Kapitel 1
Mit einem Lächeln auf den Lippen dachte Poppy Jenkins darüber nach, wie gut sich das Leben für sie anließ. Die meisten Leute würden sicherlich meinen, dass es nicht perfekt sei. Aber Poppy war nicht wie die meisten Leute. Ein Spaziergang am Fluss an einem sonnigen Morgen, der strahlend Gutes für das kommende Jahr verhieß, war für sie der Inbegriff von Vollkommenheit.
Versonnen betrachtete sie das sonnenglitzernde Wasser mit zusammengekniffenen Augen. Der River Rhiw wand sich durch fruchtbares Grün vorbei an geschwungen Kiesstränden und ergoss sich über Felsgestein in stille Seen, deren Anblick selbst die achtbarsten Menschen zu einem Bad im Freien verführen konnte. Überall brachen Frühlingsblumen aus den Hecken hervor. Wiesenkerbel und Butterblumen zogen die ersten Bienen an, und Poppy sog die frische Luft tief ein, als wolle sie so dem Duft ihres Paradieses besondere Anerkennung zollen.
Es war warm genug für ihr Sommerkleid, einen leichten Baumwollstoff mit weithin leuchtendem Muster aus grünen Blättern und gelben Zitronen. Der weiche Stoff umfloss sanft ihren Körper und verlieh ihr ein Gefühl genüsslicher Freiheit, das sie sonst nur mit Nacktheit verband. Sie wandte ihr Gesicht der Sonne zu und streckte ihre Hände aus, um die Wärme mit jedem Teil ihres Körpers zu empfangen. Sogar ihre Frisur saß an diesem Tag perfekt. Die dunklen Locken, die sich in einer steifen Meeresbrise üblicherweise zu einem Gewirr kräuselten, das jeden Pudel vor Neid erblassen lassen würde, hatten sich heute brav zu kastanienbraun glänzenden Wellen bändigen lassen.
Ein Stück voraus tanzte ihre kleine Schwester Pip so energiegeladen den Weg entlang, wie es nur Elfjährige können – um dann schmollend zusammenzusacken und zu behaupten, sie könnten keinen Finger mehr rühren. Pips buntkariertes Kleid und weiße Kniestrümpfe blitzten immer wieder durch die Hecke, und auf ihrem Rücken hüpfte ein Schulrucksack bei jedem ungelenken Sprung auf und ab.
»Nicht weiter als bis zur Brücke!«, rief Poppy ihrer Schwester hinterher, bevor sie sie an einer Kurve aus den Augen verlor. In der Ferne war jetzt das Dorf Wells zu sehen mit seinem Kern aus alten Fachwerk- und georgianischen Backsteinhäusern, umgeben von merkwürdig anmutenden viktorianischen Reihenhäusern und noch seltsameren Baustilen der Dreißigerjahre. Diese Zeit war wohl der Höhepunkt der Dorfentwicklung gewesen, denn neuere Häuser waren selten und Bauten aus dem 21. Jahrhundert gab es schlicht und ergreifend nicht.
Der Ort war typisch für diese Region von Wales - dies hier waren weder die Täler im Süden noch die Berge im Norden, sondern der mittlere Teil, der, über den kaum jemand etwas zu berichten hatte. Allzu viel gab es auch nicht zu erzählen. Meist wurde die Gegend einfach als »Mid-Wales« abgetan. Aber gerade das gefiel Poppy: ein ländliches Idyll, an dem die Zeit und die Touristen vorbeigegangen waren, wo sich Wales dicht an England drängte und leicht auszusprechende Ortsnamen wie Clun gleich neben Zungenbrechern wie Llansantffraed-Cwmdeuddwr anzutreffen waren.
Pip wartete gehorsam bei der kleinen Metallbrücke am Ufer. Sie warf Blumen in den Fluss und sah zu, wie sie unter der Brücke verschwanden. Als sie Poppy entdeckte, galoppierte sie sofort wieder los. Poppy hatte kaum den Mund zu einer weiteren Warnung geöffnet, da winkte Pip schon ab und rief: »Ich weiß, ich weiß, im Dorf auf dich warten!« Poppy musste lächeln und ließ sie laufen.
Nach kaum hundert Metern kamen die ersten Fachwerkhäuschen in Sicht. Neben dem Weg erschien Mrs Morgans Garten, umgeben von weiß getünchten Steinmauern. Zu dieser Jahreszeit eroberten rosarote Malvenblüten und königsblauer Rittersporn die Beete. Zwischen ihren leuchtenden Farben bewegte sich ein grauer Fleck eifrig auf und ab.
»Guten Morgen, Mrs Morgan!«, rief Poppy.
Der graue Haarschopf fuhr hoch und ließ ein überraschtes wettergegerbtes Gesicht erkennen. »Ah, cariad !« Mrs Morgan lächelte erfreut. »Es ist wirklich ein guter Morgen. Fast so schön wie dein Kleid.« Sie gestikulierte mit der Gartenschere in ihrer behandschuhten Hand. »Ich wollte beinahe schon sagen, so schön wie dein Lächeln – aber etwas Schöneres gibt es ja nicht.«
Poppy kicherte geschmeichelt, und ihre Wangen röteten sich.
Mrs Morgan war eine der Dorfbewohnerinnen, die Poppy schon immer als alte Frau betrachtet hatte. Seit ihrer Kindheit war Mrs Morgans Haar immer mit Lockenwicklern starr in Form gelegt gewesen, und es war schwer zu erkennen, ob es in den letzten dreißig Jahren überhaupt gewachsen war. Aber nun hatte sich das geändert. Mrs Morgan hatte aufgehört, sich die Haare zu färben, und ein natürliches Silbergrau hatte jede Strähne erfasst. Poppy wurde zu ihrer Verblüffung klar, dass Mrs Morgan um die Vierzig gewesen sein musste, als Poppy klein war – eine alarmierende Erkenntnis, da dieses Alter für sie selbst nun nur noch weniger als ein Jahrzehnt entfernt lag.
»Und wo geht es heute Morgen hin in dem schönen Kleid?«, fuhr Mrs Morgan fort.
»Ich bringe Pip zur Schule, und dann geht’s ins Café wie immer. Ich dachte nur, ich führe das Sommerkleid mal aus.«
»Na, wenn es hier im Dorf eine interessierte junge Dame gibt, dann wird sie ohne Zweifel heute ein Auge auf dich werfen.«
Poppy freute sich aufrichtig über das Kompliment und strahlte. Aber sie war sich bewusst, dass sie nicht nur heute die einzige Frau in Wells war, die auf diese Art und Weise an einer anderen Frau interessiert wäre.
»Und die kleine Pip – wie geht’s, bach ?« Mrs Morgan wandte sich an Pip, die auf dem Weg umherwirbelte und mit den Füßen scharrte.
»Sehr gut, danke«, erwiderte Pip und setzte stirnrunzelnd hinzu: »Aber ich bin nicht mehr klein.«
Mrs Morgan prustete belustigt. »Oh, dich nenne ich noch bach , wenn du einmal größer bist als ich. Und auch noch dann, wenn du verheiratet bist – falls ich so lange lebe. Aber wie geht’s in der Schule? Was ist dein Lieblingsfach?«
»Geschichten schreiben«, antwortete Pip etwas zugänglicher. »Und Kunst.«
»Ah, künstlerisch begabt! Genau wie deine Mam!«
Sofort verdüsterte sich Pips Miene wieder, und sie sah zu Poppy auf. »Kann ich mir jetzt was Süßes kaufen?«
»Aber Pip!«, wies Poppy sie zurecht.
»Schon gut, cariad . Lauft nur weiter.« Mrs Morgan wandte sich wieder ihrem Garten zu und winkte zum Abschied mit der Gartenschere.
Poppy lief ein Stück, um ihre Schwester einzuholen. »Das war sehr unhöflich von dir.«
Pip verdrehte die Augen. »Sie sagt immer dasselbe. Ich wette, das hat sie im letzten Frühjahr wörtlich genauso gesagt.«
»Sie will bloß freundlich sein. Das macht man so.«
Pip sah nicht überzeugt aus.
»Es ist nett.« Poppy musste lachen. »Und es gefällt den Menschen. «
»Du bist einfach zu allen zu lieb«, tadelte Pip sie.
»Das ist auch ein Glück, bei derart vorpubertären Mädchen um mich herum.«
»Ach, du lässt den Leuten immer alles durchgehen. Die reden nur immer darüber, was es zum Mittag gibt oder welche Farbe vor zehn Jahren mal die Gardinen hatten.«
Poppy beugte sich verschwörerisch zu Pip hinunter. »Ich verrate dir mal was: Gardinen sind ganz und gar faszinierend. Ich habe eine absolute Vorliebe dafür. Ich liebe Kurzwaren.«
Pip stieß ihr den Ellbogen in die Seite. »Du solltest es so machen wie Mum: So tun, als würdest du geistig gerade an einem Gemälde arbeiten, und dann einfach weggehen.«
»Ich befürchte, sie tut nicht nur so«, erwiderte Poppy milde. »Sie ist tatsächlich die meiste Zeit geistig ganz woanders.«
Sie bogen vom Uferweg ab und auf den Marktplatz ein, an dem die Hauptstraße begann. Pip hakte sich bei Poppy unter und verfiel in das freudige Auf und Ab eines Kindes in der Erwartung von Süßigkeiten.
Poppy musste beim Anblick ihres Dorfes lächeln. Wie jeder richtige walisische Ort hatte es eine Burg. Die graue Ruine bewachte den Marktplatz von einem abgelegenen Grashügel aus. Die Menschen machten gern Scherze darüber, was für ein kriegerisches Völkchen die Waliser im Mittelalter gewesen sein mussten. Aber es war doch verständlich, dass sie die ständigen Überfälle der Engländer irgendwann leid waren. Wäre so eine Invasion nur einmal geschehen, könnte man das englische Vorurteil gegen die reizbaren Waliser vielleicht noch nachvollziehen. Aber nach ein paar hundert Jahren solcher Invasionen wäre wohl auch das heiterste Volk ein wenig verärgert.
Die Burg lag im Norden und darunter war direkt der Marktplatz mit seinen Fachwerkhäuschen. Sich auf das Burggelände mit seinen hervorspringenden Brüstungen und geneigten Mauern zu begeben, sorgte meistens dafür, dass man leicht orientierungslos wurde. Es schien ständig in Bewegung zu sein, und es kam nicht selten vor, dass Besucher, die dort die Architektur bewundern wollten, ins Straucheln kamen wie auf hoher See.
Am Südende des Platzes führte eine steinerne Brücke über den Fluss, auf die genau ein Handkarren passte, dem Fußgänger in dreieckig gemauerten Buchten ausweichen mussten .
Hinter dem Fluss lag die Marienkirche Llanfair. Im Ort gab es so viele Dinge, die zu seinem früheren Namen beigetragen hatten, dass selbst der geübteste Waliser bei dem Versuch, diesen Namen auszusprechen, einen Zwerchfellbruch riskieren musste. Schließlich hatte jemand mit den armen Ortsschildschreibern und Touristen Mitleid gehabt und den Ortsnamen zu Wells abgekürzt. Ironischerweise war das Wissen um die Lage der historischen Quellen im Ort schon lange verloren gegangen. Und so waren die wells der einzige Bestandteil des Originalnamens, der gar nicht mehr existierte.
Der Dorfladen duckte sich in eine Ecke hinter der Burg. Er war eine Mischung aus Lebensmittelgeschäft, Zeitungskiosk und Apotheke und in zwei alten Häusern einer Fachwerkreihe untergebracht.
Davor parkte ein sportlicher schwarzer Jaguar. Der Wagen hätte überall Blicke auf sich gezogen. Hier, mitten im Nirgendwo, wo das übliche Transportmittel ein schlammbespritzter Geländewagen war, war er eine echte Attraktion.
Der wahre Blickfang für Poppy aber war die Rückseite der schlanken Erscheinung, die sich gerade ins Innere des Wagens beugte: lange Beine in engen Jeans, ein herzförmiger Po und ein dünnes T-Shirt, das den sonnengebräunten Rücken kaum verhüllte. Das Gesicht der Frau war hinter schulterlangen blonden Haaren verborgen, die ihre Wangen glatt umspielten. Die Frisur war teuer. Das erkannte sogar Poppy, die selbst am liebsten zum kostengünstigen Super Snip ging. Die Frau beugte sich weiter in den Fußraum hinunter, und das locker fallende T-Shirt erlaubte Poppy einen kurzen Blick auf ihren BH. Ebenfalls von allerfeinster Qualität – genau wie die verheißungsvolle Rundung, die er verhüllte. Zarte, volle Brüste.
Poppy schluckte und warf Pip einen nervösen Blick zu. Doch ihre Schwester hatte weder die Frau noch Poppys bewundernde Blicke bemerkt. Sie war voll auf ihre eigene süße Verlockung im Ladeninnern konzentriert. Poppy wandte den Kopf. Jetzt stand die Frau aufrecht neben ihrem Wagen. Ihr Gesicht war klar zu erkennen und ergänzte die elegante Figur perfekt. Es war eines der schönsten Gesichter, die Poppy je gesehen hatte, und sie hätte es überall wiedererkannt.
»Rosie«, flüsterte sie und spürte die Erinnerung wie eine eiserne Faust im Magen.
Selbst unter Schock sah die Frau schlicht umwerfend aus. Blitzblaue Augen funkelten unter hochgezogenen Brauen, deren elegante Bögen jede Emotion von Entzücken bis hin zu vernichtender Ablehnung ausdrücken konnten, wie Poppy nur allzu gut wusste. Die vollen Lippen hatten sich gern zu einem göttlichen Lächeln verdichtet, aber heute sahen sie nicht danach aus. Die ganze Miene war reifer, als Poppy sie in Erinnerung hatte. Damals hatte der Babyspeck der Pubertät noch die hohen Wangenknochen verborgen. Das schmale Gesicht der zweiunddreißigjährigen Rosalyn Thorn aber war atemberaubend.
Poppy stockte buchstäblich der Atem.