Kapitel 4
Die Erinnerung an Poppys erste Begegnung mit Rosalyn war so klar, wie das Wasser in den Bächen von Wales.
»Poppy!«, hatte ihre Mutter sie damals von der Ladentür gerufen. »Komm runter und lern Rosie kennen.«
Draußen hatte ein Mann gestanden, groß und attraktiv. Er hatte mit gleichmäßig weißen Zähnen gelächelt. Poppy hätte nicht sagen können, wie alt er war. Erwachsene sahen für sie alle gleich alt aus – entweder so alt wie ihre Eltern oder noch älter, wie ihre Großeltern Nain und Taid. Er trug ähnliche Schuhe wie ihr Vater, glänzend geputzte hellbraune Schnürschuhe mit winzigen Löchern vorn im Leder. Ihr gefielen diese Schuhe. Ihr Vater bewahrte sie für besondere Anlässe wie Hochzeiten, Beerdigungen oder für Weihnachten auf. Dieser Mann aber trug sie so selbstverständlich, als wären es Gummistiefel.
»Hallo Poppy«, sagte er.
Seine Stimme klang tief und bestimmt. Poppy kam sie beruhigend vor, so als wäre er es gewöhnt, dass man ihm mit Respekt begegnete. Das flößte Poppy Vertrauen ein.
»Ich heiße David. Das ist meine Tochter Rosalyn. Wir nennen sie Rosie.«
Schützend umfasste er mit beiden Händen die Schultern eines kleinen Mädchens, das allerdings nicht so aussah, als bräuchte es viel Schutz.
Rosie strahlte die gleiche nonchalante Selbstsicherheit wie ihr Vater aus. Ihr weißblondes Haar war zu zwei perfekten Zöpfen geflochten, und ihre Stirn schmückte ein beneidenswert gerader Pony. Klare blaue Augen schauten unter außerordentlichen Brauen hervor, die dem Mädchen Reife und Autorität verliehen. Sie trug ein Kleid aus rosa und lila Karostoff, das Poppy bekannt vorkam. Es hatte in einem Schaufenster gehangen, an dem Poppy mit ihrer Mutter manchmal vorbeikam. »Tut mir leid, mein Schatz. Hier ist es zu teuer für uns«, hatte sie gehört.
Die Beine des Mädchens waren ungewöhnlich braungebrannt, was durch ihre reinweißen Strümpfe und glänzenden Lackschuhe umso mehr auffiel. Poppys eigene Beine unter dem selbstgenähten Kleid waren frühjahrsbleich; ihre knochigen Knie krönten Schienbeine voller grau verschorfter Schürfwunden.
»Rosie kommt morgen auf deine Schule, Poppy«, sagte David. Er ging neben ihr in die Knie. »Ich hoffe, ihr werdet Freundinnen.« Er lächelte, und Poppy hoffte, ihm mit ihrer Freundschaft gefallen zu können. »Wir können Rosie nicht gleich nach der Schule abholen, also nimmt deine Mutter sie nachmittags mit hierher in euren Laden. Ich denke, ihr werdet viel Spaß zusammen haben.« Er erhob sich wieder. »Sag hallo, Rosie!«
Ohne zu zögern, trat das Mädchen vor und lächelte. Ihr waren schon richtige Schneidezähne gewachsen, anders als bei Poppy mit ihrer klaffenden Zahnlücke.
»Deine Haare sind schön«, sagte Rosie. Mit den Fingern fuhr sie durch Poppys Locken und zog eine davon hervor.
Die Berührung kitzelte.
»Ich wünschte, ich hätte auch Locken!«
Poppy hätte gern blondes Haar gehabt. Ihres war immer schon dunkel gewesen.
»Mum sagt, meine Haare werden immer glatt sein wie trockene Spaghetti«, erklärte Rosalyn. »Aber Oma meint, wenn ich die Brotrinde mitesse, kriege ich Locken. Isst du die Brotrinde mit?«
Poppy rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf.
»Ich glaube das auch nicht«, sagte Rosie. »Mein Dad sagt, sie redet ganz schön viel Unsinn.«
»Aber Rosie! Tut mir sehr leid, Mrs Jenkins.« David sprang beruhigend ein, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre, so amüsiert wie Emma dreinschaute.
Rosalyn blieb ungerührt. »Gehen wir spielen!«, entschied sie.
Poppy grinste. »Nach oben!«, rief sie und stiefelte los zur alten Holztreppe, die sich zur ersten Etage hinaufwand.
Dort war ihr Lieblingsort, der Lagerraum. Zartes Sonnenlicht drang durch die staubigen Fenster. Große Papiersäcke voller Mehl und Haferflocken lagen hoch gestapelt neben Kisten voller Tomatendosen und Saftflaschen. Poppy nahm Rosalyn an der Hand und führte sie zum Fenster. Mit einem beherzten Sprung saß sie auf der Fensterbank, und ihre neue Freundin tat es ihr mühelos nach.
Rosalyn ließ die Beine baumeln und stieß mit den Füßen an die Wand. »Was ist dahinter? «
»Eine alte Küche«, antwortete Poppy. »Mum sagt, der Mann, dem der Laden früher gehörte, hat hier auch gewohnt.«
»Und da oben?« Rosalyn deutete auf eine eiserne Wendeltreppe.
»Nur ein leeres Zimmer. Mum lässt mich da nicht spielen. Sie sagt, der Boden hält nicht mehr.«
»Ein bisschen so wie Rhiw Hall«, meinte Rosalyn. »Die Hälfte der Zimmer oben sind leer. Es gibt sechs Schlafzimmer. Mum und Dad sagen, ich kann das zweitgrößte haben. Aber das liegt ganz am Ende vom Flur, das ist unheimlich.«
Mehrere Zimmer übrig zu haben klang vornehm. Poppys Vater hatte ihr versprochen, dass sie eines Tages auch ein eigenes Zimmer haben würde, wenn er mit dem Umbau fertig wäre. Bis dahin schlief sie noch in einem Kinderbett im Elternschlafzimmer.
»Was ist das?« Rosalyn zeigte auf einen Werkzeugkasten aus Metall.
»Der gehört meinem Dad. Er ist Tischler. Im Moment arbeitet er für meine Mum.« Aus dem Werkzeugkasten ragten bedrohliche Meißel, Ahlen und Sägen mit grässlichen Zähnen. Poppy wollte es Rosalyn ganz genau erklären: »Er zerschneidet Holz und baut daraus Sachen.«
Rosalyn sah sie an. »Mein Vater ist Chirurg. Er zerschneidet Menschen.«
»Oh.« Poppy war überrascht. Das schien so gar nicht zu der beruhigenden Erscheinung von David Thorn zu passen. »Warum?«
»Um sie gesund zu machen«, antwortete Rosalyn. »Er schneidet nur die Teile heraus, die kaputt sind.«
Poppy gefiel die Vorstellung nicht, dass sie beschädigte Teile von sich verlieren könnte. Es ging doch ständig etwas kaputt. Der Toaster röstete nur noch von einer Seite. Und seit der Schalter vom Wasserkocher abgefallen war, musste ihre Mutter immer ein Messer hineinstecken, wenn sie heißes Wasser brauchte.
Rosalyn aber blieb ungerührt. »Dad hat einem Mann die Zehen abgeschnitten, weil sie vergammelt waren.«
Poppy stellte sich Zehen vor, die braun wurden wie ein alter Apfel. »Tat das weh? Musste er weinen?«
»Dad sagt, er macht das, wenn die Leute schlafen.«
In dem Moment wurde bei Poppy der Grundstein einer Lebensangst vor nächtlichen Operationen und dem Aufwachen ohne Gliedmaßen gelegt .
»Magst du ›Operation‹?« Rosalyn beugte sich zu ihrer Schultasche herunter und zog eine nagelneue gelbe Schachtel heraus. »Zu Hause spielt keiner mit mir. Hast du noch Geschwister?«
Poppy schüttelte den Kopf und betrachtete das Spiel mit Neid. Sie hatte die Fernsehwerbung dafür gesehen.
Rosalyn klappte das Spielbrett mit dem rundlichen rosa Patienten auf, der erschrocken dreinschaute. Sie fügte die kleinen weißen Plastikknochen nacheinander in die vorgesehenen Lücken ein. »So, fertig.« Sie betrachtete stirnrunzelnd ihr Werk. »Der sieht albern aus.«
»Wieso?« Poppy selbst hatte nichts auszusetzen.
»Er hat keinen Pimmel.«
Poppy kicherte. »Vielleicht soll das ein Mädchen sein.«
»Dann hat sie keinen Busen … Ich weiß, was wir machen.« Rosalyns Augen funkelten unternehmungslustig. Sie griff in ihre Schultasche und holte einen Kugelschreiber hervor.
»Du darfst da nicht drauf malen!« Poppy war entsetzt, dass Rosalyn ihr neues Spielzeug verunstalten wollte.
Rosalyn aber reckte entschlossen das Kinn vor und ergänzte einen großen Penis bis zu den Knien des Patienten. Trotzig verschränkte sie die Arme, als wollte sie Poppy herausfordern, sie zu verpetzen.
Poppy dachte einen Moment nach und sagte dann: »Du hast die Hoden vergessen.«
Rosalyn grinste und zeichnete das Gewünschte ein.
»Du bist okay und deine Mum auch«, erklärte sie ihrer neuen Kameradin zufrieden. »Hier wird es mir bestimmt gefallen.«
> ~ ~ ~ <
Poppy betrat ihr Café. Statt der gestapelten Säcke standen in dem Raum jetzt acht Tische und etliche Stühle mit geschwungener Rückenlehne. Durch die blitzblanken Fensterscheiben schien die Sonne herein. Derek, ein Student vom Tech College, stampfte in der modern ausgestatteten Küche umher. Poppys Vater hatte das Obergeschoss renoviert, in dem nun zehn weitere Tische Platz fanden.
Wie meist zu dieser Tageszeit war ihr einziger Gast der alte Geraint Jones. Er beugte sich hinten in der Ecke über seinen Kaffee und eine gebutterte Scheibe Bara Brith . Mit gesenktem Kopf kritzelte er etwas in ein schwarzes Notizbuch. Sein graues Haar stand wirr vom Kopf ab.
»Bore da , Geraint«, begrüßte ihn Poppy.
Er nickte knapp und wandte sich wieder seinen Notizen zu, deren Inhalt allen ein Rätsel war.
Poppy stemmte die Arme in die Hüften, atmete tief ein und schloss die Augen. In Gedanken sah sie sich und Rosalyn im Schneidersitz zwischen den Säcken, Gläsern und Flaschen auf dem Boden hocken. Seit Jahren schon hatte sie sich nicht einmal mehr die Erinnerung an Rosalyn in diesen Mauern gestattet. Jetzt aber spürte sie ihre Gegenwart so deutlich, dass sie sich auf der Stelle hätte hinknien und »Operation« spielen können.
Was machte Rosalyn bloß in Wells? Warum war sie gerade jetzt zurückgekommen? Dai hatte ganz recht, sie war sehr lange nicht mehr dagewesen. Nain wüsste genau, wie lange nicht. Sie wusste alles, was sich hier abspielte.
Poppy fiel Rosalyns schockierter Gesichtsausdruck von vorhin wieder ein, und ihr Magen zog sich nervös zusammen. Ihr Zusammentreffen hätte nicht qualvoller ausfallen können. Dennoch, Rosalyn schien weicher geworden zu sein, oder nicht? Sie hatte sogar gefragt, ob Poppy für ein weiteres Gespräch Zeit hätte.
Sicherlich aus Höflichkeit. Reiner Höflichkeit. Gott, was für ein himmelweiter Unterschied zu früher, dachte Poppy. Was an Rosalyn als Kind schon hübsch gewesen war, wirkte in der erwachsenen Person noch schöner. Poppy wurde rot, als sie sich ins Gedächtnis rief, wie attraktiv sie Rosalyn gefunden hatte, bevor sie wusste, wer sie war. Ihre wohlgeformten Beine, der Schwung ihrer Hüften, der aufreizende Anblick ihres bloßen Rückens. Und erst ihre Brüste – Poppy errötete noch tiefer.
Sie schüttelte sich kurz, um sich von dem Gefühl peinlicher Scham zu befreien. Rosalyn war sicher bald wieder fort. Was hatte Dai noch gesagt? Eine oder zwei Wochen? Und danach würde es zweifelsfrei ein weiteres Jahrzehnt dauern, bis sie sie wieder zu Gesicht bekäme.
»Immer noch keine neuen Gäste?«
Automatisch sah sie zur Treppe und dann zur Küche, ob dort jemand gesprochen hatte. Da alles leer war, blieb nur ihr einsamer Stammgast. Poppy war nicht daran gewöhnt, dass Geraint mit ihr redete .
»Geraint?« Poppy strahlte ihn an. »Hast du gerade etwas gesagt?« Erfreut trat sie zu ihm an den Tisch.
»Immer noch nicht mehr los hier?«
»Nein, ich fürchte nicht.«
»Denen entgeht was Feines.« Er hielt seine Scheibe Kuchen hoch. »Das Beste Bara Brith , das ich je probieren durfte.«
Das klebrige Früchtebrot mit einer guten Portion schwarzem Tee war Nains besondere Spezialität.
»Die werden schon noch kommen. So etwas Gutes muss sich einfach durchsetzen.«
»Ich hoffe es, Geraint.« Poppy hätte den kleinen alten Mann dafür küssen können, dass er sie so aufmunterte – und auf andere Gedanken brachte. Mit frischer Energie marschierte sie in die Küche, um dort das Mittagessen vorzubereiten und weitere Kuchen zu backen für die belebtere Tageszeit, wenn die Schule aus war. Poppy kochte, servierte, schwatzte und lachte bis sechs Uhr abends. Sie schätzte, sie hatte dabei höchstens noch zehn weitere Male an Rosalyn Thorns schönes Gesicht gedacht. Allerdings war der Tag noch nicht vorbei.