davor, dass ihm »nachts etwas passieren« könnte. Was genau, bleibt diffus. Nur ein einziges Mal erzählt er Aliya von »Venom« — ein Anti-Held aus den Spider-Man-Geschichten —, der durch den Schrank in seinem Zimmer einbreche und dann an seinem Bett stehe. Immer wieder kommt er nachts zu Aliya ans Bett, sucht Trost und Beruhigung. Aliya schimpft Shadi dann, schickt ihn wieder zurück in sein eigenes Bett: »Dafür ist er zu groß. Er soll schlafen.«
Das neue Jahr beginnt, unser zweites Therapiejahr, aber diese neue Symptomatik verschwindet nicht, steigert sich in den kommenden Wochen gar. Aliya wird immer besorgter, und nach und nach mischen sich auch einige skeptische Töne in ihre Bemerkungen zu Shadis Therapie: »Frau Doktor, Sie sollen Shadi doch helfen. Jetzt wird es aber schlimmer! Was ist los mit ihm?« Er benehme sich wie ein Kind, das »verrückte Geschichten« erzählt. Aliya ist aber nicht nur besorgt und von Shadi genervt. Sie schämt sich auch für ihn, gerade dann, wenn er seine bizarren Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit zeigt, etwa im Kindergarten. Auch ihr Onkel kritisiere Aliya für ihre Entscheidung, Shadi in eine Therapie zu schicken, er mache Druck und rate ihr, alles besser »innerhalb der Familie« zu klären, Psychologen könne man nicht trauen, das habe er ihr von Anfang an gesagt. Ihre Tante hingegen unterstütze sie nach wie vor, sage: »Lass ihn reden, Aliya, er weiß nicht, wovon er spricht. Gib Shadi Zeit, sei nicht so hart, zeig ihm deine Liebe.« Doch Aliya begegnet Shadi weiterhin mit Strenge. Müde und erschöpft von ihrem anstrengenden Alltag hat sie nur einen kurzen Geduldsfaden. »Shadis Vater hätte so ein Verhalten nicht geduldet«, sagt sie.
Mich überrascht Shadis Verhalten nicht, auch macht es mich weniger besorgt, obwohl auch ich die Heftigkeit seiner Ängste in den Stunden wahrnehmen kann. Shadi hat sich bislang selbst mit einem Iron-Man-Panzer zusammengehalten, sich vor der Überforderung seiner Lebenssituation, aber auch vor den eigenen schmerzhaften und verwirrenden Gefühlen geschützt. Die Therapie hat ihm geholfen, diesen Panzer in immer mehr Situationen abzulegen. Etwas, das ihm auch dadurch möglich wurde, dass Aliya ebenfalls an einigen Stellen zugänglicher geworden ist, auch wenn sie selbst ihren Panzer der Unerbittlichkeit noch nicht aufgeben kann. Nun bricht sich vielleicht vieles, das Shadi bislang in sich verschlossen hatte, chaotisch und ungeordnet Bahn: Affekte, Erinnerungsfetzen, Fantasien, die Shadi selbst noch nicht begreifen, in Worte fassen, aber doch auf eine gewisse Weise zulassen kann. Sinnbildlich scheint mir dafür, dass er nun zusammenhängende Traumbilder träumt: also überhaupt innere Bilder formt, statt wie vorher nur aus einem traumlosen Schlaf zu schrecken, was aus psychoanalytischer Perspektive immer ein wichtiges Zeichen ist, dass ein Prozess psychischer Verarbeitung in Gang gekommen ist.
Im Zentrum dieser Entwicklung steht für mich Shadis Trennungsangst. Ich glaube, dass sie entsteht, weil er sich überhaupt erst wieder auf emotionale Bindungen einlässt, vertrauen kann. Im Panzer war er alleine, ohne Panzer ist er auf andere angewiesen. Das bedeutet aber auch: der Angst ausgesetzt zu sein, den anderen verlieren zu können. Shadi reagiert auf diese Angst, indem er anhänglich wird, nicht mehr von Aliyas Seite weicht, auch um mich Angst hat, mich nicht verlieren will. Als wäre etwas in ihm aus einer Starre erwacht, als würde er jetzt erst wieder wahrnehmen können, dass er die Menschen nicht verlieren will, die er so lieb hat — nicht noch einmal.
Ich versuche, Aliya meine Perspektive auf das Geschehen zu erklären. Sie ist zwar etwas beruhigt, dass ich Shadis Verhalten auf irgendeine Weise für »normal« halte. Zugleich fällt es ihr aber schwer, sich wirklich für das zu öffnen, was Shadi an sie heranträgt, verschließt sie sich vor ihm, indem sie ihn zurückweist, Shadis Verhalten selbst für »unsinnig« erklärt. Mein Gefühl ist, dass Aliya innerlich unter immer stärkeren Druck gerät, weil Shadis »verrückte Angst« und seine »verrückte Trauer« auch in ihr emotionale Resonanzen anstoßen, die sie ihrerseits unterdrückt hat. Auch in ihr ist etwas Unverarbeitetes, Chaotisches, das ihr große Angst macht.
Was ist meine Rolle in diesem Dreieck? Ich glaube nicht, dass es in dieser Phase der Therapie darum geht, in einer aktiven Weise Probleme zu lösen, sondern eher das zu tun, was man »Holding« nennt, »Halten«. Es geht darum, eine gemeinsame Krise durchzustehen, die vielleicht notwendig entstehen muss, und in dieser Krise muss ich ein Halt für Aliya und für Shadi sein. Das Öffnen jenes Panzers, mit dem Shadi seine — und auch Aliyas — Gefühlswelt bislang geschützt hat, setzt panische Angst frei. Diese ergreift vor allem von Aliya Besitz: Sie fürchtet, Shadi könne wirklich »verrückt« werden, wenn wir die Therapie fortsetzen.
Was bedeutet es, für jemanden ein emotionaler Halt zu sein? Weder darf ich mich den Ängsten der beiden verschließen, gewissermaßen mit einer pseudosouveränen Unangreifbarkeit an meinem Therapieprogramm festhalten, noch darf ich mich von diesen Ängsten zu sehr mitreißen lassen. Gehalten zu werden, das bedeutet vielleicht: sich von jemandem verstanden fühlen, seine Angst mit jemandem zu teilen, ohne ihn dabei zu überwältigen. Das vielleicht ist die wichtigste Aufgabe in einer Psychoanalyse, allemal in einer Kindertherapie.
»Sie haben so eine Angst, dass etwas außer Kontrolle gerät«, versuche ich in einer Stunde zu benennen, was in Aliya vorgeht.
Tatsächlich wirkt Aliya vor allem ängstlich, beginnt, sich auch an mich und meine Einschätzung zu klammern, beschreibt immer wieder Shadis beunruhigendes Verhalten, in der Hoffnung, dass ich ihre Ängste beschwichtigen kann, indem ich es für »normal« erkläre. Ich komme immer mehr in die Rolle eines beruhigenden Elternteils, das sich zwar sehr bemüht, etwas Hilfreiches zu sagen, dem es zugleich aber nicht wirklich gelingt, seinem Kind die Angst zu nehmen. Aliya kommt verzweifelt in eine Stunde, berichtet, dass Shadi nachts ins Bett gemacht habe. Sie wacht auf, als Shadi schreit: »Blut, Blut!« Erschrocken rennt sie in sein Zimmer, sieht, was passiert ist. Verärgert schimpft sie ihn: »Da ist kein Blut, du hast ins Bett gemacht!« Sie zieht ihn um, wechselt die Laken. Shadi will aber nicht zurück ins eigene Bett, fürchtet sich, schreit in Panik, als Aliya ihn alleine zurücklassen will. Schließlich gibt sie nach und lässt ihn bei sich schlafen. »Wie ein Baby!«, sagt sie noch in der Stunde in mürrischem Ton.
Aliya hat in gewisser Hinsicht recht. Shadis Verhaltensweisen sind, in der Fachsprache der Psychoanalyse, regressiv, das heißt, sie entsprechen einer Lebensphase, die Shadi eigentlich bereits hinter sich gelassen hat. Doch solch ein regressives Verhalten ist nicht selten in Krisensituationen sowie in intensiven Therapieprozessen. Shadi sucht nach Halt, wird zum »Baby«, das sich an Aliya klammert, das sich nur sicher fühlt, wenn er sie körperlich nahe bei sich hat, mit all jenen Problemen und Malheurs, die zu diesem Babysein gehören.
»Vielleicht muss er für eine Weile ein wenig Baby sein. Und Sie eine Mama, die ihn hält«, sage ich, auch wenn ich tatsächlich von Aliyas Worten beunruhigt bin, Sorge habe, die Therapie könnte kippen, vor allem die Bereitschaft Aliyas, dem therapeutischen Prozess zu vertrauen.
Die Sitzungen der folgenden Wochen werden schwierig, für Shadi und Aliya, aber auch für mich. Shadi beginnt nach und nach dem Grauen, der Trauer und dem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Er tut dies auf eine kindliche Weise, in der Sprache seines Spiels und seiner Handlungen.
In manchen Stunden verwüstet er geradezu mein Zimmer, schmeißt das Spielzeug durch die Gegend, hinterlässt in meinem Praxisraum eine Landschaft des Chaos. Shadi spielt mit den Figuren Kampfszenen nach: Hubschrauber, die Bomben werfen, Menschen, die aufeinander schießen, Autos, die nach wilden Fahrten aufeinanderprallen. Er malt Häuser, die von Bomben getroffen werden, teils noch ganz, teils zerstört sind, Gestalten mit gefährlich scharfen Messern und spitzen Zähnen, Einzelteile von Körpern, manchmal auch Bilder, deren ganze Fläche in leuchtenden Farben mit alles verschlingenden Flammen bemalt sind. Und immer wieder: blutende Augen — mal in wilden Kreisen Knäuel bildend, mal körperlos vereinzelt auf der Bildfläche schwebend. Schwarz und Rot beherrschen Shadis Bilder. Zwar haben die meisten Kinder eine lebhafte Fantasie, die auch keine Scheu vor einer drastischen Ausgestaltung hat. Das Bedrückende wie Erschreckende an Shadis Bildern aber ist der Grad an Realität, der ihnen innewohnt. Sie gleichen den Trümmerlandschaften syrischer Städte und dem Grauen, das dort geschieht. Auch, wenn Shadi selbst nicht jedes Detail als Augenzeuge erlebt hat, so ist diese Landschaft der Zerstörung doch auch ein Teil seiner inneren Landschaft geworden, zusammengesetzt aus eigenen Erlebnissen, Dingen, die er vielleicht gehört oder in den Medien gesehen hat, bearbeitet von seiner kindlichen Fantasie. Es ist, als würde etwas nun erst vollends sichtbar: Es gibt einen Teil in ihm, der zerstört ist, der in Flammen steht, in dem die Bomben fallen und geliebte Menschen verloren gehen, in dem Krieg herrscht. Hier in meinem Zimmer werden die Trümmerfelder seines Traumas sichtbar. Doch es ist ein bedeutender Fortschritt, dass Shadi seine innere Welt gestalten, über ein Bild zum Ausdruck bringen kann. Sein Malen, trotz der Brutalität seiner Bilder, ist ein Versuch, das Geschehene zu begreifen und es mir mitzuteilen.
In mancher Stunde muss auch ich mit den Tränen ringen. Und nicht immer kann ich die Therapie hinter mir lassen, am Abend, wenn ich zu Hause bin. Der Schrecken, den Shadi aufs Papier wirft, dringt zu mir durch — doch nicht als Angst, nicht als Panik, sondern als unsagbarer Schmerz, der mich ergreift und für den ich kein passendes Wort finde. Diesen Schmerz zu fühlen, seine Berührung nicht zu scheuen, scheint mir in diesen Momenten nicht im Widerspruch zu meiner Professionalität zu stehen.
Ein Trauma ist nicht einfach nur ein schlimmes Erlebnis. Es bedeutet auf einer psychischen Ebene stets, von einem Geschehen überwältigt zu werden, einem Ereignis ausgesetzt zu sein, das die psychische Struktur durchschlägt, ein Loch in die eigene Seele reißt. Etwas ist geschehen, das nicht begreifbar, nicht in Worte zu fassen ist, ein namenloser Schrecken, der fortan im eigenen Selbst haust. Die Psyche versucht, den Schrecken fassbar zu machen, das Loch zu schließen, das Geschehene zu begreifen, meist dadurch, dass sie es immerzu wiederholt, wiedergeschehen lässt: vor dem inneren Auge, das sich nicht von der verstörenden Szene lösen kann, manchmal auch, indem die Betroffenen wie unter einem Zwang die traumatisierende Situation wiederaufsuchen. Es ist ein oftmals langer Prozess, ehe in Therapien aus diesem Schrecken Sprache wird.
Ich versuche, das Geschehen zu benennen, vor allem die Gefühle zu benennen, die im Raum sind: »Da ist so eine große Angst«, oder: »Hier ist so viel Wut.« Ich versuche auch immer wieder spielerisch, eine andere Auflösung für die Szenen zu finden, die Shadi malt und in seinem Spiel darstellt, biete Shadi Alternativen für den Ausgang der Geschichte an, hilfreiche oder rettende Figuren, aber darauf geht er kaum ein. Es ist, als müsse er das Spiel genau so und nicht anders spielen. Mehrere Wochen geht das so.
Ins Zentrum von Shadis Spiel gerät abermals Iron Man, den er nach wie vor in jede Stunde mitbringt. Shadi setzt Iron Man dem Beschuss von Kanonen, Feuer und anderen Angriffen aus, lässt ihn in einen Hinterhalt geraten, den ihm Venom stellt. Aber all das prallt nicht mehr an ihm ab. Shadi lässt Iron Man verwundet zurück, die Angreifer finden eine offene Stelle in seinem Panzer, Shadi ahmt seine Schreie nach. Andere Figuren versuchen, Iron Man zu retten, doch es gelingt ihnen nicht. Iron Man kämpft, wehrt sich, aber bleibt doch in den Händen seiner Feinde.
Die Figuren und Personen auf Shadis Bildern sind allesamt in überfordernden Situationen gefangen, einer übermächtigen Gewalt ausgeliefert, die über sie hereinbricht, gegen die sie sich nicht wehren können und für die »Venom« vielleicht nur ein sprechendes Bild ist. Selbst Iron Man ist nicht mächtig genug, sich gegen diese Gewalt zu wehren. Eine Gewalt, wie sie Shadi ja tatsächlich selbst widerfahren ist: der Krieg, »sie«, die Angreifer, unbekannte namenlose Wesen, die ihm alles nehmen können: Freunde, Sprache, Heimat; Begebenheiten, die so schrecklich sind, dass Mama im Fernsehen weiterschalten muss, wenn nur das Wort »Syrien« fällt. Die selbst noch jenen Menschen überwältigen und aus seinem Leben reißen, den Shadi bis dahin für unbesiegbar gehalten hat, zu dem er aufgesehen hat, an dessen Seite er sich sicher und geborgen gefühlt hat: seinen Vater.
Die Erfahrung einer unbegreiflichen Gewalt, die die scheinbar unerschütterlichen Grundfesten des eigenen Lebens zum Einsturz bringen und die schützende Macht der Eltern brechen kann, beschreibt Joshua Durban in seinen Arbeiten als eine der zentralen psychischen Folgen des Heimatverlustes durch Krieg und Vertreibung. Je mehr diese Gewalt das eigene Leben beherrscht, desto weniger Auswege bleiben einem Kind, sodass es sich zuletzt mit ihr identifizieren und sich ihren Prinzipien unterwerfen muss. Auch wenn Shadis Spiel sehr von der Gewalt geprägt ist, er im Spiel auch die Täterseite einnimmt, durchaus mit einer gewissen Lust, glaube ich nicht, dass er dieses Prinzip der Gewalt tiefgreifend verinnerlicht hat. Sein Wüten und Zerstören scheint mir vorrangig einer anderen psychischen Funktion zu dienen, nämlich ihn vor dem eigenen Trauerschmerz zu schützen. In der Psychoanalyse gibt es hierfür den Begriff der ›armierten Trauer‹: der Versuch, den Gefühlen von Verlust, Schmerz und Überwältigung dadurch zu begegnen, dass man zu den Waffen greift, selbst zum Angreifer wird. Dies kann im Dienste des Guten geschehen, wie bei Batman und vielen anderen Comichelden, die versuchen, ein persönliches Trauma zu heilen, indem sie wehrhaft werden, das Böse verfolgen. Das Gegenteil geschieht, wenn man sich selbst der Zerstörung verschreibt, sein Trauma zu heilen versucht, indem man selbst zum Traumatisierer wird: Joker. Beide Seiten jagen aber letztlich dem Spuk ihrer unbewältigten Geschichte hinterher, bleiben im Zirkel der Gewalt gefangen.
In Shadis Spielen liegt ein solches Moment der armierten Trauer, des Versuchs, eine Verletzung dadurch zu bewältigen, dass er im Spiel die aktive Rolle ergreift. Shadi wird zum Angreifer, fügt seinem Iron Man all die Schmerzen zu, die Shadi in sich selbst fühlt. Als könnte Shadi durch diese Aneignung der Macht dem Gefühl der Ohnmacht entgehen. Ich versuche behutsam auch die andere Seite anzusprechen: seine eigene Verletztheit. Denn um die geht es ja letztendlich.
»Jetzt ist Iron Man nicht mehr unbesiegbar. Er ist verletzt und er braucht Hilfe«, sage ich.
»Keiner kann Iron Man helfen!«, erwidert Shadi.
»Dabei braucht er vielleicht gerade jetzt jemanden, der ihn nicht alleine lässt.«
Es dauert eine ganze Weile, viele Stunden, ehe sich sein Wüten etwas beruhigt, Shadi auch anderen Gefühlen Raum lässt. In einer Sitzung, einige Wochen später, wird Shadis Spiel zum ersten Mal etwas ruhiger. Iron Man ist gefangen und alleine auf einer Gefängnisinsel, einer umgedrehten Schachtel, auf die Shadi die Figur setzt. Wir kommen in ein Spiel, in dem ich mit meiner Puppe Miriam an die Gefängnistür trete und ihn frage:
»Warum bist du da so alleine drin?«
Shadi lässt Iron Man von seiner Gefangenschaft erzählen. Er gestaltet die Geschichte aus, berichtet, wie Iron Man geflohen ist, wie er gekämpft hat. Doch es mischt sich etwas Nachdenkliches in seine Fantasie. Shadi spricht mit gesenktem Kopf vor sich hin, und auf einmal kommt er mir wie ein unendlich verlorener Junge vor. Er nimmt seinen Iron Man in die Hand und lässt ihn sagen, weniger zu mir, als vor sich hin gemurmelt, mit einer kindlich hellen Stimme: »Ich habe ein Kind. Einen Jungen. Aber der ist weg!«
»Deshalb bist du so traurig, Iron Man. Du würdest ihn so gerne wiedersehen«, sage ich.
»Ja, ich will zu ihm schwimmen. Aber da ist so ein großer Sturm auf dem Meer, da gehe ich unter … Und jetzt ist er bei einer anderen Familie. Er kommt nie wieder zurück!«
»Und auch der kleine Junge ist traurig. Der würde so gerne wieder zu seinem Papa gehen. Der Junge würde über das Meer schwimmen, wenn er könnte. Aber wo der Papa ist, da kann ihn der Junge nicht finden«, sage ich. Dann sehe ich Shadi direkt an: »Manchmal, Shadi, würdest du auch gern deinen Papa finden. Er ist in Syrien, auf dem Friedhof, so weit weg, dass Mama und du nicht dorthin könnt.«
Shadi sieht mir unverwandt in die Augen, als ich sage: »Manchmal fühlst du dich ganz allein hier und vermisst deinen Papa. Das macht dich so traurig.«
Shadi will Iron Man etwas antworten lassen, er öffnet seinen Mund, aber es kommen keine Worte. Plötzlich springt Shadi auf, wie in Panik, fasst sich ans Gesicht, ruft voller Entsetzen: »Ich blute! Miriam, hilf mir! Ich blute!«
Ich schrecke auf, kann aber nichts sehen. Shadi hält sich mit beiden Händen das Gesicht. Auf einmal verstehe ich.
»Es ist nichts Schlimmes«, sage ich, »das ist kein Blut, Shadi. Das sind Tränen. Du weinst.«
Über das ganze zweite Therapiejahr hinweg ist Shadi in seinem Spielen und Malen mit den Themen Zerstörung und Kampf beschäftigt, aber auch mit Trauer und Verlust. Mal spielt er sich in die Rolle des Verlassenen, mal in die Rolle dessen, der andere verlässt. In seinem Spiel wird jener Wandel greifbar, der auch seinen Trauerprozess beschreibt: Statt Blut fließen zunehmend Tränen. Ich spreche mit Shadi über seinen Vater und über seine Heimat, aber auch über seine Erfahrungen mit Aliya und seinen Schwestern sowie über seinen Alltag im Kindergarten. Shadi malt viel, malt sein Haus in Syrien, in dem er gewohnt hat, und setzt dort alle möglichen Personen hinein, auch Kinder aus dem Kindergarten in Deutschland. Es gibt immer wieder auch Sitzungen, da scheint sich ein Knoten zu lösen. Shadi spielt mit einer selbstvergessenen Freude, so frei, wie ich es bislang nicht bei ihm gesehen habe: schlicht wie ein kleiner Junge von sieben Jahren, den Feuerwehrautos und Fußballstars beschäftigen.
Kinder trauern anders als Erwachsene, gewissermaßen mit einer größeren Schnelllebigkeit, oftmals auch mit einer größeren Unbefangenheit. Vielleicht auch, weil das Konzept Tod, der Zeithorizont der Endgültigkeit für Kinder noch viel schwerer zu greifen ist als für Erwachsene. Shadi macht sich Gedanken darüber, wie Faris mit geschlossenen Augen in einer Höhle unter der Erde liegt, fragt, ob er da nicht bei den Maulwürfen wohnt. Er stellt ganz direkte Fragen, die eher von Neugier als von Betroffenheit geleitet scheinen. Ich versuche, ihm, so gut es geht, zu antworten, auch Aliya anzuregen, mit Shadi über den Tod seines Vaters zu sprechen: Warum ist Papa gestorben? Was ist ihm passiert? Wo ist er jetzt?
Eine bekannte Wendung vergleicht das Trauern von Kindern mit dem Pfützenspringen, man spricht dann von »Pfützentrauern«. Während das Trauern von Erwachsenen etwas von einem Schiff hat, das auf den Wellen eines stürmischen Meeres hin und her gerissen wird, scheinen Kinder im einen Augenblick in das Gefühl der Trauer zu springen, ganz von ihm umfangen zu sein, während sie sich im nächsten Moment davon befreien können, ihre Trauer scheinbar abschütteln, als hätten sie sie vergessen. Es ist ein großer Fortschritt, dass Shadi aus dem Zustand der Erstarrung in diesen Prozess der Pfützentrauer übergehen kann. Denn das bedeutet auch, dass er seine Lebendigkeit — seine Sprunghaftigkeit — zurückgewinnt.
Auch bei Aliya setzt schließlich eine Veränderung ein. Zunächst nur äußerlich: Sie erhält eine feste Anstellung als Dozentin an der Volkshochschule, was ihr nicht nur mehr Sicherheit, sondern auch mehr Geld bringt und ihr ermöglicht, den Wochenendjob in der Gastronomie aufzugeben. Sie hat mehr Zeit für die Kinder, aber auch mehr Zeit für sich. Die Entlastung von den realen Sorgen und Nöten des Alltags schenkt ihr innerlich mehr Raum zum Nachdenken und Nachfühlen — was auch in der Therapie spürbar wird. Der Druck, den sie auf Shadi ausübt, lässt etwas nach, auch, weil sie merkt, dass Shadi stabiler wird, die befürchtete Katastrophe nicht eintritt.
Zum ersten Mal im Verlauf unserer gemeinsamen Arbeit schildert Aliya in dieser Zeit einen Traum. Der Traum verfolge sie schon länger, wiederhole sich seit Jahren. »Eine Botschaft von Faris«, sagt sie. Im Traum kommt sie von der Arbeit nach Hause. Alles wirkt ganz real, die Wohnung, Einrichtung, Atmosphäre. Als sie das Schlafzimmer betritt, sitzt da eine Gestalt auf dem Bett, ein Mann: Faris. Er scheint unverändert, trägt dieselbe Kleidung wie bei ihrer letzten Begegnung in Syrien, die mittlerweile alt und abgetragen ist. Er wirkt unendlich müde. Er schaut sie aus traurigen, aber auch enttäuschten Augen an. Etwas wie ein Vorwurf ist in seinem Blick. Sie erschrickt, fühlt sich ertappt, weiß aber nicht, bei was, überlegt panisch, was sie falsch gemacht hat. Er sagt nichts, blickt sie nur stumm an. In diesem Moment fährt Aliya immer aus dem Schlaf. Nach einer solchen Nacht falle es ihr schwer, überhaupt aufzustehen, es fühle sich an, »als würde die Sonne nicht aufgehen«.
»Was will Faris mir sagen?«, fragt Aliya.
»In dem Traum fühlen Sie sich sehr schuldig«, sage ich.
»Aber warum? Ich gebe mein Bestes, versuche, alles für die Familie zu tun. Ich weiß, dass Faris das genauso wollen würde. Alles für die Familie«, sagt sie.
»Vielleicht ist das in Ihrem Traum gar nicht Faris, sondern die Stimme Ihres Gewissens. Und diese sagt immer wieder: Es ist nicht gut genug, es ist nicht gut genug, sosehr Sie sich auch Mühe geben.«
Aliya denkt nach. So habe sie das noch nicht betrachtet.
Ich sage: »Vielleicht, weil Sie sich in Ihrem Innern so schuldig fühlen. Schuldig, weil Sie weggegangen sind, die anderen zurückgelassen haben. Und auch Faris zurückgelassen haben, alleine in einem unbekannten Grab, ohne sich von ihm wirklich verabschiedet zu haben. Ihr Schuldgefühl sagt: Sie müssen es wiedergutmachen. Indem Sie alles geben, indem Sie sich und Ihre Kinder zu immer mehr Leistung antreiben.«
Zu meiner Überraschung greift Aliya diesen Gedanken auf, führt ihn, damit gewissermaßen ihr eigenes Traumbild deutend, fort: »… Damit Faris nicht enttäuscht ist.«
»Aber es ist so viel, was Sie sich aufgebürdet haben. Sie versuchen, den Alltag zu meistern, Ihren Kindern eine gute Zukunft zu bieten. Ihnen Mutter und Vater gleichzeitig zu sein«, sage ich.
Einen Moment habe ich das Gefühl, als würde Aliya seufzen, als würde ihr für einen Augenblick bewusst, welche große Last auf ihren Schultern liegt.
Sie sagt: »Wissen Sie, es ist nicht nur Faris. Da sind noch meine Eltern, die in Syrien geblieben sind. Ich würde sie ja hierherholen. Ich habe so viel versucht, sogar einen Anwalt habe ich genommen, obwohl wir kein Geld mehr haben. Aber die Behörden …« — Aliya winkt ab.
»Sie können nichts dafür. Aber Sie fühlen sich trotzdem schuldig, dass Sie Ihre Eltern zurücklassen mussten, nicht zu sich holen können, dahin, wo es sicher ist und wo Sie zusammen sind.«
»Ich weiß nicht, ob sie mittlerweile noch nach Deutschland kommen wollen. Es war so ein langes Hin und Her. In dem Landesteil, in dem sie leben, wird nicht mehr gekämpft. Mein Vater ist nicht mehr gut auf den Beinen, er sagt immer, ich solle es bleiben lassen, sie kämen schon zurecht, ihnen gehe es gut bei meiner Schwester. Aber ich kann nicht einfach hier leben, ohne meine Familie zu holen.«
»Weil Sie dann das Gefühl haben: Ihnen geht es hier gut, Sie sind in Sicherheit, aber was ist mit den anderen?«
Ich denke, eigentlich darf es Aliya auch gar nicht gut gehen. Denn das würde auf einer psychischen Ebene bedeuten, dass sie die anderen Menschen endgültig im Stich lässt. Vielleicht, so denke ich, nicht nur die eigene Familie, sondern überhaupt die Menschen, die sich nicht retten konnten, die kein Ticket nach Europa ergattert haben, die in Syrien unter den Trümmern zerstörter Städte begraben liegen oder auf dem Meer gekentert sind, über das Aliyas Flugzeug hinweggeflogen ist. Muss nicht jeden Menschen, der einem solchen Inferno entkommen ist, diese Last drücken, als wäre das eigene Schicksal auf eine unsichtbare Weise mit dem Schicksal aller Nachbarn verbunden, die weniger Glück hatten?
Doch sie hat Faris verloren. Manchmal spricht sie über seinen Verlust wie über ein Opfer, das die Familie bringen musste, als müsse sie innerlich eine Gleichung der Schuld auflösen: »Sieh, auch mir ist ein Unglück geschehen.« Und sie hievt die Säcke von Leistungsanspruch auf diese Waage, schont sich nicht und auch nicht ihre Kinder, gewährt sich kein Erbarmen, wird sich selbst zu einer harten Stimme, die unerbittlich antreibt, als könnte dadurch endlich die Schuld getilgt werden. Beinahe hätte ich gesagt: die Schuld, dass sie noch lebt, dass sie keine Angst mehr haben muss vor dem Krieg — aber Faris nicht mehr lebt und die anderen weiter Angst haben müssen. In der Psychoanalyse nennt man diesen Schuldkomplex Überlebensschuld. Der Faris ihres Traumes ist wie ein Wiedergänger all jener, die sie hinter sich gelassen hat und die sie an diese Schuld erinnern.
Aliyas Gefühle tragen nach meiner Einschätzung aber auch die Spuren einer unerlösten Trauer. Sich schuldig zu fühlen, ist das nicht auch eine Weise für sie, Faris innerlich am Leben zu halten, ihn nicht gehen zu lassen? Faris bleibt an ihrer Seite, als unsichtbarer Geist, der ihr jeden Morgen auf der Schulter sitzt, als ein dauerhafter Wegbegleiter zwar, aber in Gestalt eines Dämons des schlechten Gewissens. Faris, in der Kleidung des Abschiedstages, mit jener rätselhaften Miene des Vorwurfs: So sitzt er auch noch auf Aliyas Bett in Deutschland, so hat sie ihn mit sich genommen, in ihrer inneren Welt, von der ihr Traum Auskunft gibt.
Jeder Trauerprozess verlangt das, was man in der Psychoanalyse den »zweiten Tod« nennt. Nach dem realen Verlust muss der verlorene Angehörige auch psychisch losgelassen werden. Ein Vorgang, für den die Gesellschaft einen Ritus vorsieht, die Beerdigung, an der Aliya bezeichnenderweise nicht teilnehmen konnte. Doch Trauerprozesse haben ihre Eigenzeit, kommen manchmal auch nie ganz zu einem Ende. Ein Teil der eigenen Psyche bleibt bei der verlorenen Person, findet nicht den Weg zurück ins Leben. Weiterleben, sich am eigenen Leben erfreuen, das fühlt sich dann an wie ein aggressiver Akt gegen den Verstorbenen: »Wenn es mir gut geht, dann habe ich dich ganz verlassen.«
Über diese Zusammenhänge zu sprechen ist für Aliya, als würden wir gemeinsam die Bürde ihres emotionalen Lebens anheben — als wäre all dies ein Geheimnis gewesen, das sie mit sich getragen hat, und allein es zu benennen wirkt schon wie eine Linderung.
Aliya stimmt mir in einer Sitzung vehement zu, als ich sage: »Sie fühlen sich schuldig allein dadurch, dass Sie leben, eine Zukunft haben möchten. Aber vielleicht würde Faris nicht wollen, dass Sie sich dafür schlecht fühlen.«
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Was würde er sagen, wenn er sähe, wie Sie hier in Deutschland leben?«
»Ich hoffe, dass er stolz wäre. Vielleicht würde er auch sagen: ›Hayati, du machst dir zu viele Gedanken, immer nur Sorgen in deinem Kopf! Ich wünsche mir, dass du wieder lachst!‹«
Aliya erzählt, dass sie nicht ein einziges Mal wirklich gelacht habe, seit sie in Deutschland ist. Dabei habe sie früher viel gelacht, sei eigentlich ein geselliger Mensch gewesen. Aber das sei weg. Tatsächlich kann ich mir Aliya gar nicht so vorstellen, lachend, gelöst, als wäre jener bittere Ernst, mit dem sie mir begegnet, geradewegs ein Teil ihres Wesens.
»Vielleicht will Ihnen Faris das sagen in Ihrem Traum: ›Du musst mich loslassen. Sonst kannst Du nicht frei werden‹«, sage ich.
»Ich versuche ja, loszulassen! Nicht mehr an früher zu denken!«, sagt Aliya.
Doch vielleicht ist das Verwickelte an einem Trauerprozess, dass man das Verlorene nicht einfach hinter sich lassen, sich ohne Adieu von ihm abwenden kann. Man muss sich noch einmal umdrehen, um fortgehen zu können. Wie Orpheus, in jener berühmten Geschichte aus der griechischen Mythologie, der sich, beim Versuch, seine geliebte Eurydike aus dem Totenreich zu befreien, nach ihr umwendet — und sie gerade dadurch endgültig verlieren muss. Der Psychoanalytiker Eberhard Haas hat diese Psychologie des Trauerprozesses auf berührende Weise beschrieben: Orpheus’ vermeintlicher Fehltritt ist die eigentliche Pointe seiner Trauer. Sich umzudrehen, das bedeutet, den Verstorbenen als Teil einer unwiederbringlichen Vergangenheit anzuerkennen, etwas, das »hinter mir« liegt: eine Erinnerung. Ich glaube, diesen Prozess hat Aliya noch nicht vollzogen, gerade weil sie bislang die Zähne zusammenbeißen musste, ihr nichts blieb, als nach vorne zu blicken. Doch mir scheint, Shadis Pfützensprünge rühren auch etwas in Aliya an. Mit meiner Hilfe gelingt es ihr, Shadis Trauer nicht nur mit Härte zu begegnen, sondern als einen Anlass zu nehmen, mit ihrer eigenen Gefühlswelt in Kontakt zu kommen. So etwa erlaubt sie Shadi, wenn er nachts an ihr Bett kommt, wieder bei ihr zu schlafen. Sie merkt, dass Shadi dadurch nicht noch anhänglicher wird, sondern im Gegenteil Sicherheit gewinnt, beim Zu-Bett-Bringen weniger quengelt, die Nächte danach auch deutlich ruhiger schläft. Sie beginnt, die gemeinsame Kuschelzeit in der Nacht sogar ein Stück weit zu genießen, nicht mehr nur mürrisch und widerwillig zu gewähren, und ist fast ein wenig wehmütig, als Shadi sie immer seltener, bald fast gar nicht mehr nachts aufsucht. Überhaupt lassen viele von Shadis Symptomen in dieser Zeit deutlich nach, was nicht nur ihn spürbar entlastet, sondern auch Aliya.
Einmal, es ist das Ende unseres zweiten Therapiejahres, erzählt mir Aliya, dass sie ein Buch gekauft hat. Ein Kinderbuch, aber ein besonderes. Faris’ Todestag steht bevor. Zum ersten Mal nennt Aliya auch das Datum. Ein Tag im Dezember. Sie habe überlegt, was sie an diesem Tag machen soll. Ihr erster Impuls war, es zu ignorieren, mit niemandem darüber zu sprechen. Doch dann sei ihr der Gedanke gekommen, dass ihre Kinder sich ja vielleicht etwas anderes wünschen.
»Ich hatte irgendwie so ein Gefühl: Du musst mit ihnen darüber sprechen. Aber ich habe nicht gewusst, wie.«
Eine Kollegin, mit der sie ab und zu über ihre Sorgen und Erlebnisse spreche, habe ihr ein Buch empfohlen: Kommst du wieder, Papa? Es handelt sich um ein Trauerbuch für Kinder, in dem davon erzählt wird, wie ein Kind um seinen verstorbenen Vater trauert und trotzdem irgendwann auch wieder lachen kann. Aliya habe das Buch bestellt, nachdem sie es eine ganze Weile nur auf ihrer Wunschliste hatte stehen lassen.
Das Buch kommt rechtzeitig zum Todestag an. Aliya ringt mit sich, ob sie es wirklich mit den Kindern lesen soll. Sie hat das Buch auch mit in die Stunde gebracht, kann es aber nicht aus ihrer Tasche holen, aus Angst, sofort von ihren Tränen und Gefühlen überwältigt zu werden. Wir spielen in der Stunde in Gedanken durch, was passieren könnte bei der gemeinsamen Lektüre: Es können allenfalls Tränen fließen, aber kein Blut. Ich schlage ihr vor, ihre Kinder einfach zu fragen, ob sie es lesen möchten.
Tatsächlich fasst sich Aliya ein Herz — und liest schließlich mit ihren Kindern an Faris’ Todestag in dem Buch. Während Aliya vorliest, kommen erst Samira, dann Aliya die Tränen. Anisa und Shadi hingegen, erzählt Aliya, folgten dem Buch beinahe neugierig, aber auch nachdenklich.
Als Aliya mir in der darauffolgenden Sitzung davon erzählt, wirkt sie erleichtert. Sie hat ein großes Wagnis auf sich genommen — und überstanden.
»Ich konnte nicht weiterlesen, ich musste …«, Aliya sucht das Wort, sagt: »… schluchzen wie ein Baby. Das wollte ich nicht vor meinen Kindern, ich wollte ja stark sein. Aber es ging nicht. Es ging einfach mit mir durch. Zum Glück war Samira da, die hat auch geweint, aber ihr war es nicht so peinlich. Mir schon. Ich habe mein Gesicht in den Händen vergraben, damit Shadi und Anisa mich nicht sehen. Wissen Sie, was Shadi da gesagt hat?« — Aliya muss fast lachen, als sie das sagt: »Er hat mich angeschaut, irgendwie — erstaunt: ›Mama, das macht nichts. Du weinst doch bloß!‹«
Zum Herbst dieses Jahres hatte Aliya Shadi in der Grundschule angemeldet. Er ist weiterhin in Gruppen scheu und zurückhaltend, aber er spricht, macht nach einer kleinen Aufwärmphase auch »Quatsch« mit den Schulkameraden. Er meistert den Übergang in die Schule, erweist sich dort als kluges und aufmerksames Kind. Shadi benötigt noch eine ganze Weile die Unterstützung der Therapie. Ich begleite die Familie, bis Shadi die dritte Klasse erreicht hat, sehe die beiden auch danach noch gelegentlich.
Eine Psychotherapie ist oftmals auch eine Detailarbeit, in der es um einen emotionalen Lernprozess geht. Im Idealfall kann man am Ende das, was man in der Therapie erfahren hat, auf die Situationen des Alltags übertragen und auch in schwierigen Situationen so stabil bleiben, dass sich kein neuer Teufelskreis psychischer Symptomatik entwickelt. Shadi hat zunächst Schwierigkeiten, engere Freundschaften zu knüpfen, aber nach einer Zeit hat er doch einen »besten Freund«, mit dem er sich auch in der Freizeit trifft, außerdem spielt er Fußball in einem Verein. Allmählich spannt sich ein Netz von Bindungen, die Shadi tragen und ihm etwas von seiner Befangenheit nehmen.
Auch Aliya macht eine Entwicklung durch, wird zugänglicher und weniger harsch — auch wenn sie weiterhin leistungsorientiert bleibt, Dinge schnell mit dem Kopf zu lösen versucht, was ja vielleicht auch einfach ihrer Persönlichkeit entspricht. Zwischen ihr und Shadi ist sichtbar mehr Spielraum entstanden, beide können in einen wirklichen emotionalen Kontakt kommen. Auch wagt sich Shadi wieder öfter zu den Videotelefonaten mit seinen Großeltern dazu, als würde er sich jetzt trauen, diesem leibhaftigen Früher in die Augen zu sehen.
Die Familie führt an Faris’ Todestag und an seinem Geburtstag ein Trauerritual ein. An diesen Tagen wird der Tisch am Morgen für ihn mitgedeckt, und jeder aus der Familie »erzählt« Faris, wie es ihm geht, was er oder sie seither erlebt hat. Aliya spricht mit ihren Kindern über Faris, kann ihnen etwas über die gemeinsame Vergangenheit erzählen. Sie zeigt Fotos, auf denen die Kinder noch ganz klein sind, und schildert, wie sie einen üblichen Tag in Syrien verbracht haben, welche lustigen Angewohnheiten sie als Babys hatten. Immer wieder muss Aliya dabei schlucken, vor allem, wenn Faris abgebildet ist oder die Schule, an der sie Lehrerin war. Aber sie kann jetzt auch immer wieder lächeln bei einer Erinnerung an früher. Ich denke: Damit schenkt sie ihren Kindern auch etwas Wertvolles, einen Teil ihrer verlorenen Geschichte. Ich bin berührt, wenn mir Aliya davon erzählt. Vielleicht liegt darin das zutiefst Menschliche der Trauer: einen Menschen, den man verloren hat, nicht in ein bedeutungsloses Nichts fallen zu lassen, als wäre er nie gewesen; sondern sich an ihn zu erinnern, ihn mit Worten und Gesten gegenwärtig zu halten, ohne verleugnen zu müssen, dass er nicht mehr da ist.
Ich hoffe, dass es Aliya gelingt, ihrer eigenen Geschichte und ihrer eigenen Identität mehrt Wert zuzumessen, sich nicht nur auf ihre Leistungsfähigkeit zu stützen. Ein zarter Hinweis darauf ist ihr Umgang mit der arabischen Sprache. Hatte sie das Arabische bei unserem Kennenlernen noch beinahe vollständig aus ihrem alltäglichen Sprachgebrauch verbannt, gewissermaßen in das Gefrierfach der Seele geschoben, rutscht sie nun immer wieder ganz unwillkürlich in ihre Muttersprache. Das passiert ihr auch, wenn sie mit ihren Kindern spricht. Sie redet weiterhin vorwiegend Deutsch mit ihnen, lässt das Arabische nun aber viel öfter in ihren Familienalltag einfließen. Gelegentlich liest Aliya den beiden jüngeren Kindern auch einmal ein arabisches Kinderbuch vor, ist berührt, wenn die beiden sich in dieser Zeit ganz nah an sie herankuscheln und gebannt ihrer Stimme lauschen.
Einmal, als sie von der Arbeit nach Hause kommt, hört sie Shadi und Anisa in ihrem gemeinsamen Kinderzimmer spielen. Die beiden scheinen völlig gedankenverloren. Aliya hört ihre Kinder singen, und sie kennt das Lied — es ist ein arabisches Lied, ein Kinderlied. Für einen Moment gerät sie ins Taumeln, ihr ist, als müsse, wenn sie den Raum betritt, Faris dort sitzen und mit den Kindern singen. Als würde sie aus einem bösen Traum erwachen — und Faris ist noch da, Shadi noch ganz klein, eine normale Familie in Syrien wie vor dem Krieg. Eine Träne läuft Aliya über die Wange — dann fasst sie sich, streicht sich über das Gesicht und begrüßt ihre Kinder: »Hier ist die Mama! Ich bin zu Hause.«